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FAMILIE/228: Die globalisierte Familie (DJI)


DJI Bulletin 4/2009, Heft 88
Deutsches Jugendinstitut e.V.

Experiment Familie
Die globalisierte Familie

Von Andreas Lange und Karin Jurczyk


Das Leben von Müttern, Vätern und Kindern ist reich an Optionen geworden - den einen bringt das ungeahnte Möglichkeiten, andere werden zu Verlierern. Wie sich unsichere Arbeitsverhältnisse und Konkurrenzdruck auf den Familienalltag auswirken und warum Eltern dringend Entlastung benötigen.


Familien sind keine Gegenstrukturen zur Gesellschaft, sondern eng mit anderen gesellschaftlichen Bereichen und Systemen verflochten und sie müssen, da immer weniger Traditionen vorgegeben sind, aktiv hergestellt werden. Dafür benötigen Eltern gemeinsame Zeit mit ihren Kindern, aber auch ein sicheres finanzielles Auskommen. Sie sind also abhängig von einer zunehmend leistungsorientierten Arbeitswelt. Besonders sichtbar wird diese Abhängigkeit im Zuge der Globalisierung, verstanden als multidimensionaler kultureller, sozialer und wirtschaftlicher Prozess, bei dem internationale Verflechtungen und Interaktionen eine große Rolle spielen. Um Marktunsicherheiten zu bewältigen, setzen inzwischen viele Arbeitgeber auf flexiblere Beschäftigungsverhältnisse (Buchholz/Blossfeld 2009). Daraus resultierende Unsicherheiten und der wachsende Konkurrenzdruck belasten Familien in ganz besonderem Maße.


Paare schieben die Familiengründung auf

Die Studie »Globalife«, für die ein internationales Forschungsteam um den Soziologen Hans-Peter Blossfeld fünf Jahre lang Lebenslaufentscheidungen in einer globalisierten Welt untersuchte, zeigt zwar, dass Nationalstaaten die Auswirkungen der Globalisierung auf das Familienleben durch ihre Sozial-, Wirtschafts- und Familienpolitik verstärken oder abschwächen können. Allerdings verändert der Globalisierungsprozess in Form von Beschäftigungsunsicherheiten die Lebensläufe von Frauen und Männern: Sie gehen später feste Partnerschaften ein, verschieben die Familiengründung und bleiben nicht selten kinderlos: »Auf gesellschaftlicher Ebene entsteht dadurch ein Dilemma, denn einerseits werden verbesserte Bedingungen für betriebliche Flexibilität im Sinne höherer Wettbewerbsfähigkeit weithin als wünschenswert angesehen, andererseits aber auch steigende Geburtenraten« (Blossfeld u. a. 2007). Vor allem junge Erwachsene müssen als Verlierer der Transnationalisierung angesehen werden. Ihr späteres Einmünden in den Arbeitsmarkt und der damit verbundene verzögerte Übergang in eine selbstständige Existenz verlängert die Phase der ökonomischen Abhängigkeit von der Herkunftsfamilie (Stauber 2007). Dies erfordert von den Familien erhebliche Anpassungsleistungen im Hinblick auf die Lebenssituation der jungen Erwachsenen, etwa im Hinblick auf das Wohnen (Menz 2009).

Aktuelle Forschungen zu den Konsequenzen beruflich bedingter Multilokalität beleuchten eine andere Facette des Zusammenhangs von Globalisierung und Familie. Eine quantitative Studie zu Mobilitätsmustern in privaten Lebensformen zeigt, dass Frauen wesentlich seltener in weiten Distanzen mobil arbeiten als Männer (Schneider u. a. 2009). Und diese wenigen Frauen sind auffallend selten Mütter. Nach wie vor sind Frauen, die nach dem traditionellen Rollenmuster für die familiale Sorgearbeit zuständig sind, stärker räumlich gebunden. Die wachsenden Mobilitätsanforderungen in der Arbeitswelt zwingen sie somit verstärkt dazu, sich zwischen Kindern und Karriere zu entscheiden oder komplizierte Balanceakte auf sich zu nehmen. Der Alltag von Familien, die aus beruflichen Gründen an mehreren Orten leben, birgt große, mitunter stressreiche Anforderungen an Väter, Mütter und Kinder.


