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FRAUEN/730: Pakistan - Die Fabrik im eigenen Haus (frauen*solidarität)


frauen*solidarität - Nr. 143, 1/18

Die Fabrik im eigenen Haus

von Sophia Seawell


In Pakistan wird ein Großteil globaler Modegüter von Arbeiterinnen im eigenen Heim produziert, verborgen vor dem öffentlichen Blick und mit fatalen Konsequenzen für das Leben der Frauen. Seit Jahren kämpft Zehra Khan von der Home Based Women Workers Federation für die arbeitsrechtliche Anerkennung dieser unsichtbaren Ökonomie. Ein Einblick hinter die Kulissen globaler Wertschöpfung und den feministisch-arbeitsrechtlichen Kampf.


Das Heim als Arbeitsstätte

Unsere kollektiven Vorstellungen zur Modeindustrie sind geprägt von Bildern, die Arbeiterinnen in Fabriken zeigen. Für Millionen von Frauen Pakistans ist die Grenze zwischen ihrem Zuhause und dem Arbeitsplatz jedoch unscharf. Zwölf Millionen Arbeiter_innen verdienen sich ihren Lebensunterhalt im informellen Sektor durch Heimarbeit, der Anteil an Frauen dabei beträgt 80%.

"Unsere Heime werden auch als Fabrik genutzt", sagt Zehra Khan, die Generalsekretärin des Verbandes der Heimarbeiterinnen Home Based Women Workers Federation (HBWWF). "Viele Frauen - sowie ihre Kinder, Mütter und Schwestern - sind zu Hause beschäftigt." Das Zuhause ist der Ort, an dem sie Armreifen aus Glas fertigen, Perlen auf Gewand sticken, elektronische Geräte und Spielzeug montieren sowie Produkte verpacken und etikettieren. Sie bilden nicht nur das Fundament der nationalen Wirtschaft, sondern auch der globalen Ökonomie. Die Früchte ihrer Arbeit legen auf ihrer Reise durch globale Güterketten weite Strecken zurück, bis sie große Konzerne in Europa und Nordamerika erreichen. Dennoch stehen sie in der Wertschöpfungskette ganz weit unten.

"Heimarbeiterinnen sind das wichtigste Puzzlestück der gesamten Güterkette", erklärt Zehra Khan, "und gleichzeitig befinden sie sich in der schutzlosesten Position."


Bezahlung nach Stück

Weil es sich bei den Arbeiterinnen jedoch um Frauen handelt, welche die Arbeit zu Hause und damit außerhalb der Öffentlichkeit betreiben, werden ihre Beiträge nicht nur unterbewertet, ihnen werden sogar ihre Rechte als Arbeiterinnen verweigert. Genau genommen, werden sie von vornherein gar nicht erst als Arbeiterinnen nach dem Gesetz anerkannt. Von diesem Mangel an Regulation profitieren die Industrien, indem sie die Arbeiterinnen beispielsweise nach produzierter Stückzahl statt nach Stundenlohn bezahlen. Arbeitskräfte verdienen lediglich bis zu 4.300 Pakistanische Rupien pro Monat (ca. 35 Euro). Das bedeutet, dass Millionen an Heimarbeiterinnen weniger als die Hälfte des Mindestlohns bezahlt bekommen. Die Unterbezahlung zwingt sie dazu, immer mehr immer schneller produzieren zu müssen. Die Frauen lassen Mahlzeiten aus, legen sechs Tage am Stück 12-Stunden-Schichten ein und rekrutieren Familienmitglieder - all dies, um gerade so über die Runden zu kommen. Diese strapaziösen Arbeitsbedingungen führen oft zu Gesundheitsproblemen, für deren Behandlung sowohl die Zeit als auch das Geld fehlt.


Gewerkschaften als Motor der Veränderung

Als Studentin mit Eltern aus der Arbeiter_innenklasse begann Zehra Khan zu diesen Arbeitsbedingungen zu recherchieren. Sie sprach mit Heimarbeiterinnen in der Region Sindh, in der fünf Millionen Frauen von zu Hause aus arbeiten. Ihre Forschung zeichnete ein umfassendes Bild der Ungerechtigkeiten und ermöglichte ihr, sich mit Ideen auseinanderzusetzen, wie diese angesprochen und überwunden werden können. 2005 begannen Zehra Khan und vier Heimarbeiterinnen mit den Frauen in ihrer Region in Kontakt zu treten, um sie in Arbeitsgruppen über ihre Rechte zu informieren: "Wir dachten, wir müssen die Frauen organisieren"; so Zehra Khan.

