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FRAUEN/315: Kolumbien - Die Hoffnung konnten sie nicht zerstören (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 115, 1/11

Die Hoffnung konnten sie nicht zerstören
Zur Situation der kolumbianischen Basisfrauenorganisation OFP

Von Roswitha Just


Die Katholische Frauenbewegung Österreichs unterstützt seit vielen Jahren aus Mitteln der Aktion Familienfasttag die Arbeit der Organización Femenina Popular (OFP). Im Oktober 2010 organisierte sie eine Filmreise zu dieser Frauenorganisation, um die erfolgreiche Arbeit, die von Gewaltandrohungen, Prekarität und Dauerstress begleitet wird, mit einer Filmreportage(1) zu dokumentieren.


Wir begleiten Elizabeth Rodriguez auf den Friedhof, wo sie das Grab ihres Sohnes besucht. Der Friedhof ist riesig und nur einer von dreien in Barrancabermeja. Alle drei sind bereits hoffnungslos überfüllt. Elizabeth zeigt auf ein paar Erdhügel, weit hinten, bevor der Friedhof in den Dschungel übergeht. "All diese Gräber sind von letzter Woche." Es sind ungefähr dreißig. Zwei Männer kommen auf uns zu, unsere Kamera hat sie aufmerksam gemacht. Sie wollen uns unbedingt ihren Fund zeigen: Neben einem offenen Grab steht ein großer, schwarzer Plastiksack, darin die Reste eines zerstückelten Körpers. Mir wird übel...

Elizabeths Sohn ist vor drei Jahren verschwunden. Erst nach acht Tagen getraute sie sich, die OFP um Unterstützung zu bitten. Es wurde ein Marsch der "Frauen in Schwarz" durch das Stadtviertel organisiert, um Haus für Haus nach Elizabeths Sohn zu fragen. Schließlich kam per Handy die anonyme Nachricht, dass zwei Leichen im Fluss gefunden worden waren. Gloria Amparo, die neue Koordinatorin der OFP, hat den Leichnam anhand der Kleidung und einer Tätowierung identifiziert. Keine leichte Aufgabe, denn der Körper war nur mehr zum Teil vorhanden, die Fische haben die Hälfte aufgefressen. Die Mörder wurden inzwischen als Paramilitärs identifiziert, sie sitzen angeblich im Gefängnis. Am Weg zum Ausgang zeigt uns Elizabeth auch das Grab ihrer Nichte und ihres Schwagers, beide Opfer des gewaltsamen Konfliktes im Land.

Am nächsten Tag treffen wir Iluminada Ortiz. Sie ist schon lange Mitglied der OFP. "In diesem Konflikt habe ich elf Angehörige verloren, Kinder, Brüder, Neffen, Ehemänner, Schwiegersöhne, Schwager, viele. Es war ein Kampf um Macht ... um Landbesitz. Einmal ist die Guerilla gekommen, dann die Paramilitärs, dann die Behörden selber. Denn mein Sohn wurde von einem Polizisten getötet, mein Partner wurde von der Guerilla umgebracht, meinen Bruder haben die Paramilitärs ermordet, und die anderen sind auch von Paramilitärs umgebracht worden. Auch wenn man nichts mit dem Konflikt zu tun hat, ist man mitten drin."

Der ehemalige Präsident Uribe(2) hat dem Westen ein Bild Kolumbiens vermittelt, in dem kein Bürgerkrieg mehr herrscht, die Guerilla praktisch besiegt ist und die Paramilitärs nicht mehr vorhanden sind. Spricht man mit der Zivilbevölkerung, wie z. B. mit Frauen der OFP, dann zeigt sich eine ganz andere Realität: Entführungen und Ermordungen sind bis heute an der Tagesordnung. Ständig ziehen neue Familien vom Land in die Stadt, um vor der Gewalt zu flüchten. Allerdings finden sie in der Stadt nicht mehr Sicherheit, im Gegenteil: sie landen im Elend der Slumviertel und treffen auf ähnliche Gewaltsituationen wie am Land. Yolanda Becerra, Mitbegründerin und Direktorin der OFP, ist selbst eine Betroffene. Sie musste vor drei Jahren aus Barrancabermeja nach Bucaramanga flüchten. Denn die Drohungen machten auch vor ihrer Familie nicht mehr Halt. Als ihre Schwester auf offener Straße aufgehalten und bedroht wurde, konnte Yolanda das Risiko nicht eingehen, das Leben ihrer Familienangehörigen aufs Spiel zu setzen. Sie musste Barrancabermeja verlassen. Sie hat ein Jahr gebraucht, um sich in der Stadt Bucaramanga, zwei Stunden von Barranca entfernt, neu zu orientieren. Nun führt sie von Bucaramanga aus die nationale Arbeit der OFP und baut dort neue Frauengruppen auf.


