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FRAUEN/710: Bolivien - Barrios Libres de Violencia, ein Stadtteilprojekt gegen Gewalt an Frauen (frauen*solidarität)


frauen*solidarität - Nr. 142, 4/17

"Man kann Gewalt nicht mit Gewalt bekämpfen"
Barrios Libres de Violencia - ein Stadtteilprojekt gegen Gewalt an Frauen

Von Denise Notter


Trotz des neuen Gewaltschutzgesetzes von 2013(1) sind die Gewaltraten gegen Frauen in ganz Bolivien unvermindert hoch: 2016 musste die Spezialeinheit der Polizei zur Bekämpfung von Gewalt allein im Departement Cochabamba mit ca. 1,8 Mio. Einwohner_innen rund 5.700 Anzeigen entgegennehmen. Es gab 27 Femizide. In ganz Bolivien waren es im letzten Jahr offiziell 104 Frauenmorde - Dunkelziffer unbekannt. Bolivien rangiert damit gemäß dem Informationszentrum der Vereinten Nationen in Bolivien (CINU) unter den Ländern mit den höchsten Frauenmordraten in ganz Lateinamerika.


Ein Stadtteil an der Peripherie Cochabambas

Wir sitzen im Minibus Nr. 135 Banderita Verde nach Villa Israel. Das grüne Fähnchen an der Antenne zeigt an, dass wir gleich weiter bis in "unseren" Stadtteil, den Barrio 21 de Septiembre, fahren können. Es geht immer südwärts, fast eine Stunde lang. Die südliche Peripherie Cochabambas ist nach der Überquerung eines ausgetrockneten Flussbettes nur über eine holprige gepflasterte Allee zu erreichen. Von dieser ist allerdings nicht mehr viel übrig: Es liegen fast nur noch riesige Baumstümpfe mit in die Luft ragenden Wurzeln am Straßenrand. Vor 20 Jahren noch fuhr man hier durch eine echte Allee und an fruchtbaren Feldern vorbei. Doch die frühere Kornkammer der Nation ist heute, nach einem enormen Wachstumsschub, völlig zersiedelt, der fruchtbare Boden zerstört.

Nach der Brücke beginnt eine andere Welt. Hier sind die Siedlungen meistens ungeplant und nicht legalisiert. Spekulant_innen verkaufen völlig unkontrolliert Grundstücke, die ihnen gar nicht gehören. Und wer kaufen will, fragt in der Regel nicht nach offiziellen Papieren. Die Staubpisten wurden von den Bewohnern und Bewohnerinnen selbst in mühsamer Kollektivarbeit gepflastert. Nur Strom steht zur Verfügung. Das Trinkwasser muss in Tankwagen in die entlegenen Stadtteile transportiert werden und kostet mindestens das Doppelte vom üblichen Preis. Das Leben ist entsprechend beschwerlich und ärmlich.

Hier leben die Menschen aus den ländlichen Gebieten Boliviens, die in der Stadt eine bessere Zukunft suchen, weil sie von der Landwirtschaft oder der Minenarbeit nicht mehr leben können. Trockenheit, Arbeitslosigkeit und Armut haben sie in die Stadt gespült. Ihre Kinder sollen es einmal besser haben, begründen die Frauen ihre Entscheidung für die Zuwanderung. Die meisten schlagen sich mit einfachen Jobs durch. Das bedeutet: wenig Geld, viel Konkurrenz. Männer gehen auf den Bau und riskieren dort ihr Leben, oder sie fahren (Sammel-)Taxi. Frauen verdingen sich als informelle Verkäuferinnen, Köchinnen oder Wäscherinnen.

Diese suburbanen Stadtteile sind darüber hinaus durch eine starke Durchmischung der Kulturen charakterisiert. Hier treffen indigene Hochlandkulturen (z. B. Aymara oder Quechua) auf indigene Tieflandkulturen (z. B. Guaraní). In den Randvierteln ist die Gewalt gegen Frauen hoch, aber bei den lokalen Autoritäten kein Thema. Genaue Daten gibt es nicht. Präventionsprogramme kommen hier nicht an, und viele Frauen kennen ihre Rechte nicht.


