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ARMUT/129: Deutschland darf kein Kind fallen lassen (DJI)


DJI Bulletin Nr. 85 - 1/2009
Deutsches Jugendinstitut e.V.

Verarmte Kindheit
Deutschland darf kein Kind fallen lassen

Von Christian Alt


Politik und Medien haben in letzter Zeit vermehrt die Armut von Kindern aufgegriffen. Jedes sechste Kind und jeder vierte Heranwachsende sollen in Deutschland arm sein. Die Öffentlichkeit scheint für Themen wie Gerechtigkeit, Chancengleichheit und Armut mittlerweile sensibilisiert.
Sind Kinder in diesem Land wirklich »arm dran« - und wenn ja, in welcher Beziehung? Was heißt »arm«, was bedeutet »verarmte Kindheit«?
Armut ist eine Lebenslage mit vielfältigen Facetten. Dabei geht es vor allem um die Ausstattung von ökonomischen Mitteln, die ein gelingendes Leben in einer Gesellschaft voraussetzen. Fehlen diese Mittel, besteht die Gefahr von Armutslagen bzw. Armutssituationen, die sich insbesondere als Bildungsarmut, Beziehungsarmut, Reizarmut, Anregungsarmut zeigen.
Armut bedeutet Mangel sowie Entzug und Entbehrung von Zuwendungen verschiedener Art, sei es ökonomisch, kulturell oder sozial.
Im Vordergrund der Betrachtung von Armut steht jedoch immer der Mangel an ökonomischen Mitteln - denn ohne diesen zentralen Bezugspunkt verliert der Begriff »Armut« schnell seine Kontur und die Ursache wird dann als das angesehen, was sich erst in der individuellen Biografie als Folge einstellt.


Lässt sich Armut überhaupt messen und bestimmen? - Ergebnisse der Forschung

Kinder sind ökonomisch gesehen fürs Erste in den elterlichen Haushalt eingebunden und von der ökonomischen Lage der Eltern abhängig. Dadurch können sie leicht in Situationen der Armut rutschen und somit in eine soziale Isolation geraten. Es macht Sinn, bei der Frage nach dem Einfluss der Armut auf die Entwicklung der Kinder zunächst von der ökonomischen Lage des Haushalts auszugehen, um dann danach zu fragen, welche Auswirkungen die Bildungsarmut der Familie oder das fehlende Sozialkapital auf die Entwicklung des Kindes haben.

Die Ergebnisse von Studien zur Lebenslage von Familien bzw. Kindern zeigen deutlich auf, dass ungünstige bzw. mangelhafte wirtschaftliche Bedingungen insbesondere dann wirksam sind, wenn sie von den Eltern als bedrückend empfunden werden. Dies hat in aller Regel zur Folge, dass sich auch die Kinder und Jugendlichen als benachteiligt empfinden, was sich nicht zuletzt auf die Integration in Gleichaltrigen-Gruppen auswirken kann.

Die »Alltagssituation Armut«

- belastet die Familienbeziehungen,
- trägt zur Häufung von Konflikten in der Familie bei,
- zieht das Erziehungsverhalten in Mitleidenschaft
   (DJI-Kinderpanel: Alt 2008).

Die Lebensumstände von Kindern, die in armen Haushalten aufwachsen, unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht von denen der nicht armen Kinder:

Die materielle Grundausstattung armer Haushalte ist grundsätzlich schlechter.
Der gesundheitliche Zustand der Kinder ist bereits von früh an beeinträchtigt.
Bei Schuleintritt zeigt sich markant das Fehlen von bestimmten Voraussetzungen für den nun zu beginnenden formellen Bildungsweg.
Im Sozialverhalten sind Beeinträchtigungen bzw. Benachteiligungen gegenüber den anderen Kindern zu erkennen.
Die Benachteiligungen verstärken wiederum die soziale Isolation.
(Alt 2008; Beisenherz 2005; Walper 1999).


Genügt es, Armut nur zu definieren?

Die Debatte über die Definition von Armut in einem reichen Land wie der Bundesrepublik sowie die Messung von Armutsquoten mittels verschiedener Statistiken sind voll im Gang. Dabei stellt sich auch die Frage, ob wir es in Deutschland eher mit einer absoluten oder eher mit einer relativen Armut zu tun haben.