Prekarität und Dauerstress

Für das OFP-Team in Barrancabermeja und die Frauen an der Basis war das Weggehen von Yolanda Becerra sehr schmerzhaft. Die Paramilitärs setzten das Gerücht in die Welt, dass die OFP nicht mehr existiert und dass Yolanda mit den Paramilitärs zusammengearbeitet hat. Das Team in Barrancabermeja musste praktisch von vorne anfangen, um die Frauen an der Basis davon zu überzeugen, dass die Arbeit weitergeht, dass die Frauenzentren weiterhin Anlaufstellen für die Anliegen und Nöte von Frauen sind und sich die OFP nicht aus der Region vertreiben lässt. Der psychische Dauerstress hinterlässt bei den OFP-Frauen seine Spuren. Viele Frauen aus dem Koordinationsteam sind schwer krank: eine hat Krebs, eine weitere schwere psychische Probleme, eine dritte leidet an Bandscheibenproblemen. So wurde und wird die Arbeit immer wieder neu aufgeteilt, um nicht einzelne Frauen zu exponieren und zur Zielscheibe zu machen. Gloria Amparo meint dazu: "Ich glaube, dass unser Engagement einen hohen Preis fordert, nämlich das eigene Leben. Wir haben zwei Kolleginnen verloren, Esperanza und Yamile. Und wir haben den Tanzlehrer der Kinder verloren. Alle drei wurden umgebracht. Eine Kollegin von uns ist im Exil, viele wurden vertrieben. Auch ich musste mein Haus verlassen. Der Preis ist hoch, aber wir denken, es zahlt sich aus."

Die wirtschaftliche Situation der OFP und der Frauen wird immer prekärer. Hilfswerke haben sich aufgrund der "verbesserten Situation" aus der Region Magdalena Medio zurückgezogen. Der Boom im Bergbau, von dem vor allem Firmen aus Antioquia oder multinationale Konzerne profitieren, hat die Lebenshaltungskosten in Barrancabermeja in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Gleichzeitig ist die Arbeitslosigkeit unter der ansässigen Bevölkerung gestiegen. Immer mehr Menschen müssen sich mit informeller Arbeit über Wasser halten. Wir besuchten beispielsweise eine OFP-Gruppe, die alle sieben bis vierzehn Tage ein Sancocho, eine typisch kolumbianische Speise, zubereitet und verkauft. Mit den Einkünften können sie im Großhandel Lebensmittel für ihre Familien billiger einkaufen. Der OFP fehlt außerdem das Geld für wichtige Präventionsarbeit. So bekommt etwa die Kinder-Tanzgruppe nur mehr sporadisch Unterricht, weil es keine Finanzen für den Tanzlehrer und die Materialien mehr gibt. Doch gerade eine sinnvoll gestaltete Freizeit vermag Kinder und Jugendliche von bewaffneten Gruppen fernzuhalten. Wegen der Imagepolitik, die der ehemalige Präsident Uribe gepflegt hat, und aufgrund der prekären wirtschaftlichen Lage kommt gerade der Informationsarbeit über die tatsächliche Situation der Menschen eine besondere Rolle zu. Yolanda Becerra bringt sie unmissverständlich auf den Punkt: "Die internationale Präsenz hat uns das Leben verlängert. Ein Anruf, ein Protestbrief, eine Botschaft, ein Dokumentarfilm, ein Besuch kann viele Leben retten, weil einen Staat wie den kolumbianischen nur das Image im Ausland interessiert. Wir spüren, dass immer mehr auf Gewalt gesetzt wird, auf das Militärische. Dadurch wird es weiterhin Blutvergießen in unserem Land geben, und es wird immer schwieriger werden, das Ziel unserer Arbeit zu erreichen, ein Leben ohne Gewalt. Aber wir verlieren die Hoffnung nicht. Sie haben viel in unserem Leben zerstört, aber die Hoffnung konnten sie nicht zerstören. Und das ist sehr wichtig."


Anmerkungen:

(1) Der Dokumentarfilm von Danielle Proskar und Gerhard Hierzer wird während der Aktion Familienfasttag im März vom ORF ausgestrahlt. Weitere Informationen zur OFP und zum bewaffneten Konflikt in Kolumbien erfahren Sie auf unserer neuen DVD "Vorwärts Frauen! Für ein Leben ohne Gewalt". Sie ist erhältlich gegen eine Spende für die Aktion Familienfasttag im Büro der Katholischen Frauenbewegung Österreichs, Referat für Entwicklungspolitik - Aktion Familienfasttag, Spiegelgasse 3/2, 1010 Wien. Tel. 01/51 552 DW3697, E-Mail: teilen@kfb.at

(2) Seit 7. August 2010 ist Juan Manuel Santos Präsident des Landes.


Zur Autorin:
Roswitha Just ist seit 1999 Projektreferentin der Katholischen Frauenbewegung und verantwortlich für das Schwerpunktland Kolumbien. Sie lebt in Wien.


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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 115, 1/2011, S. 30-31
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
Sensengasse 3, 1090 Wien,
Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
Telefax: 0043-(0)1/317 40 20-406
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Juli 2011