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ARMUT/127: Kinder brauchen mehr! Für eine Kindergrundsicherung (spw)


spw - Ausgabe 2/2009 - Heft 170
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Kinder brauchen mehr!
Für eine Kindergrundsicherung

Von Barbara König


Die Armutsrisikoquote hat sich in Deutschland auf hohem Niveau verfestigt: Gut 18 Prozent aller Menschen in Deutschland sind von Armut bedroht. Gleichzeitig hat sich die Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland weiter geöffnet: Während die Einkommen des reichen Bevölkerungsteils weiter gewachsen sind, sinken bzw. stagnieren sie im unteren und mittleren Bereich. Von einem besonders hohen Armutsrisiko sind Langzeitarbeitslose, Alleinerziehende, Mehrkindfamilien und Familien mit Migrationshintergrund betroffen - und dies trifft insbesondere auch deren Kinder. Denn die Armutsrisikoquote von Kindern (26 Prozent) und Jugendlichen (28 Prozent) liegt deutlich über der Risikoquote der Gesamtbevölkerung (18 Prozent). Hinzu kommt, dass Kinder, die in materieller Armut aufwachsen, viele Einschränkungen hinnehmen müssen.


AWO weist erstmals Folgen von Kinderarmut nach - die Politik beeindruckt das wenig

Die Arbeiterwohlfahrt hat das Frankfurter Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS) mit der bisher einzigen Langzeituntersuchung zum Thema Kinderarmut in Deutschland beauftragt. Die drei bislang vorliegenden Teile der Studie erstrecken sich über den Zeitraum von 1997 bis 2005, für 2009 ist eine Fortsetzung geplant. Die Studie weist nach, dass arme Kinder Defizite in vier zentralen Lebensbereichen haben:

• materiell, das heißt bei der Versorgung mit Nahrung, Kleidung, etc.;
• kulturell, das heißt schlechtere kognitive, sprachliche und motorische Fähigkeiten;
• sozial, das heißt weniger Freunde und weniger soziale Kompetenzen;
• psychisch und physisch, das heißt, überproportionale Betroffenheit von Krankheiten wie Karies und Fettleibigkeit.

Die Folgen sind gravierend: Der Mangel an Einkommen, Ressourcen und Lebensperspektiven für Kinder entwickelt sich zu Bildungs- und Teilhabearmut.

Diese Erkenntnisse sind inzwischen mehr als 10 Jahre alt. Wie hat die Politik in Bund, Ländern und Kommunen darauf reagiert? Welche Maßnahmen, Programme und Projekte zur Bekämpfung von Kinderarmut wurden entwickelt? Und gibt es auch ein Umsteuern in der Sozial- oder Bildungspolitik?


Projekte und Projektchen gibt es vor allem im Bereich der Infrastrukturförderung inzwischen genug. Allein zum Thema Armut und Gesundheit weist eine Datenbank der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung rund 1700 Projekte auf. Es gibt rund 500 Mehrgenerationenhäuser, die vom Bund gefördert werden, die Länder fördern ihrerseits geschätzte 1.000 Familien- oder Eltern-Kind-Zentren. Mindestens 20 verschiedene Modellprojekte zur niedrigschwelligen Unterstützung von belasteten Familien mit und ohne Migrationshintergrund machen vor Ort gute Arbeit - sie sind aber wenig vernetzt und vor allem gelangen sie nicht in die Fläche. Fonds und Stiftungen gegen Kinderarmut werden gegründet, hier und da springt für die Kids eine Schulausstattung oder ein Ausflug in den Zoo heraus.

Und im Januar 2009 hat der Bundesverband Deutsche Tafel stolz die 800. Tafel in Ratingen eingeweiht. Er hofft allerdings, dass es die 900. Tafel nicht geben wird. Warum eigentlich nicht? Tragen all diese tausenden Projekte zur nachhaltigen Reduzierung oder sogar Abschaffung von Kinderarmut bei? Die Zahlen beweisen das genaue Gegenteil. Ist hier statt planvollem Vorgehen doch nur viel Aktionismus im Spiel? Nicht zu Ende, sondern längstens bis zur nächsten Legislaturperiode gedacht? Versehen mit kampagnentauglichen Slogans und Fotostrecken? Vieles ist wohlmeinend und vieles bekämpft die Symptome von Kinderarmut. Das ist notwendig, um die schlimmste Not armer Familien zu lindern. An die Wurzeln geht nichts. Dafür müssten folgende Strategien zur Strukturveränderung entwickelt und umgesetzt werden.


Für eine neue Bildungspolitik

Kostenfreie Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsangebote für alle Kinder von Geburt an ist zwingende Voraussetzung für mehr Chancengerechtigkeit im Bildungssystem. Die Kindertagesstätten sind weiterzuentwickeln zu niedrigschwelligen Zentren im Sozialraum (z.B. Eltern-Kind-Zentren).