Die Angst vor dem sozialen Abstieg wächst

Die Herausforderungen eines globalisierten Wirtschaftssystems gewinnen durch die aktuelle ökonomische Krise an Bedeutung. Zwar gaben in der repräsentativen »Vorwerk Familienstudie 2009« nur sieben Prozent der Befragten an, dass ihre eigene Familie sehr hart von der Wirtschafts- und Finanzkrise betroffen ist. Allerdings gehen 52 Prozent der Eltern von Kindern unter 18 Jahren davon aus, dass viele (andere!) Familien in Deutschland stark darunter leiden (IDA 2009). Bereits in den Jahren zwischen 1984 und 2007 hat insbesondere im Zentrum der Mittelschicht die Angst vor dem sozialen Abstieg überproportional zugenommen (Lengfeld/Hirschle 2009). Diese Sorgen lösen bei einem großen Teil von Müttern und Vätern psychische Belastungen aus, die das Familienklima und damit auch die familialen Zukunftsperspektiven verschlechtern (Walper 2008).

Familien sind jedoch keine wehrlosen Opfer des gesellschaftlichen und ökonomischen Wandels, vielmehr versuchen sie ihn im Rahmen ihrer Vorstellungen, Lebensziele und Ressourcen mitzugestalten. Eine der Folgen aus dem verschärften Wettbewerb ist beispielsweise das gesteigerte Bemühen vieler Eltern, ihrem Kind die bestmögliche Bildung zu bieten. Dabei lassen sich in der Mittelschicht bereits Abschottungstendenzen nachweisen. Die betroffenen Familien versuchen so, ihren Kindern Startvorteile zu erhalten (Henry-Huthmacher 2008). Die Suche nach der »richtigen« Schule wird immer wichtiger zur Bewältigung der als unsicher wahrgenommenen Zukunft des eigenen Nachwuchses. Zudem werden schon im Vorschulalter verstärkt Bildungsangebote genutzt (Müller/Spieß 2009), während der Schulzeit zahlen Eltern privaten Nachhilfeunterricht.

Mithilfe einer vom Deutschen Jugendinstitut (DJI) und der Technischen Universität Chemnitz durchgeführten qualitativen Untersuchung lässt sich die Dynamik zwischen gesellschaftlichen und ökonomischen Herausforderungen und den familialen Bewältigungsversuchen nachvollziehen (Jurczyk u. a. 2009). Die Studie macht einerseits die Potenziale der flexiblen Arbeitsformen deutlich, die mit dem Wandel zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft entstehen. Zum Beispiel wachsen die Gestaltungsspielräume für ein selbstbestimmtes Zusammenleben der Familien. Andererseits weisen die Ergebnisse aber auch darauf hin, dass die neuen Arbeitsbedingungen zu einer belastenden permanenten Präsenz der beruflichen Arbeit in allen Bereichen des Lebens führen. Es ist davon auszugehen, dass die aktuelle Wirtschaftskrise und die damit verbundenen Existenzängste diese Tendenz weiter verstärken werden.