Insgesamt existieren ein reichhaltiger Fundus unterschiedlicher Armutsdaten bzw. Armutsraten und deren Verteilung. Das geringe Einkommen der Eltern bzw. der ökonomische Mangel der Familie erhöht das Risiko von Armut bzw. Verarmung. Armut kann dann vor allem an folgenden Befunden festgemacht werden:

Die Eltern sind eher gering in den Arbeitsmarkt bzw. Bereich der Erwerbstätigkeit integriert (Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit).
Arme Familien sind zum großen Teil Familien mit alleinerziehenden Eltern (Familienform).
Familien mit mehr als zwei Kindern stehen der Alltagssituation Armut näher als Familien mit einem Kind (Familiengröße).
Die ethnische Herkunft und damit verbundene Migrationserfahrungen können das Risiko von Armut erhöhen (Migration).
Jüngere Kinder und Jugendliche sind eher von Armut betroffen als ältere Jugendliche und junge Erwachsene (Alter).
Die Bildung der Eltern ist in der Regel niedrig (Bildungsabschluss, Bildungserwartungen).
Armut kann sich aufgrund mehrerer Risikofaktoren in bestimmten Familien kumulieren (Problemfamilien).
Stadtteile sowie Regionen können aufgrund struktureller Voraussetzungen Armut verstärken (Wohnlage, Wohnumfeld).
(Beisenherz 2009)

Das Aufwachsen in Armut hat Folgen für die Entwicklung von Kindern

Wie sich Kinder unter dem Einfluss von Armut entwickeln, gilt in der deutschen Forschungslandschaft als weitgehend noch nicht geklärt (Krappmann 2008). Bisher standen bei diesen Untersuchungen stets die Lebensumstände der Kinder im Vordergrund, nicht aber die Frage, wie sich die Kinder jeweils selbst entwickeln oder schon entwickelt haben.

Die Auswirkungen der Armut auf Kinder sind bislang nur unzureichend untersucht worden bzw. stützen sich auf geringe Fallzahlen aufgrund qualitativer Forschungsansätze. Es ist aber notwendig, die Abhängigkeit von Armutslagen zu erklären, um langfristige Folgen der (frühen) Erfahrung von Armut für die Entwicklung der Kinder beurteilen zu können.

In den Vereinigten Staaten wurde schon seit Längerem eine Vielzahl von Daten und Längsschnittuntersuchungen über die Langzeitfolgen der Erfahrung von Armut für Kinder ausgewertet, insbesondere mit Blick auf deren kognitive und soziale Entwicklung (Beisenherz 2009):

Anhand von Panel-Daten (repräsentativer Querschnitt der Bevölkerung) wird die Entwicklung armer und nicht armer Kinder verglichen. Dabei werden unterschiedliche Einflussfaktoren in ihrer verhältnismäßigen Bedeutung für Armut sowie deren Risiken festgehalten, wie häusliches Anregungsniveau, Zusammensetzung der Mitglieder des Haushalts, Arrangements der Betreuung, Nachbarschaft und Wohnumfeld.
Anhand von Daten zur Schulreife/Schulbefähigung (»school readiness«) werden die kognitiven sowie sozialen Kompetenzen erfasst und deren Bedeutung für die schulische Entwicklung festgehalten, insbesondere mit Blick auf die Frage, inwieweit Armut in der frühen Kindheit bereits mangelhafte Voraussetzungen für die Kinder geschaffen hat.

Das Festhalten von Armutsfolgen allein genügt jedoch den US-amerikanischen Forschern nicht. Die Ausweitung von Evaluationsstudien zu Wohlfahrtsprogrammen für arme Familien und/oder Kinder ermöglichte vielfache Anregungen, die in politische, gesellschaftliche und sozialpädagogische Praxis umgesetzt werden können (Beisenherz 2009).


Was brauchen Kinder für ein gelingendes Aufwachsen?

Kinder brauchen, um sich physisch und psychisch, kognitiv und sozial gut entwickeln zu können, nach Meier-Gräwe (2009) grundsätzlich

ein zufriedenes und ausgeglichenes Herkunftsmilieu,
materielle Sicherheit, die existenzielle Vorrausetzungen bereitstellt,
die Vermittlung des Gefühls von Zuversicht und Zukunftsperspektiven vonseiten der Erwachsenen.

Solche Bedingungen fehlen jedoch oftmals in Elternhäusern, die insbesondere von Folgendem gekennzeichnet sind (Meier-Gräwe 2009):

Geldmangel bzw. Fehlen entsprechender finanzieller Mittel,
Ausgrenzung aus dem Erwerbsleben,
persönlich erlittene Niederlagen bei der Jobsuche,
Vorhandensein von defizitären Bildungsabschlüssen sowie geringen Bildungserwartungen.

