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FRAUEN/772: Was heißt Frauenrechte auf Georgisch und Armenisch? (frauen*solidarität)


frauen*solidarität - Nr. 145, 3/18

Was heißt Frauenrechte auf Georgisch und Armenisch?
Politische Partizipation von Frauen in den Südkaukasus-Ländern Georgien und Armenien

von Gundi Dick


Frauenrechtsaktivistinnen kämpfen in den postsowjetischen Ländern Georgien und Armenien an mehreren Fronten. Die jungen Staaten bauen ihr System grundlegend um und streben seit knapp drei Jahrzehnten die Schaffung von demokratischen und marktwirtschaftlichen Strukturen an. Trotz Annäherung an den Westen gelten Genderkonzepte und Feminismus als importierte Fremdkörper. Tief verwurzelte patriarchale Strukturen werden von der Mehrheit der Bevölkerung als ihre Kultur akzeptiert.


Im Jahr 1991 erklärten sich Georgien und Armenien als unabhängige Staaten. Zuvor waren sie 70 Jahre lang Teil der Sowjetunion gewesen. Beide Staaten sind flächenmäßig klein, und ihre Bevölkerung zählt 3,7 Mio. bzw. 2,9 Mio. Menschen. Mit den Unabhängigkeitsbestrebungen mehrerer Teilrepubliken und dem Auflösungsprozess der Sowjetunion brach die Wirtschaft zusammen, und Georgien und Armenien haben bis heute das Niveau sowjetischer Zeiten nicht erreicht. Mit dem Kommunismus und der Planwirtschaft wollte die Mehrheit der Bevölkerung nichts mehr zu tun haben. Politisch standen die Staaten vor der Herausforderung, ein demokratisches, marktwirtschaftliches System aufzubauen.


Das Neue liegt im Westen

Georgien gab unmittelbar nach der Unabhängigkeit ein klares Bekenntnis zum Westen ab. Russland wurde zum Feind - es unterstützte die Unabhängigkeitsbestrebungen der georgischen Gebiete Abchasien und Südossetien. EU und USA und ihre Institutionen standen bereit, den Prozess der Staatsbildung und den Demokratieaufbau nach westlichen Vorstellungen zu unterstützen. In den vergangenen 27 Jahren floss Geld, wurden Kredite gewährt, wurde beraten und Knowhow transferiert. Armenien hingegen war bemüht, mit dem Westen gute Beziehungen aufzubauen und gleichzeitig die historischen Beziehungen mit Russland aufrechtzuerhalten.


Die Zivilgesellschaft ist weiblich

Frauen waren ab der ersten Stunde politisch, sozial und ökonomisch treibende Kraft. Sowohl in Georgien als auch in Armenien wurden nach der Unabhängigkeit der Aufbau der Zivilgesellschaft und die Thematisierung von Gender- und Menschenrechtsfragen in Angriff genommen. Die Gründung von NGOs wurde von westlichen Donoren kräftig unterstützt. Zusätzlich zur finanziellen Unterstützung waren die NGOs auch an westlichen Modellen interessiert, hatte doch der Westen den Ruf, die Frauenfrage weitgehend gelöst zu haben. Diese Einschätzung hat sich zwischenzeitlich geändert, mittlerweile ist bekannt, dass Frauen im Westen weniger als Männer verdienen, dass es Frauenhäuser gibt und das Parlament zu drei Vierteln von Männern besetzt ist. So wie Frauen von Anbeginn die Möglichkeit ergriffen, sich zu organisieren, stellten sie sich rascher auf die neue ökonomische Situation ein. Die Wirtschaft war zusammengebrochen, es mangelte jahrelang an nötigem Strom, Wasser und Gas, die Menschen mussten lange vor den Geschäften Schlange stehen, um Brot und andere alltägliche Lebensmittel zu kaufen - Armut wurde plötzlich ein lebensbedrohliches Phänomen. In dieser Zeit begannen Frauen nach Einkommensquellen zu suchen und nahmen Arbeiten an, die Männer ablehnten. Sie fingen an, Handel zu treiben, sich Computer- und Sprachkenntnisse anzueignen, und sie migrierten ins Ausland, um dort Arbeit zu finden. Frauen waren flexibler, suchten nach Lösungen und sorgten maßgeblich für das Überleben ihrer Familien.