Die Schule der Zukunft vermittelt mehr als Bildung. Sie bietet zugleich Betreuung und Erziehung an, öffnet sich im Stadtteil und hat ein pädagogisches Ganztagskonzept. Sie ermöglicht allen Kindern nach einer 10-jährigen gemeinsamen Lernzeit, einen Bildungsabschluss zu erwerben. Keine Schülerin und kein Schüler darf zukünftig mehr ohne einen berufsqualifizierenden Schulabschluss aus der Schule entlassen werden. Allein im Jahr 2006 verließen rund 76.000 Schülerinnen und Schüler die Schule ohne mindestens einen Hauptschulabschluss.

Kinder und deren Eltern brauchen einen Ausbau von Familienbildung, niedrigschwellige Beratungsangebote und Familien- sowie Jugendfreizeitangebote.


Für eine neue Familienförderung

Unser gegenwärtiges System monetärer Familienförderung besteht hauptsächlich aus vier Teilelementen:

SGB II: Kinder von Erwerbslosen bzw. Geringverdienern erhalten je nach ihrem Alter Sozialgeld in Höhe von 246 bzw. 281 Euro im Monat;
Kinderzuschlag: Eltern an der Schwelle zum SGB-II-Bezug erhalten für ihre Kinder einen "Kinderzuschlag" in Höhe von maximal 140 Euro im Monat;
Kindergeld: Kinder von Erwerbstätigen mit unterem und mittleren Einkommen erhalten monatlich zwischen 164 Euro (für das erste und zweite Kind) und 195 Euro (für das vierte und weitere Kinder);
Kinderfreibetrag: Kinder von Gut- und Spitzenverdiener(n)/-innen ab einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 70.000 Euro bekommen pro Kind maximal 240 Euro im Monat.


Derzeit beträgt die Aufwendung des Staates für reine Familienförderung rund 44,5 Mrd. Euro pro Jahr. Zusätzlich kommen 77 Mrd. Euro für ehebezogene Maßnahmen dazu. Es ist jedoch fraglich, ob das Geld dort ankommt, wo es am dringendsten benötigt wird: Also bei Familien ohne oder mit niedrigem Einkommen - unabhängig von ihrer Lebensform.

Die Kritik am gegenwärtigen System monetärer Familienförderung bezieht sich vor allem darauf, dann es kaum dazu beiträgt, Kinderarmut abzuschwächen oder gar zu beseitigen. Vielmehr verstärkt es Einkommensunterschiede, indem es Kinder je nach der Erwerbssituation ihrer Eltern unterschiedlich fördert.

Das neue Familienleistungsgesetz, welches zum 01.01.2009 in Kraft getreten ist, schafft hier ebenfalls keine Abhilfe. Zwar kam es zu einer Anhebung des Kindergeldes um 10 Euro und einer Erhöhung des Kinderfreibetrages aufgrund des angehobenen kindlichen soziokulturellen Existenzminimums auf 6.024 Euro im Jahr. Die Ungleichbehandlung ist aber geblieben: Kinder aus Haushalten im Hartz IV-Bezug profitieren von dieser Erhöhung nicht, da das Kindergeld mit dem Sozialgeld verrechnet wird. Die zusätzliche Leistung eines Schulbedarfpakets, welches ebenfalls im Familienleistungsgesetz verankert ist, schafft nur geringe Verbesserungen. Immerhin konnte auf Druck der SPD und der Sozialverbände verhindert werden, dass es die Förderung nur bis zum Abschluss der 10. Klasse gibt.

Wie kann nun die Intransparenz, Bürokratie und soziale Ungerechtigkeit des derzeitigen Systems monetärer Familienförderung aufgelöst werden? Es bedarf dafür nicht nur eines Strukturwandels sondern eines mutigen Systemwechsels in der Familienförderung hin zu einer Grundsicherung für alle Kinder.


Für einen Systemwechsel: Unser Modell einer Kindergrundsicherung

Um Kinderarmut nachhaltig zu überwinden, muss ein Systemwechsel in der Familienförderung vorgenommen werden. Ein Bündnis aus Sozialverbänden, Gewerkschaften und Wissenschaftler/-innen fordert daher, das Kindergeld zu einer armutsfesten Kindergrundsicherung auszubauen. Alle bisherigen Leistungen würden so in einer Leistung für alle Kinder aufgehen. Neben mehr Transparenz hätte dies auch den Vorteil, dass die bisherigen Widersprüche und Ungereimtheiten zwischen Familienförderung und Steuerpolitik beseitigt würden. Unser Vorschlag lautet, künftig alle Kinder mit einer Kindergrundsicherung in Höhe von rund 500 Euro monatlich abzusichern. Damit wird der grundlegende Bedarf, den Kinder für ihr Aufwachsen benötigen, aus öffentlichen Mitteln gedeckt. Dieser Betrag ist vom Bundesverfassungsgericht als steuerrechtliches Existenzminimum festgelegt worden. Unser Vorschlag will das sächliche Existenzminimum in Höhe von 322 Euro als unbürokratische Leistung für alle Kinder aus einer Hand zur Verfügung stellen. Darüber hinaus muss der Staat sicherstellen, dass allen Kindern sämtliche Leistungen für Bildung, Betreuung und Erziehung kostenfrei zur Verfügung stehen. Solange dies auf absehbare Zeit nicht gewährleistet ist, muss zusätzlich zum sächlichen Existenzminimum mindestens ein Betrag von 180 Euro bereitgestellt werden.