Diese mangelhaften Rahmenbedingungen bestimmen heute den Alltag einer größer werdenden Zahl von Kindern bzw. Familien in Deutschland. Zugleich verstärkt sich die Tendenz einer Polarisierung der Lebenschancen von armen Kindern im Vergleich zu nicht armen Kindern, insbesondere zu Kindern aus akademischen Herkunftsmilieus. Lebenswirklichkeit und Lebenswelten dieser unterschiedlichen Familien schotten sich zudem sozialräumlich immer mehr voneinander ab.


Es geht nicht darum, Hunger zu vermeiden - der Kampf gegen Kinderarmut

Die Armut von Heranwachsenden zu bekämpfen, ist für Deutschland als ein wohlhabendes Land eine ökonomische Notwendigkeit, und nicht nur eine Frage des Mitgefühls (Meyer-Timpe 2008). Kinder aus armen Familien geht es insgesamt nicht gut, denn ökonomische Armut bzw. Mangel an finanziellen Mitteln bewirkt konzentrische Kreise der sozialen Isolation. Schlechte Rahmenbedingungen in der Familie bedingen

das Fehlen von Freunden,
den Mangel an Möglichkeiten von Erfahrungen, die sich auf das formelle sowie informelle Lernen beziehen,
das Versagen in der Schule sowie die damit verbundene Ausgrenzung in der Klassengemeinschaft sowie das Ausbleiben einer entsprechenden Förderung,
die Diskriminierung im gesellschaftlichen Umfeld,
das Ausbleiben von Aufstiegschancen
(Alt 2008; Meyer-Timpe 2008).

Was kann das Aufwachsen von Kindern in Armut wirksam unterstützen?

Eine effektive Politik der Prävention von Armut und damit die Minderung einer Unterversorgung verlangen von Politik und Gesellschaft nach Meier-Gräwe (2009) folgende Voraussetzungen:

Gewährleistung einer materiellen Grundversorgung von Anfang an;
Vorhandensein von vertrauensvollen Bezugspersonen im Alltag der Kinder, d. h. »kompetente Andere«, die jene Kinder umfassend und stetig ermutigen, fördern und fordern;
Beginn einer förderlichen Betreuung und Bildung, die bereits in der frühkindlichen Lebensphase einsetzt;
Eröffnung des Zugangs zu kulturellen und medialen Ressourcen.

Diese Voraussetzungen ermöglichen den Kindern die Chance, sich allseitig entwickeln zu können. Dabei darf aber die Stärkung und soziale Integration ihrer Eltern nicht außer Acht gelassen werden.

Für benachteiligte Kinder exzellente Alltags- und Lebensbedingungen zu schaffen, die ein gedeihliches Aufwachsen ermöglichen, ist eine vorrangig verantwortungsvolle Aufgabe für die sozialen Fachkräfte - das bedeutet: die Lebenswelt der Familie mit dem öffentlichen Sozialraum systemisch zu verkoppeln, und dies durch Unterstützung neuer Erziehungs- und Bildungspartnerschaften, angefangen von der Schwangerschaft über die Kindertagesstätte bis hin zur Schule. Diese Partnerschaften sind wertschätzend, helfend, aktivierend sowie selbstwirksam (Meier-Gräwe 2009).


Die Early Excellence Centres in Großbritannien - Beispiel und Vorbild

Die seit 1997 bestehenden Early Excellence Centres in Großbritannien stellen für Kinder und Eltern von Geburt an vielfältige Angebote der Elternbildung, der Beratung und Vernetzung niedrigschwellig zur Verfügung. Dieses Modell wird mittlerweile auch in Deutschland erprobt.

Bei dieser Hilfestellung wird im besonderen Maße Wert auf die Entwicklung der Fähigkeit zur Resilienz gelegt: Das lateinische Wort »resiliare« bedeutet zurückspringen, abprallen. Resilienz steht für Widerstandsfähigkeit und Widerstandskraft: Obgleich Kinder mit Unsicherheiten, Belastungen, Benachteiligungen und schwierigen Lebensbedingungen konfrontiert sind, entwickeln sie trotz erhöhter Entwicklungsrisiken erstaunliche Fähigkeiten, um kompetente, stabile und leistungsfähige Persönlichkeiten zu werden (Wustmann 2009). Resilienz entsteht insbesondere in emotional sicheren Begegnungen und Beziehungen, die gerade Kinder und deren Eltern aus armen und benachteiligten Familien gleichermaßen nötig haben (Meier-Gräwe 2009).