Politische Partizipation in postsowjetischen Gesellschaften

Unter welchen Rahmenbedingungen findet politische Partizipation von Frauen statt? Welche spezifischen Parameter sind für Gender- und Menschenrechtsaktivistinnen, die die Gesellschaft in Richtung Gleichberechtigung verändern wollen, relevant? Wie hat sich die politische Beteiligung seit der Unabhängigkeit verändert? Knüpft die politische Arbeit von Frauen an Praxen während des sowjetischen Regimes an? Emanzipation war in der sowjetischen Politik ein Thema, u. a. vermittelt durch den Versuch der gleichberechtigten Beteiligung von Frauen im Arbeitsprozess und der Vergesellschaftung von reproduktiver Arbeit, wie Haushaltsarbeit und Kinderbetreuung. Frauen sollten, nicht zuletzt in Abgrenzung zum Westen, einen besseren gesellschaftlichen Status haben, es sollte aber auch schlicht ihre Arbeitskraft genutzt werden. Die Praxis kam an die emanzipatorische Theorie nicht heran, auch in der Sowjetunion waren Frauen mit Doppelbelastung und Diskriminierung im Erwerbsleben konfrontiert. In einem Konglomerat aus Emanzipation und Instrumentalisierung wurde ihre Beteiligung an sozialen und politischen Prozessen unterschiedlich über die Zeiten gefördert. Auch wenn die meisten georgischen Aktivistinnen das Jahr 1991 als Tabula rasa begreifen und die 70-jährige kommunistische Ära als eine Epoche der Besetzung betrachten - so ein verbreitetes georgisches Narrativ - bauen sie auf Traditionen auf, in denen Ausbildung, Beruf und Erwerbstätigkeit von Frauen "normal" war.


Zu viele Mythen, die Frauen aus der Politik ausschließen

Die starke Präsenz im zivilgesellschaftlichen Sektor und in der ökonomischen Alltagsversorgung schlug sich nicht auf die Präsenz im Parlament nieder. In Georgien lag 1995 der Frauenanteil im Parlament bei 7%. Ein ähnliches Bild bot die darauffolgende Parlamentswahl im Jahr 1999: Trotz Rosenrevolution - dem friedlichen Regimewechsel im Jahr 2003 und in der Folge stärkeren Hinwendung zum Westen unter Michail Saakaschwili - stieg bis 2008 der Frauenanteil auf nur 10%. 2008, nachdem die Parlamentssitze drastisch reduziert worden waren, fiel der Frauenanteil auf 6%. 2012 verdoppelte sich der Anteil auf knapp 12% - auf konkret 18 Frauen im Parlament. Aktuell sind 16% (23 Frauen) der georgischen Abgeordneten weiblich.

Warum sind Frauen in der Politik weniger präsent? Die georgische NGO Sapari veröffentliche 2017 die Studie Women in the Parties: Deconstructing Myths(1). Weibliche und männliche Mitglieder der drei großen Parlamentsparteien wurden befragt: Frauen sollten sich nicht mit schmutziger Politik befassen, Politikerinnen könnten ihren Mutter- und Familienpflichten nicht nachkommen, Frauen seien nicht so kompetent, Frauen seien nicht männlich genug etc. Die Forscher_innen identifizierten 26 Mythen, entlarvten und entkräfteten sie. Sie hielten entgegen: Würden Frauen in den Parteien wichtige Funktionen einnehmen, dann würde die Inkompetenz der Männer sichtbar werden.

Viele Aktivistinnen sind überzeugt, dass es die kritische Zahl von 25% braucht, und fordern seit längerem eine Genderquote, um den Frauenanteil in Parteien, im Parlament und in der Regierung zu heben. Die Diskussion verläuft zwischen den Positionen "Hier würde Frauen etwas geschenkt werden, weil sie Frauen sind" und der Meinung "Quoten sind kein Geschenk, sondern werden erkämpft und ermöglichen den Zugang zur Politik, den Männer freiwillig nicht aufmachen würden". Als Meilenstein wird in Georgien die Gesetzesänderung zum Gendergleichheitsgesetz betrachtet: Seit 2017 sind lokale Regierungen, also Gemeinden, verpflichtet, Komitees für Gendergleichheit einzurichten. Diese Komitees haben nach Meinung von Feministinnen das Potential, Politik auf lokaler Ebene bzw. von unten zu verändern und Interessen und Bedürfnisse von Frauen in die Politik des Mainstream einzubringen. Ein Schönheitsfehler ist, dass für die Gendergleichheitskomitees keine Finanzmittel zur Verfügung gestellt werden und es im Fall von Nichterfüllung der Verpflichtung keine Sanktionen gibt.


