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DISKURS/006: Vergeßt Sloterdijk (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1-2/2010

Vergesst Sloterdijk
Worum es wirklich geht

Von Rudolf Walther


Auch wenn es in seinen Schriften eigentlich doch um genau jenes geht, kann man Sloterdijk vergessen, wenn man über die soziale Marktwirtschaft, den Sozialstaat, den Kapitalismus und die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise ernsthaft diskutieren will. Unser Autor nennt die Gründe.


Vorab eine Anmerkung zu den Schriften und Interventionen Peter Sloterdijks. Es handelt sich dabei meistens um eine Textsorte, die man als feuilletonistisch-professorale Improvisationen bezeichnen kann. Diese Texte gehen grundsätzlich aufs Ganze ohne Rücksicht auf Verluste ums Ganze. Nur Lumpen sind bekanntlich bescheiden. Schon vor sieben Jahren rief der Politikwissenschaftler Arnulf Baring die "Bürger auf die Barrikaden", um den Untergang des Landes in letzter Minute abzuwenden. Die BILD-Zeitung kürte Baring daraufhin zum "klügsten Professor Deutschlands". Sloterdijk hat das nicht nötig. Er hat eine eigene Talk-Show beim ZDF. Suchte man nach einer Berufsbezeichnung für Sloterdijk, so käme man auf die von seinen abwechselnd gespielten Rollen als praeceptor Germaniae, arbiter mundi oder propheta providentiae. Ob als Lehrmeister, Schiedsrichter oder Prophet - immer hantiert Sloterdijk mit Zukünftigem, zu dem er einen privilegierten Zugang zu beanspruchen scheint, obwohl er nicht einmal das Steuersystem auch nur in seinen Grundzügen kennt.

Der nordbadische Provinzialmetaphysiker hat sich in seiner Karlsruher Burg aus Pappmaché verschanzt und schießt mit Papierkügelchen aus den Restbeständen seiner Bücher aufs Publikum.


"Welche Gesellschaft?"

Eine Antwort auf diese totalisierende Frage werden wir nicht finden, aber vielleicht gelingt es, jene gesellschaftlichen Tendenzen zu benennen, die erwünscht sind, und jene Tendenzen zu kritisieren, die unerwünscht sind. Die Verarmung zum Beispiel. Die Wohlfahrtsverbände warnen regelmäßig davor und werden deshalb der Schwarzmalerei bezichtigt. Genaue Zahlen des Statistischen Bundesamtes liegen erst für 2007 vor - also für die Zeit vor der Krise. Bedenklich ist das schon: 2007 gab es 14,2 Millionen Arme, das sind 15% der Bevölkerung, bei Haushalten mit Kindern sind es 17%. 36% der Bevölkerung - also mehr als jeder Dritte - ist armutsgefährdet. Nach der amtlichen Statistik gilt als arm, wer weniger als 60% des Durchschnittseinkommens verdient - also eine völlig fiktive und verschleiernde Größe. Man muss diese Zahlen vergleichen mit dem Armutsdiskurs der Konservativen und Neoliberalen, wie ihn Christoph Butterwegge jüngst brillant dargestellt hat, um zu erkennen, welches Maß an Frivolitäten das Talk-Show-Gerede der vermeintlichen Experten und der politischen und wirtschaftlichen Eliten mittlerweile bestimmt, wenn es um die Verleugnung existierender Armut geht.

Eine andere mediale Blase ist die Einwanderung und die sog. Einwanderung in den deutschen Sozialstaat, über die es sozusagen keine belastbaren empirischen Daten gibt. Jenen, die so gerne das Postkartenidyll der amerikanischen Einwanderungspolitik beschwören, die sozusagen jedem die Chance zum berühmten "pursuit of happiness" ermögliche, sollte man eine Reise spendieren in den Süden der USA - an die Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko. An jener Grenze sterben jedes Jahr doppelt so viele Menschen wie in 40 Jahren an der Berliner Mauer - und das ist natürlich kein Plädoyer für deren Rechtfertigung. Die Integration über Leistung funktioniert in den USA noch schlechter als das "Fördern und Fordern" nach der Hartz-Schröder-Fischer-Politik.


Soziale Marktwirtschaft - Karriere eines Begriffes

Nach dem politischen Normalsprech leben wir in einer sozialen Marktwirtschaft, und wer das bezweifelt, schürt der neuesten Sprachregelung zufolge den Klassenkampf und die vermeintlich steinzeitliche Umverteilung von oben nach unten. Die Entstehung des Konzepts der sozialen Marktwirtschaft verdankt sich einer Krisensituation. An die "Laissez-Faire"-Ideologie der Freihandelssekte konnte nach 1945 ebenso wenig angeknüpft werden wie an die nationalsozialistische Kommandowirtschaft. Der Ökonom Wilhelm Röpke plädierte schon 1947 für eine Synthese jenseits von "wirtschaftlichem Liberalismus" und "Zentralverwaltungswirtschaft". Darin stimmten ihm auch andere Wirtschaftswissenschaftler zu.