Flexible Arbeitszeiten, starre Institutionen

Gehen die Entwicklungen aber so weit, wie dies der Soziologe Tilmann Allert diagnostiziert? »Die Familie ist nicht länger eine Gegenwelt gegen das Rationalitätsprinzip des Wirtschaftslebens, vielmehr ist sie zu einem Vorbereitungsmodell avanciert ... Die selbstsuggestive Zauberformel von der Vereinbarkeit von Familie und Beruf diktiert den praktischen Vollzug des Familienlebens«, schrieb er im August 2009 in einem Artikel in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«. Die DJI-Studie bestätigt, dass insbesondere projektförmige Arbeit, flexibilisierte Teilzeitarbeit, überlange Arbeitszeiten und erhöhte Mobilitätsanforderungen Reaktionen von den Familien erzwingen (Jurczyk u. a. 2009). So muss gemeinsame Zeit im Familienleben aktiv hergestellt, geplant und ihr Zustandekommen immer wieder abgesichert werden. Dafür sind kreative Praktiken der Familienakteure notwendig, da eine große Diskrepanz zwischen den oftmals starren Zeittakten relevanter Kontextinstitutionen, etwa Schulen oder Kindertagesstätten (Kitas), und den zeitlichen Anforderungen von Familie und Beruf herrscht. Diesen »institutional lag« müssen Familien im Alltag individuell ausbalancieren. Stressreiche Arbeitsbedingungen beschneiden damit auch die Möglichkeit, die Familienzeit nach eigenen Vorstellungen zu gestalten.

Dass Familien mit einer Vielzahl von innovativen Strategien versuchen, der Vereinnahmung durch die Erwerbsarbeit entgegenzuwirken, relativiert die These von Tilmann Allert nur teilweise. Denn der ökonomische Druck und die Angst vor Arbeitslosigkeit vergrößern die Lücken in der Sorgearbeit: Schlechte und lange Arbeitsbedingungen werden um fast jeden Preis akzeptiert. Eltern fühlen sich erschöpft, überlastet und vernachlässigen ihre Selbstsorge. Nicht zuletzt fällt es ihnen dadurch auch schwerer, die verbleibende gemeinsame Familienzeit aktiv zu gestalten (Jurczyk u. a. 2009). Diese Entwicklungen betreffen besonders sozial benachteiligte Familien, die nur wenige (finanzielle) Ressourcen zur Selbsthilfe mobilisieren können. Schwierigkeiten deuten sich aber auch bei Eltern an, die zusätzlich für ältere oder kranke Familienmitglieder Sorge leisten müssen. Da es an öffentlichen Unterstützungsangeboten mangelt, übernehmen immer häufiger ausländische Pflegekräfte, insbesondere aus Osteuropa oder Südamerika, kostengünstig Aufgaben in Familien. Allerdings fehlt den Menschen oft jegliche soziale Absicherung. Diese globalen Fürsorgeketten sind extrem problematische Lösungen, die auch durch die politischen und ökonomischen Bedingungen in Deutschland verursacht sind. Transnationale Familienkonstellationen sind daher ein wichtiges neues Forschungsfeld (Beck-Gernsheim 2009).


Die Chancen und Risiken der Globalisierung

Die Globalisierung und die zunehmende Flexibilisierung der Erwerbsverhältnisse bergen allerdings nicht nur Risiken, sondern auch Chancen. Zwar sind Prozesse der zunehmenden Fremdbestimmung und Kolonialisierung der Familie, wie sie der Soziologe Tilmann Allert beschreibt, unübersehbar. Denn die Ökonomie beeinflusst die Familie bei ihren alltäglichen Praktiken, Einstellungen sowie bei ihren Bildungs- und Sozialisationsanstrengungen. Andererseits können flexible Arbeitsformen aber auch attraktive Optionen für Eltern bieten: Sie ermöglichen individuelle Erwerbsbiografien und mehr Mobilität, eröffnen breitere Tätigkeitsspektren sowie Qualifizierungs- und Selbstverwirklichungschancen. Die stärkere berufliche Einbindung von Müttern befördert zudem egalitäre Geschlechterverhältnisse in den Familien und trägt zu deren ökonomischer Sicherheit bei. Vorausgesetzt die Frauen sind mit ihrer Arbeit zufrieden, können die Kinder sogar kognitiv und emotional von der Berufstätigkeit ihrer Mütter profitieren (Röhr-Sendlmaier 2009). Ob und wie künftig mehr Familien diese Chancen der Globalisierung nutzen können, wird von einer gezielten sozial- und familienpolitischen Gestaltung der Entwicklungen auf nationalstaatlicher Ebene abhängen. Oberste Maxime sollte dabei sein, die Handlungsfähigkeit der Familie sowie deren Autonomie zu stärken.