2009 wurde schließlich der Verband HBWWF gegründet. Das war ein bahnbrechender Schritt. Der HBWWF wurde die erste Gewerkschaft der Heimarbeiterinnen Pakistans, und das war und ist nicht ungefährlich: Besonders im informellen Sektor kann die gewerkschaftliche Organisierung eine Heimarbeiterin den Job kosten. Dazu kommt, dass feministische Aktivistinnen einen schlechten Ruf haben.

"Als ich anfing, mich mit den Heimarbeiterinnen zu beschäftigen, war es anfangs sehr schwierig. Die Gesellschaft nutzt Traditionen, patriarchalische Normen, Werte und Religionen, um Frauen daran zu hindern, sich zu organisieren. Ihre Familien meinten, wir würden Propaganda für den Westen betreiben, und untersagten Frauen, mit "Outsidern" zu reden", so Zehra Khan.


Feministischer Aktivismus lebt

Aber die Wagnisse zahlten sich aus: Nach einem Jahrzehnt Lobbyarbeit verabschiedete die Regierung von Sindh ein von HBWWF entworfenes und vorgeschlagenes Gesetz. Diese neue Richtlinie gewährt Millionen von Heimarbeiter_innen ihre Rechte auf Tarifverhandlungen, Sozialversicherung, Pensionszahlungen, Mindestlohn und den Zugang zu Arbeitsgerichten für Konfliktlösungen.

Dieses Gesetz ist nicht nur das erste seiner Art in Pakistan, sondern in ganz Südostasien. Es bedeutet für Millionen von Frauen eine Steigerung ihrer finanziellen Flexibilität und Selbstständigkeit sowie ein größeres Ausmaß an Kontrolle über ihr Leben insgesamt. "Ich bin stolz darauf, dass wir Heimarbeit nicht nur als genderspezifisches Problem, sondern auch als arbeitsrechtliches Thema zur Sprache gebracht haben", sagt Zehra Khan.

Sie selbst ist inzwischen zu einer Ikone des feministischen und arbeitsrechtlichen Kampfes in Pakistan geworden. Als Vorsitzende in der männerdominierten Sphäre der Gewerkschaften fordert sie geschlechtsspezifische Rollenvorstellungen täglich heraus - und das "fühlt sich gut an", wie sie sagt. "Inzwischen kommen männliche Kollegen aus ähnlichen Sektoren zu mir. Sie sind sehr interessiert, fragen nach Ratschlägen und wollen sich mit uns verbünden. Mittlerweile führen wir auch gendersensible Trainings mit männlichen Arbeitern aus dem informellen Sektor durch."


Nächste Schritte

Inzwischen repräsentiert HBWWF 4.500 Frauen in der Textil-, Schuh- und Modeschmuckindustrie. Obwohl die Verabschiedung des Gesetzes ein wichtiges Anliegen erfüllte, werden die Aktivistinnen nicht so bald leiser werden. Die Gruppe möchte mehr Kooperativen gründen und damit zusätzliche Einkommensmöglichkeiten für Mitglieder schaffen, Weiterbildungsmöglichkeiten anbieten und weiter Gewerkschaften von Heimarbeiterinnen stärken. Aber zunächst muss sich das neue Gesetz im Alltag erst beweisen und die Regierung mit der Umsetzung starten.

Am 20. Oktober, dem Südasiatischen Tag der Heimarbeit, hielt das HBWWF eine Kundgebung ab und appellierte an die Regierung, ihr Wort zu halten. Was sie sicherlich auch tun wird, denn Zehra Khan und das HBWWF sind unermüdlich und geben nicht auf.


ANMERKUNG:
Dieser Artikel erschien erstmals auf Englisch auf der Website von Mama Cash
(https://www.mamacash.org/en/the-factory-in-their-home-why-workers-rights-are-women-s-rights).
Mama Cash wurde 1983 gegründet und ist weltweit die erste feministische Förderorganisation, die Frauen, Mädchen, Trans- und Intersex-Personen beim Kampf für ihre Rechte unterstützt.


ZUR AUTORIN:
Sophia Seawell lebt in Amsterdam und ist Communications Associate bei Mama Cash. Sie absolvierte das Masterstudium Gender and Ethnicity an der Utrecht Universität. Darüber hinaus ist sie freiberufliche Journalistin mit den Schwerpunkten kritische Weißseinseinsforschung, Diversität und Intersektionalität.
www.sophiaseawell.com

Übersetzung aus dem Englischen und redaktionelle Bearbeitung: Maria Knaub

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Quelle:
Frauen*solidarität Nr. 143, 1/2018, S. 14-15
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - feministisch-entwicklungspolitische
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Mai 2018

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