Wie jedoch die neue Synthese zwischen staatlich gelenkter und freier Wirtschaft zu konzipieren sei, blieb strittig. Die meisten sprachen zunächst von "Verkehrswirtschaft" oder von "Marktwirtschaft". Der Freiburger Ökonom Walter Eucken entwickelte den für das neue Konzept zentralen Begriff des "Ordo", worunter er nicht nur eine "konkrete, positive, gegebene Tatsache" verstand, sondern "eine Ordnung, die dem Wesen des Menschen und der Seele entspricht, ... in der Maß und Gleichgewicht" herrschen und die sich als "sinnvolle Zusammenführung des Mannigfaltigen zu einem Ganzen" begreifen ließ. Das menschelte nach dem Gusto der harten Nachkriegsjahre. Der Begriff "Ordo" verbreitete sich schnell, aber über die Strukturen, Institutionen, Maßnahmen und Kompetenzverteilungen im herzustellenden "Ganzen" gingen die Ansichten weit auseinander. "Ordo" blieb ein begrifflich und theoretisch unterbestimmtes Versprechen, das im Rausch des Wirtschaftswunders schnell in Vergessenheit geriet.

Im April 1947 brachte Alfred Müller-Armack in einem Gutachten zu "einer neuen Marktgestaltung" den Begriff "soziale Marktwirtschaft" ins Gespräch. Der Ökonom war 1933 NSDAP-Mitglied geworden und verfasste im gleichen Jahr eine Schrift mit dem Titel "Staatsidee und Wirtschaftsordnung im neuen Reich". Der neue Begriff war also auch eine theoretische Improvisation zur intellektuellen Wiedergutmachung des Absturzes von 1933. Für Müller-Armack war "die soziale Marktwirtschaft" angesichts der prekären Versorgungslage im besetzten Deutschland immer als "Übergangsregelung zur freien Marktwirtschaft" (31.7.1947) gedacht. An eine theoretische Vertiefung des Konzepts dachte niemand. Noch 1959 beklagte sich Müller-Armack über die mangelnde "Beschäftigung mit den der sozialen Marktwirtschaft zugrunde liegenden theoretischen Gedankengängen".

Dabei ist es geblieben. Trotzdem schaffte der Begriff den Durchbruch. Wie konnte sich ein Konzept durchsetzen und 50 Jahre im tagespolitischen Nahkampf halten, das über kein stringentes theoretisches Fundament verfügt und - zumindest zunächst - über keine erfolgreiche Praxis? Die schlichte Antwort lautet: Das vage Konzept hatte sofort politischen Erfolg. Die CDU gewann die ersten Bundestagswahlen von 1949 mit dem Slogan "Soziale Marktwirtschaft". Den Rest besorgte Erhards Pragmatismus.

1952 setzte Alexander Rüstow "Neuliberalismus" mit "sozialer Marktwirtschaft" gleich. Müller-Armack, einer der Väter der "neuen Synthese", protestierte: "Während sich die neoliberale Theorie vor allem auf die Technik der Wettbewerbspolitik stützt, ist das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft ein umfassender Stilgedanke, der (...) im gesamten Raum des gesellschaftlichen Lebens Anwendung findet" (1959). Der neue "Stil" blieb ein rhetorisches Versprechen wie schon der Begriff "Ordo".


Wir leben in einem Sozialstaat

Allerdings steht dieser Sozialstaat seit fast 30 Jahren unter Dauerbeschuss von konservativer Seite, wie Friedhelm Hengsbach jüngst feststellte. Bis vor 20 Jahren wurde politisch nicht für voll genommen, wer bestritt, dass die BRD nicht prosperierte trotz, sondern gerade wegen der halbwegs gelungenen wohlfahrtsstaatlichen Absicherung der Bürger und wegen eines minimalen Umverteilungsfaktors von oben nach unten. Dann kam, was man die neoliberale Wende nennen könnte, und an der waren nicht nur konservative Medien und Eliten beteiligt, sondern auch die rot-grüne Regierung geriet unter ihren Einfluss. Mitgemacht haben dabei auch freiwillig jene Teile der linken und linksliberalen Intelligenz, die sich im Schlepptau der Pariser Postmoderne ans "Umlernen" machten. Seriöse Umfragen belegen, dass normalisierte Medienmeinungen und Volksmeinungen nicht übereinstimmen. Über 80% der Bevölkerung halten "soziale Gerechtigkeit" für ebenso wichtig wie den Mindestlohn. Gegen die "Rente mit 67" gibt es - gegen das Parlament und die Experten - eine Zweidrittelmehrheit.