Die Kindergrundsicherung soll an alle Eltern bzw. Kinder ausgezahlt werden, unabhängig von ihrem Einkommen und soll zudem vorrangig vor anderen Sozialleistungen sein. Damit werden Kinder aus dem stigmatisierenden Bezug insbesondere von Hartz IV-Leistungen und der verdeckten Armut herausgeholt. Sie wird allerdings je nach Höhe ihres Einkommens der Besteuerung unterworfen. Damit wird sichergestellt, dass Eltern im SGB-II-Bezug und Eltern mit einem niedrigen Erwerbseinkommen die Leistung in vollem Umfang erhalten. Bezieher/ -innen von Spitzeneinkommen werden hingegen maximal in Höhe der Wirkung der bisherigen Freibeträge (d.h. aktuell maximal um 240 Euro monatlich) entlastet.

Nach unserer Vorstellung soll die Leistung bis zum 27. Lebensjahr gewährt werden, um den Abschluss einer (höheren) Ausbildung zu gewährleisten. Für Schülerinnen und Schüler, Studierende und Auszubildende bedeutet dies, dass die Kindergrundsicherung in die Ausbildungsförderung bzw. in die Erwachsenenbildungsförderung integriert und damit direkt an diese elternunabhängig ausgezahlt werden soll.


Das Konzept der Kindergrundsicherung wird anderen Modellen wie z.B. einem bedingungslosen Grundeinkommen vorgezogen, da diese Leistung zielgerichtet den Kindern zu Gute kommt. Darüber hinaus müssen alle erwerbsfähigen Menschen in die Lage versetzt werden, ihren Lebensunterhalt durch existenzsichernde Erwerbsarbeit selbst zu verdienen. Erwerbsarbeit bedeutet außerdem nicht nur Entlohnung, sondern auch Teilhabe an der Gesellschaft und Übernahme von Eigenverantwortung.


Für mehr Solidarität: Kosten und Gegenfinanzierung einer Kindergrundsicherung

Dieses Modell einer Kindergrundsicherung würde knapp das Dreifache der heutigen Kindergeldzahlungen kosten. Das bedeutet rund 100 Mrd. Euro pro Jahr brutto. Die realen Zusatzkosten werden durch den Systemwechsel auf etwa 10 Mrd. Euro begrenzt. Durch das Aufgehen der bisherigen Leistungen (Kindergeld, Kinderzuschlag, Sozialgeld, Unterhaltsvorschuss, BAFÖG, etc.) in Höhe von 44,5 Mrd. Euro in der Kindergrundsicherung fallen diese Kosten zukünftig weg. Daneben würden rund 30 Mrd. Euro an Kosten durch den Rückfluss aus der Besteuerung gedeckt. Schließlich würde unser Modell den Wegfall des Ehegattensplittings beinhalten, das in der Vergangenheit keine Kinder, sondern Ehen gefördert hat. Dies würde dem Staat rund 18 Mrd. Euro Mehreinnahmen bringen. Die Umwandlung des Ehegattensplittings in eine Individualsteuer garantiert zudem eine solidarische Mitfinanzierung der Kindergrundsicherung.

Zur Schließung der verbleibenden Finanzierungslücke von etwa 10 Milliarden Euro hat die Politik genügend Möglichkeiten. Aktuell sehen wir beim 50-Milliarden-schweren Konjunkturpaket II, dass die Politik einen Weg findet, wenn der gemeinsame Wille da ist. Drei Millionen arme Kinder haben diesen gemeinsamen Willen verdient!


Uns ist klar, dass der Wechsel vom System vieler intransparenter monetärer Einzelmaßnahmen hin zu einer transparenten Kindergrundsicherung politischen Mut über Parteigrenzen und Legislaturperioden hinweg braucht. Wenn alle politischen Kräfte in Deutschland die Priorität ihrer Entscheidungen auf ein gerechtes und gutes Aufwachsen von Kindern legen, kann ein solcher Systemwechsel aber gelingen!


Barbara König ist Geschäftsführerin des Zukunftsforums Familie und lebt und arbeitet in Berlin.


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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 2/2009, Heft 170, Seite 52-55
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Juni 2009