Kein Kind darf verloren gehen

Einrichtungen, die mit ihren Angeboten Familien unterstützen (wie Familienbildungsstätten, Familienzentren, Kindertagesstätten) können Kindern und Eltern in belastenden Lebenssituationen so etwas wie eine »strukturelle zweite Heimat« (Lanfranchi 2007) ermöglichen und erweisen sich zugleich als ein wichtiger Schutzfaktor, der sich auch volkswirtschaftlich rechnet, denn ein Land wie Deutschland kann es sich nicht leisten, nur ein Kind fallen zu lassen (Meier-Gräwe 2009; Meyer-Timpe 2008).

In Deutschland braucht es einen entschiedenen politischen Willen, um den Aufbau eines sozialen Kapitals, das Brücken zwischen benachteiligten und privilegierten Sozialräumen bildet, zu verstärken sowie zu beschleunigen. Ebenso überfällig ist der Abschied von homogenen Lerngruppen zugunsten eines Umgangs mit Differenz zwischen Kindern unterschiedlicher sozialer und ethnischer Herkunft (Meier-Gräwe 2009).


Kontakt:
Dr. Christian Alt, alt@dji.de

Vorträge zu »Veramte Kindheit« auf der DJI-Tagung »Kinder in Deutschland«, Berlin:
Dr. Dr. Gerhard Beisenherz: Verarmte Kindheit: Empirische Befunde
Prof. Dr. soc. Uta Meier-Gräwe: Verarmte Kindheit
Dr. Johanna Mierendorff: Kommentar zu »Veramte Kindheit«


Literatur:

Alt, Christian (Hrsg.; 2005): Kinderleben - Aufwachsen zwischen Familie, Freunden und Institutionen. Band 1: Aufwachsen in Familien. Schriften des Deutschen Jugendinstituts: Kinderpanel. Wiesbaden

Alt, Christian (Hrsg.; 2008): Kinderleben - Individuelle Entwicklungen in sozialen Kontexten. Band 5: Persönlichkeitsstrukturen und ihre Folgen. Schriften des Deutschen Jugendinstituts: Kinderpanel. Wiesbaden

Beisenherz, Gerhard H. (2002): Kinderarmut in der Wohlfahrtsgesellschaft. Das Kainsmal der Globalisierung. Opladen

Beisenherz, Gerhard H. (2005): Armut gefährdet soziale Teilhabe. Ausgeschlossene fallen zurück. In: Bayerischer Jugendring (BJR) Jugend Nachrichten. H. 12. Fokus: Soziale Lage von Kindern und Jugendlichen. München

Beisenherz, Gerhard H. (2009): »Verarmte Kindheit«: Empirisches Befunde. In: Kinder in Deutschland (Themenband; erscheint Sommer 2009)

Lanfranchi, Andrea (2007): Ein gutes Betreuungsangebot ist der halbe Schulerfolg. In: Bollier, Claude / Sigrist, Markus (Hrsg.): Auf dem Weg zu einer integrativen Basisstufe. Integration, Prävention, frühe heilpädagogische Förderung als Auftrag der Basis- und Grundstufe. Luzern, S. 73-87

Meier-Gräwe, Uta (2009): Verarmte Kindheit. In: Kinder in Deutschland (Themenband; erscheint Sommer 2009)

Meyer-Timpe, Ulrike (2008): Unsere armen Kinder. Wie Deutschland seine Zukunft verspielt. München

Mierendorff, Johanna (2009): Kommentar zu »Verarmte Kindheit«. In: Kinder in Deutschland (Themenband; erscheint Sommer 2009)

Walper, Sabine (1999): Auswirkungen von Armut auf die Entwicklung von Kindern. In: Lepenies, Annette u. a. (1999): Kindliche Entwicklungspotentiale. Normalität, Abweichung und ihre Ursachen. München

Wustmann, Corinna (2009):
www.ifp.bayern.de/veroeffentlichungen/infodienst/wustmann-resilienz.html


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Quelle:
DJI-Bulletin Heft Nr. 85, 1/2009, S. 13-15
Herausgeber:
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Nockherstraße 2, 81541 München
Tel.: 089/623 06-0, Fax: 089/623 06-265
E-Mail: barthelmes@dji.de
Internet: www.dji.de/bulletins

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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. August 2009