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ARBEIT/591: Argentinien - Sklavenähnliche Arbeitsverhältnisse in geheimen Textilfabriken (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 2. Juni 2015

Argentinien:
Sklavenähnliche Arbeitsverhältnisse in geheimen Textilfabriken

von Fabiana Frayssinet


Bild: © Fabiana Frayssinet/IPS

Illegale Textilfabrik im Stadtteil Flores in Buenos Aires nach zwei Bränden
Bild: © Fabiana Frayssinet/IPS

BUENOS AIRES (IPS) - Der Tod zweier Kinder und der Freiheitsentzug und sexuelle Missbrauch einer Bolivianerin hat in Argentinien eine neuerliche Debatte über die sklavenähnlichen Arbeitsbedingungen in illegalen Textilfabriken entfacht. Regierung, Bekleidungsindustrie und Verbraucher weisen sich gegenseitig die Schuld zu.

Die sieben und zehn Jahre alten Brüder starben am 27. April bei einem Brand in einer der zahlreichen Textilwerkstätten in Flores, einem Viertel der Hauptstadt Buenos Aires, in der die Eltern der Jungen, Einwanderer aus Bolivien, gearbeitet und mit ihren Söhnen gewohnt hatten.

Wenige Tage zuvor war die 21-jährige Rosa Payro aus einer anderen Fabrik am Rande der Hauptstadt befreit worden. Fast drei Jahre lang war sie dort gefangen gehalten, vergewaltigt, verprügelt und gefoltert worden. Die Täter und Arbeitgeber waren weitläufige Verwandte.

Die beiden Fälle verdeutlichen nach Ansicht von Juan Vásquez, einem ehemaligen Fabrikarbeiter und Mitglied des Migrantenkollektivs 'Simbiosis Cultural', die Komplexität des Problems. Die Vereinigung bolivianischer Einwanderer will die Öffentlichkeit auf die furchtbaren Zustände in den illegalen Betrieben aufmerksam machen.

"Wenn die Leute über Sklavenarbeit reden, denken sie, es sei eine bolivianische Angelegenheit. Mit Konsumverhalten und Duldung durch die Zentral- und Lokalregierungen wird das Problem hingegen nicht in Verbindung gebracht", erläutert Vásquez.

Laut der Alameda-Stiftung gibt es allein in Buenos Aires und Umgebung etwa 3.000 solcher Ausbeuterbetriebe mit jeweils etwa zehn Mitarbeitern. Die meisten Beschäftigten stammen aus Bolivien, dem ärmsten Land Südamerikas. Andere kommen aus Peru oder aus argentinischen Provinzen.


"Der Chef kontrolliert alles"

"Sie arbeiten täglich mehr als 16 Stunden und leben sogar am Ort ihrer Ausbeutung", sagt Lucas Schaerer, der Sprecher der Stiftung zur Bekämpfung von Kinderarbeit und Menschenhandel. "Der Chef kontrolliert alles. Die Mahlzeiten - die Kosten dafür werden ihnen vom Lohn abgezogen - sind dürftig und ungesund und ein Grund, warum viele an Tuberkulose erkranken." Die Schlafsäle mit Etagenbetten erinnerten an Konzentrationslager und es komme vor, dass sich bis zu 60 Menschen ein einziges Bad teilen müssten.

Etwa 1,8 Millionen der insgesamt 41 Millionen Menschen, die in Argentinien leben, sind Ausländer. Die Einwanderungsgesetze garantieren allen Südamerikanern ein Recht auf Arbeit, Bildung und Gesundheitsversorgung. Viele halten sich illegal in dem Land auf. Laut Schätzungen unabhängiger Organisationen arbeiten 90 Prozent von ihnen im Agrarsektor oder in der Textilindustrie.

Wie Schaerer weiter berichtet, sind die Ausbeuterbetriebe die letzten Glieder der Kette der Textilindustrie. Dort werden 80 Prozent der in Argentinien gefertigten Kleidungsstücke hergestellt: für kleine Marken, namhafte Designer und all diejenigen, die Etikettenschwindel betreiben. Selbst Regierungsbehörden erteilten ihnen Aufträge, kritisiert der Stiftungssprecher. So hatte das Verteidigungsministerium 2006 bei einer internen Untersuchung festgestellt, dass sogar die Armee Bestellungen bei den illegalen Textilbetrieben aufgegeben hatte. "An diesen kriminellen und illegalen Zuständen sind viele Parteien beteiligt."

