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FRAUEN/556: Indien - Straffreiheit in Konfliktgebieten heizt Gewalt gegen Frauen an (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 2. Oktober 2014

Indien: Straffreiheit in Konfliktgebieten heizt Gewalt gegen Frauen an - Rebellengruppen machen sich zu Richtern

von Stella Paul


Bild: © Stella Paul/IPS

Frauen in einem Dorf im nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesh
Bild: © Stella Paul/IPS

Chirang, Indien, 2. Oktober (IPS) - An einem Morgen im März ging ein indigenes Mädchen in Chirang im nordostindischen Bundesstaat Assam wie gewohnt zum Fischen zum nahegelegenen Fluss. Abends fanden Dorfbewohner die Leiche der 17-Jährigen am Ufer. Die Ermittlungen ergaben, dass das Opfer vergewaltigt worden war, bevor man ihm die Kehle durchschnitt.

Die junge Frau gehörte dem Volk der Bodo an, das mit Muslimen und der indigenen Gruppe der Santhal auf Kriegsfuß steht. Ethnische Konflikte und weitgehende Straffreiheit für die Täter gehören vor allem im Norden, Osten und im Zentrum Indiens zum Alltag von mehr als 40 Millionen Frauen und führen dazu, daß viele von ihnen Opfer sexuell motivierter Gewalt werden.

Der Mord in Chirang wirft zudem ein weiteres Schlaglicht auf die in Indien verbreitete geschlechtsspezifische Gewalt. Tausende Mädchen und Frauen werden vergewaltigt, misshandelt und getötet. Und ein Ende ist nicht in Sicht.

Laut einem in diesem Jahr veröffentlichten Bericht des UN-Generalsekretärs, der den Fortschritt eines 1994 auf der Weltbevölkerungskonferenz ICPD in Kairo angenommenen Aktionsprogramms bewertet, kommt es weltweit zu geschlechtsspezifischer Gewalt. Etwa jede dritte Frau wird im Laufe ihres Lebens Opfer physischer oder sexueller Gewalt.

Die Beseitigung geschlechtsbedingter Gewalt wurde von 88 Prozent der in der Untersuchung aufgeführten Regierungen als zentrales Anliegen bewertet. Insgesamt 97 Prozent aller Staaten haben Maßnahmen zugunsten der Gleichbehandlung von Frauen sowie zur Stärkung der Menschenrechte und der Frauenrechte eingeführt.

Dennoch gehören die verschiedensten Formen der Gewalt gegen Frauen überall auf der Welt nach wie vor zum Alltag. Eine kürzlich in mehreren Ländern durchgeführte UN-Studie über Männer und Gewalt im Asien-Pazifik-Raum berichtet, das fast die Hälfte von 10.000 befragten Männer sexuelle oder körperliche Gewalt gegen ihre Partnerinnen eingeräumt hat.

In Indien wurden zwar Gesetze zum Schutz vor sexueller Gewalt eingeführt. Nach jüngsten Angaben der Nationalen Behörde für Verbrechensstatistik NCRB werden auf dem Subkontinent dennoch täglich durchschnittlich 92 Frauen vergewaltigt. Diese Zahl liegt sogar noch über den in der Demokratischen Republik Kongo erfassten Vergewaltigungen, die mit durchschnittlich 36 am Tag angegeben werden.


Armee und Rebellen üben Gewalt gegen Frauen aus

Experten sehen eine Zunahme sexueller Gewalt vor allem in Konfliktgebieten, in denen die Täter nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Die Strafverfolgung ist laut den Vereinten Nationen aber "von entscheidender Bedeutung, um geschlechtsspezifische Gewalt zu verhindern und auf sie zu reagieren".

Suhas Chakma, Direktor des Asien-Zentrums für Menschenrechte in der indischen Hauptstadt Neu-Delhi, beschuldigt Sicherheitskräfte und Rebellen gleichermaßen, die Menschenrechte zu verletzen. "Auch Zivilisten üben Gewalt gegen Frauen aus. Ganz gleich, wer die Verbrechen begeht - die Täter müssen zur Verantwortung gezogen werden. Doch die geltenden Gesetze sehen dies nicht vor."

Ein Beispiel dafür ist der Fall einer 35-Jährigen aus dem Distrikt South Garo Hills in dem Bundesstaat Meghalaya im Nordosten Indiens, die im Juni von Aufständischen getötet wurde. Mitglieder der 'Garo National Liberation Army' (GNLA), einer von drei in dem Unionsstaat aktiven Rebellengruppen, hatten offenbar versucht, die Frau zu vergewaltigen. Als sie sich wehrte, erhielt sie eine Kugel in den Kopf. Die GNLA streitet den Vorwurf ab und behauptet, das Opfer sei eine "Informantin" gewesen und habe den Tod "verdient".

Bei Fällen von sexueller Gewalt werden in Indien lediglich etwa 26 Prozent aller Täter verurteilt. Nach Angaben der NCRB wurden 3.860 von 5.337 angezeigten mutmaßlichen Vergewaltigern in den vergangenen zehn Jahren entweder freigelassen oder wegen Mangel an Beweisen freigesprochen. "Bei uns herrscht eine Kultur der Straffreiheit", sagt die Rechtsanwältin Anjuman Ara Begum, die früher Programmleiterin bei der Asiatischen Menschenrechtskommission war. "Unser Rechtssystem negiert die Möglichkeit oder die Gewissheit, dass Gewalt gegen Frauen bestraft wird."


Scheingerichte von Rebellen verhängen Strafen

Angesichts der geringen Verurteilungsraten übernehmen mittlerweile bewaffnete Gruppen die Rolle von Richtern. Im Oktober 2011 entschied ein Scheingericht bewaffneter Maoisten im ostindischen Bundesstaat Jharkhand, dass einem der Vergewaltigung bezichtigten Mann die Hände abgehackt wurden. Im August vergangenen Jahres führte die Kommunistische Partei Kangleipak (KPC) im nordostindischen Bundesstaat Manipur eine Taskforce gegen Vergewaltiger ein. KPC-Sekretär Sanakhomba Meitei erklärte, die Gruppe werde Vergewaltigungsopfern rasch Gerechtigkeit widerfahren lassen. "Unsere Intervention wird die Vergewaltiger in Angst versetzen", sagte Meitei. "Wir werden strenge Strafen verhängen."

A. L. Sharada, Direktorin der Organisation 'Population First', die Partner des Weltbevölkerungsfonds UNFPA in Indien ist, spricht von einer "besorgniserregenden Entwicklung", die auf das Versagen des Rechtssystems in den Konfliktgebieten zurückzuführen sei. "Wir brauchen ein robustes Rechtssystem, das durch Selbstjustiz verhindert wird. Letztere ist oft patriarchalischen Ursprungs und richtet sich damit gegen Frauen", so Sharada. "Wir brauchen rasche Urteile bei jedem Fall von geschlechtsspezifischer Gewalt."

Laut NCRB wurden allein 2013 mehr als 50.000 Frauen in Indien verschleppt. Über 8.000 Inderinnen wurden im Zusammenhang mit Streitigkeiten über die Mitgift getötet. Rund 100.000 Frauen wurden zudem von ihren Männern oder männlichen Verwandten misshandelt. Nur 16 Prozent der Beschuldigten wurden verurteilt. (Ende/IPS/ck/2014)


Link:

http://www.ipsnews.net/2014/09/lack-of-accountability-fuels-gender-based-violence-in-india/

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IPS-Tagesdienst vom 2. Oktober 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Oktober 2014