"Ich habe gelernt, dass ich auch Rechte habe"

Die Organisation Oficina Jurídica para la Mujer (OJM) führt genau in solch einem Stadtteil ein Projekt zur Gewaltprävention namens Barrios libres de violencia (Stadtteile frei von Gewalt) durch. Es geht darum, die Bevölkerung sowie Politik und Verwaltung für das Thema zu sensibilisieren. Seit 1984 kämpft die bolivianische NGO nun schon unter der Leitung der Anwältin, Frauenrechtlerin und Feministin Julieta Montaño Salvatierra für Frauenrechte, insbesondere das Recht von Frauen auf ein gewaltfreies Leben. Mit ihrem Engagement für Gleichberechtigung von Frauen und Männern und gegen die patriarchalen Machtstrukturen will sie ein demokratischeres Bolivien schaffen.

Zu dem Projekt öffnete uns Albertina Vilche, die damalige Präsidentindes ca. 120 Familien beherbergenden Stadtteils, die Türen. Sie selbst hatte kurz zuvor die von der OJM angebotene Ausbildung zur Frauenrechtspromoterin absolviert. So konnte die OJM insbesondere mit dem Club de Madres, dem Mütterclub, aber auch mit den politischen Autoritäten und der Nachbarschaft zusammenarbeiten und Präventionsworkshops anbieten. Cecilia Cossio von OJM behandelte in diesen Workshops Themen wie Frauenrechte, Gewalttypen und das Gewaltschutzgesetz. Sie erklärte auch das Konzept von sex/gender und bezog gewaltfreies Handeln auf Kindererziehung und Umweltschutz.

Wichtig war, dass ein Raum geschaffen wurde, in dem Frauen über Gewalt sprechen konnten. So konnte Gewalt an Frauen im Stadtteil sichtbar gemacht werden. Es wurde deutlich, dass diese Gewalt keine Normalität sein darf. Nicht selten verteidigen Frauen ihre gewalttätigen Männer: Er schlägt mich, weil er mich liebt, heißt es etwa. Die Teilnehmerin Nelly Cari Cari hingegen räumt ein: "Die Workshops haben mir sehr geholfen. Ich habe gelernt, dass ich auch Rechte habe."


"Diese Freiheit habe ich mir erkämpft"

Im Workshop ging es auch um Empowerment, um das Stärken des Selbstwertgefühls der Frauen, um die Förderung der gegenseitigen Unterstützung und das Aufbrechen der Isolation. "Am Anfang wollte mein Mann nicht, dass ich in den Mütterclub gehe. Diese Freiheit, mich mit meinen Freundinnen einmal in der Woche zu treffen und glücklich zu sein, habe ich mir erkämpft. Sonst sind wir Frauen doch die ganze Woche allein zuhause, angekettet an die Hausarbeit", berichtet Salomé Mamani, eine andere Teilnehmerin, stolz.

Zum Empowerment gehören auch Tanztherapie und Körperarbeit. Dabei stehen der Umgang mit negativen Gefühlen, Entspannung und Akzeptanz des eigenen Körpers, also Selbstliebe, im Vordergrund.

Dass die Arbeit der OJM nicht ohne Wirkung bleibt, zeigt die positive Entwicklung von Salomé: "Ich habe gelernt, mich selbst mehr wertzuschätzen, mich nicht nur als Mutter und Ehefrau zu sehen, sondern als Frau. Ich habe mich sehr verändert. Früher war ich sehr schüchtern: Wenn mich jemand ansprach, begann ich zu weinen. Jetzt habe ich keine Angst mehr, in der Öffentlichkeit zu sprechen."


"Wir Frauen suchen Gerechtigkeit, nicht Rache"

Zum Projekt gehört auch ein buntes Wandbild an der Schulmauer, das jedem_r, der_die in den Stadtteil kommt, sofort ins Auge fällt. "Man kann Gewalt nicht mit Gewalt bekämpfen", sind meine Kolleginnen von der Oficina Jurídica para la Mujer überzeugt.


ANMERKUNG:
(1) "Ley integral para garantizar a las mujeres una vida libre de violencia" - integriertes Gesetz, das den Frauen ein Leben frei von Gewalt garantiert.

ZUR AUTORIN:
Denise Notter ist Soziologin und arbeitet für die Schweizer Organisation für Entwicklungszusammenarbeit INTERTEAM im Rechtshilfebüro für Frauen, der Oficina Jurídica para la Mujer (www.ojmbolivia.org) in Cochabamba, Bolivien.

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Quelle:
frauen*solidarität Nr. 142, 4/2017, S. 26-27
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - feministisch-entwicklungspolitische
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Februar 2018

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