Der Experte macht die Zentralregierung dafür verantwortlich, dass ein geplantes Gesetz gegen den Menschenhandel mit Migranten nicht in Kraft getreten ist. Der Stadtverwaltung von Buenos Aires wirft er Versäumnisse bei der Durchführung von Inspektionen vor. Darüber hinaus hielten die Behörden ihre schützende Hand über in Verruf geratene Markenunternehmen.


Korruption bei der Polizei

Alfredo Ayala, Vorsitzender von ACIFEBOL, einer Hilfsorganisation für bolivianische Migranten, kritisiert, dass sich Polizisten von den Textilunternehmern bestechen ließen und die kriminellen Machenschaften deckten. Das sei auch den beiden bolivianischen Kindern zum Verhängnis geworden. Obwohl das Gebäude nach einem ersten Brand von der Polizei bewacht worden war, brach dort am 7. Mai ein weiteres Mal ein Feuer aus. Offenbar handelt es sich um einen Akt der Brandstiftung mit dem Ziel, Beweisunterlagen zu vernichten.

Der Bürgermeister von Buenos Aires, Mauricio Macri, führt das Problem mit den Ausbeuterbetrieben auf fehlende Arbeitsplätze und die illegale Einwanderung zurück. Oftmals verweigerten die Betriebe den städtischen Inspektoren den Zutritt.

Im Laufe von zehn Jahren wurden der Alameda-Stiftung etwa 5.000 sklavenähnliche Arbeitsverhältnisse und Fälle von Kinderarbeit, Misshandlung und sexuellem Missbrauch gemeldet. Obwohl 110 argentinische und internationale Markenhersteller bei juristischen Ermittlungen beschuldigt wurden, mit den illegalen Betrieben Geschäfte zu machen, wurde bisher nur ein einziges Unternehmen verurteilt.

Die Ausbeutung wird Vásquez zufolge durch die illegalen Einwanderer selbst aufrechterhalten, die in Argentinien weder über finanzielle Mittel noch über soziale Netzwerke verfügten. "Sie stellen hier nichts in Frage, weil sie denken, ihnen wird nach all den Schwierigkeiten, die sie in der Heimat hatten, endlich geholfen."

Vásquez kam mit neun Jahren mit seinem Bruder und seiner Mutter nach Argentinien. Um sich auf Jobsuche ins Ausland begeben zu können, hatte die Familie eine Hypothek auf ihr Haus in Bolivien aufgenommen. "Wir wussten, dass es kein Zurück gab. Meine letzte Erinnerung an Bolivien ist, dass ich dort Hunger litt. Meine Mutter versuchte immer verzweifelt Geld aufzutreiben."


Migranten werden selbst zu Ausbeutern

Unter großen Schwierigkeiten gelangten er, seine Mutter und sein Bruder über die Grenze nach Argentinien und erreichten die kleine Fabrik, wo sein Vater bereits arbeitete. Drei Monate lang lebte die Familie auf engstem Raum zusammen. In der Schule wurde Vásquez wegen seines Akzents und seiner dunklen Hautfarbe diskriminiert. Mit 16 begann er selbst in einem Ausbeuterbetrieb zu arbeiten.

Später eröffneten seine Eltern ihren eigenen Betrieb. "Meiner Mutter war gar nicht bewusst, dass sie nun selbst andere Menschen ausbeutete. Für sie war ein 16-stündiger Arbeitstag Normalität."

Die Alameda Stiftung schlägt vor, die von den Behörden beschlagnahmten oder von den Arbeitern selbst übernommenen Betriebe unter kollektive Verwaltung zu stellen. Außerdem setzt sie sich für die Einführung eines Siegels für Waren ein, die nicht unter sklavenähnlichen Bedingungen produziert werden. Das staatliche Institut für Industrietechnologie hat bereits versucht, solche Unbedenklichkeitszertifizierungen einzuführen. Doch lediglich ein großer Textilhersteller hat sich darauf eingelassen. (Ende/IPS/ck/02.06.2015)


Links:
http://www.ipsnews.net/2015/05/garment-sweatshops-in-argentina-an-open-secret/
http://www.ipsnoticias.net/2015/05/talleres-textiles-clandestinos-drama-argentino-de-muchos-retazos/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 2. Juni 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Juni 2015

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