Professor Dr. Andreas Lange ist am Deutschen Jugendinstitut (DJI) als Grundsatzreferent für Familienwissenschaften tätig.
Dr. Karin Jurczyk leitet dort die Abteilung »Familie und Familienpolitik«.
Kontakt: lange@dji.de, jurczyk@dji.de


Literatur:

Allert, Tilmann (2009): Die Sorge hat keine Adresse mehr. F.A.Z., Beilage, 19.08.2009

Beck-Gernsheim, Elisabeth (2009): Ferngemeinschaften. Familien in einer sich globalisierenden Welt. In: Burkart, Günter (Hrsg.): Zukunft der Familie. Prognosen und Szenarien. Zeitschrift für Familienforschung, Sonderheft 6. Opladen, S. 93-109

Blossfeld, Hans-Peter u. a. (2007): Globalisierung und die Veränderung sozialer Ungleichheiten in modernen Gesellschaften. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Heft 4, S. 667-691

Buchholz, Sandra / Blossfeld, Hans-Peter (2009): Beschäftigungsflexibilisierung in Deutschland - Wen betrifft sie und wie hat sie sich auf die Veränderung sozialer Inklusion/Exklusion ausgewirkt? In: Stichweh, Rudolf / Windolf, Paul (Hrsg.): Inklusion und Exklusion: Analysen zur Sozialstruktur und sozialen Ungleichheit. Wiesbaden, S. 123-138

Henry-Huthmacher, Christine (2008): Eltern unter Druck. Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse der Studie. In: Henry-Huthmacher, Christine / Borchard, Michael (Hrsg.): Eltern unter Druck. Selbstverständnisse, Befindlichkeiten und Bedürfnisse von Eltern in verschiedenen Lebenswelten. Stuttgart, S. 3-24

Institut für Demoskopie Allensbach (2009): Vorwerk Familienstudie 2009. Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage zur Familienarbeit in Deutschland. Allensbach

Jurczyk, Karin u. a. (2009): Entgrenzte Arbeit - entgrenzte Familien. Grenzmanagement im Alltag als neue Herausforderung. Berlin

Lengfeld, Holger / Hirschle, Jochen (2009): Die Angst der Mittelschichten vor dem sozialen Abstieg. Eine Längsschnittanalyse 1984-2007. Zeitschrift für Soziologie, Heft 5, S. 379-398

Müller, Grit / Spieß, Katharina C. (2009): Informelle Förderangebote - Eine empirische Analyse ihrer Nutzung in der frühen Kindheit. In: Roßbach, Hans-Günther / Blossfeld, Hans-Peter (Hrsg.): Frühpädagogische Förderung in Institutionen. Sonderheft 11 der Zeitschrift für Erziehungswissenschaft. Wiesbaden, S. 29-46

Menz, Simone (2009): Familie als Ressource. Individuelle und familiale Bewältigungspraktiken junger Erwachsener im Übergang in Arbeit. Weinheim

Röhr-Sendlmeier, Una M. (2009): Berufstätige Mütter und die Schulleistungen ihrer Kinder. Bildung und Erziehung, Heft 2, S. 225-242

Schneider, Norbert F. u. a. (2009): Beruf, Mobilität und Familie. In: Burkart, Günter (Hrsg.): Zukunft der Familie. Prognosen und Szenarien. Opladen, S. 111-136

Stauber, Barbara (2007): Zwischen Abhängigkeit und Autonomie: Junge Erwachsene und ihre Familien. In: Stauber, Barbara / Pohl, Axel / Walther, Andreas (Hrsg.): Subjektorientierte Übergangsforschung. Rekonstruktion und Unterstützung biografischer Übergänge junger Erwachsener. Weinheim, S. 129-154

Walper, Sabine (2008). Sozialisation in Armut. In: Hurrelman, Klaus / Grundmann, Matthias / Walper, Sabine (Hrsg.): Handbuch Sozialisationsforschung. Weinheim, S. 203-216


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Quelle:
DJI-Bulletin Heft 4/2009, Heft 88, S. 4-6
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Januar 2010