Bevor man leichtfertig von der Überdehnung des Sozialstaats und der Überbelastung der Wirtschaft schwadroniert, müsste geklärt werden, was einen Sozialstaat ausmacht und wie belastbar die Wirtschaft ist. Drei Steuerreformen von 1986, 1988 und 1990 brachten dem obersten Fünftel der Steuerzahler Einsparungen von 19 Milliarden Mark, dem untersten Fünftel 0,3 Milliarden. Gerade was die Finanzierung des Sozialstaats ausmacht, schleichen sich die Besserverdienenden durch das unsäglich gerechtigkeitswidrige Institut der Beitragsbemessungsgrenzen aus der Mitverantwortung für die Finanzierung von Gesundheit, Rente, Pflege und Arbeitslosigkeit. Dagegen meint Hans-Olaf Henkel, ohne den Hauch eines Belegs: "Viele (...) richten sich bequem im Unten ein, weil es ihnen vom Bürgertum finanziert wird." Die gesetzliche Rentenversicherung in der Schweiz benötigt knapp halb so hohe Beiträge wie die deutsche, weil sie ohne Beitragsbemessungsgrenze auskommt, obwohl sie eine höhere Mindestrente garantiert. Die wichtigsten Probleme des Sozialstaats sind nicht der Missbrauch und die oft beschworene Entmündigung der Klienten, sondern seine anachronistisch-gleichheitswidrige Finanzierungspraxis und seine perfektionistische Bürokratisierung.

Viel ist die Rede von der "neuen Bürgerlichkeit", mit der dem ramponierten Gemeinwesen auf die Beine geholfen werden soll. Richtig daran ist, dass die meistens nicht mit ausgesprochene Hintergrundannahme, wonach "neue Bürgerlichkeit" nur nötig wird, weil der alte Liberalismus restlos auf den Hund gekommen ist. FDP-Liberalismus ist, wenn man ein paar honorige Einzelpersonen ausnimmt, identisch mit dem Gemisch aus Steuerhinterziehung, Steuersenkung, freier Fahrt auf den Autobahnen und sonst gar nichts. Das war auch schon mal anders. Liberale Kolonisten in Amerika waren bereit, für die englische Krone und die britische Oligarchie Steuern zu bezahlen, allerdings unter einer Voraussetzung: "no taxation without representation". Wenn man das auf heute überträgt, geht es nicht um eine ominöse "neue Bürgerlichkeit", sondern um eine Stärkung emanzipatorischer Staatsbürgerlichkeit, also erweiterter Partizipation und Verantwortung.

Nach der jüngsten Volksabstimmung in der Schweiz lancierte die FAZ die Parole, wonach die direkte Demokratie und Volksabstimmungen automatisch einen "populistischen Faktor" enthielten. Das ist grobschlächtig bis falsch. Dass eine Mehrheit von Schweizern mit ihrer Entscheidung das zivilisatorische Mindestniveau von Rechtsstaatlichkeit und Toleranz unterbieten konnte, liegt nicht allein an der demagogischen Kampagne und der leichten Verführbarkeit des Volkes, sondern auch am völligen Versagen der politischen Elite. Die Initiative verstößt eindeutig gegen die Religionsfreiheit und das Diskriminierungsverbot der Schweizerischen Bundesverfassung. Deshalb hätte das Parlament die Möglichkeit gehabt, das Volksbegehren wegen Verfassungswidrigkeit nicht zuzulassen. Aus Opportunismus und Angst davor, dem Blocher-Projekt und seinen gut 100.000 Unterzeichnern Verfassungswidrigkeit zu bescheinigen, stimmten 70% der Parlamentarier für die Zulassung des Volksbegehrens, und die Bundesregierung unterließ es obendrein, einen Gegenvorschlag zur Initiative vorzulegen.

Bei der direkten Demokratie ist der Populismus nicht serienmäßig eingebaut, sondern rechte und rechtsradikale Formationen bedienen sich des Instruments der direkten Demokratie gegen deren eigene Intentionen, um ihre trübe Suppe aufzukochen. Der legitime Anspruch der Bürger auf direkte Partizipation ist auch keine kleinstaatlich-alpine Marotte, wie viele deutsche Intellektuelle von rechts bis links oft behaupten, sondern eine Kernforderung emanzipatorischer Staatsbürgerlichkeit. Dass das Grundgesetz in der Frage direkter Partizipation defizitär ist, hat gute historische Gründe, mehr aber auch nicht. Das Misstrauen gegen ein Volk, das zwölf Jahre lang fast vollzählig hinter einem verbrecherischen Führer herlief, war damals berechtigt und hat sich heute schlicht überlebt.

Das System der reinen Parteiendemokratie hat sich in vielfacher Hinsicht ins Abseits manövriert und ist - was die Legitimationsgrundlage betrifft - hoffnungslos defizitär geworden. In der rund 130-jährigen Praxis direkter Demokratie hat sich das Volk in der Schweiz ab und zu selbst ins Bein geschossen (mehrmalige Ablehnung des Frauenstimmrechts, des EU-Beitritts und der UNO-Mitgliedschaft), aber insgesamt keine größeren Flurschäden angerichtet. Meistens werden Fehlentscheide nach einer Schonfrist korrigiert.

Das sind einige der Themen, über die die Republik tatsächlich diskutieren muss.


Rudolf Walther (* 1944) ist Historiker und freier Publizist. Er arbeitet für Schweizer und deutsche Zeitungen und lebt in Frankfurt/M.
rudolf.walther@t-online.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1-2/2010, S. 20-23
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. März 2010