Armenien - eine Revolution der Liebe und Solidarität

Während Georgien mit den Mühen der Ebene kämpft und Frauenrechtsaktivistinnen Veränderungen in kleinen Schritten durchsetzen, vollzog sich in Armenien unerwartet und plötzlich eine dramatische Veränderung. Menschen starteten am 30. März 2018 in Gyumri den Protestmarsch "Mein Schritt" und forderten den Rücktritt des Langzeitpräsidenten Sersch Sargsjan. Dieser hatte sich kurz davor zum Premierminister wählen lassen und damit vorsorglich alle Macht vom Präsidialamt zum Premierminister im Parlament übertragen lassen. Der Protest erreichte Eriwan am 13. April, wurde stärker und stärker und führte am 23. April zum Rücktritt Sargsjans. Der überließ dem Anführer der Protestbewegung, Nikol Pashinjan, die Macht. Am 8. Mai wurde Nikol Paschinjan - langjähriger Abgeordneter des Bündnisses "Ausweg" und oppositioneller Aktivist - vom Parlament zum Premierminister gewählt. Die Menschen hatten die Korruption, die oligarchen und mafiösen Strukturen der führenden Republikanischen Partei, die Bereicherung der Präsidentenfamilie und seines Umfelds, die autoritären Strukturen, die gefälschten Wahlen, die Einschränkungen demokratischer Freiheiten, die niedergeschlagenen Proteste der Vergangenheit, die Armut, mit der ein Drittel der Bevölkerung kämpft, u. v. m. satt.


Protest der Zivilgesellschaft: dezentral und gewaltfrei

"Der Umsturz wäre ohne Frauen nicht möglich gewesen", sagt Nikol Paschinjan im Parlament, nachdem er zum Premierminister gewählt wurde: "Wir müssen gleiche Möglichkeiten schaffen, damit Frauen an politischen Entscheidungen in diesem neuen Armenien teilhaben." Die starke Beteiligung von Frauen an diesem Protest erfuhr öffentliche Anerkennung. So ein Satz war nie zuvor von einem ranghohen Politiker zu hören gewesen. Doch auf diese Wertschätzung folgten keine Taten: Nur zwei Frauen sind im neuen Kabinett vertreten. Was hat zum Erfolg dieser Revolution geführt? Die Feministin Anna Arutshyan von der armenischen Organisation Society Without Violence beschreibt einige Faktoren(2). Entscheidend war der zivile und dezentrale Ungehorsam unterschiedlichster Menschen. Sie organisierten sich und folgten dem Grundsatz der Gewaltfreiheit. Ihre Proteste waren kreativ und inklusiv. Plötzlich standen Nationalist_innen und Anarchist_innen, Lesben und Homophobe Seite an Seite und marschierten für ein gemeinsames Ziel. Dieser Protest entstand nicht von heute auf morgen. Dem ging ein tiefgreifender Politisierungsprozess der Zivilgesellschaft voraus, der trotz politischer Repression in den vergangenen 15 Jahren stattfand. Es hatten sich Gruppen und Netzwerke zu Themen wie soziale Ungleichheit, Geschlechterfragen, Antimilitarismus, Stadtentwicklung, Menschenrechte und Ökologie gebildet - und damit auch eine solide Widerstandsbasis. Und obwohl diese Menschen beschimpft wurden, sie würden mit ihren vom Westen importierten Ideen die armenische Kultur und Familie zerstören, traten sie über die Jahre beharrlich gegen die Regierungspropaganda auf. Erwähnt werden müssen auch die Jungen, die Studierenden, jene Generation, die nach der Unabhängigkeit geboren ist und an ihre Kraft glaubt und ihre eigenen Formen des Protestes entwickelt. Plötzlich erwachten die Menschen aus ihrer Unbeteiligtheit und wurden zu Bürger_innen, die ihre Rechte kennen und Verantwortung für das Gemeinsame wahrnehmen. Anna Artshyan ist überzeugt: "Wie immer die nächste Regierung aussieht, sie wird die Macht der Bevölkerung anerkennen, ihr Rechenschaft abliefern und den Menschen dienen müssen. Wenn nicht, dann werden wir wieder gegen die Tyrannei rebellieren."


Anmerkungen:
(1) Giorgi Urchukhishvili / Union Sapari: Women in the Parties: Deconstructing Myths (Tbilisi 2017)
(2) Anna Arutshyan: The winning recipe of Revolution "Love and Solidarity": Armenian style (2018)

Lesetipps:
Maia Barkaia, Alisse Waterston: Gender in Georgia. Feminist Perspectives on Culture, Nation, and History in the South Caucasus (Berghahn 2018)
Nino Lejava, Thomas Rabensteiner: Armeniens samtene Revolution: Wie geht es nun weiter? (15. Juni 2018)
https://www.boell.de/de/2018/06/15/armeniens-samtene-revolution-wie-geht-es-nun-weiter

Zur Autorin:
Gundi Dick arbeitete zwei Jahre als Beraterin für Fundraising und Organisationsentwicklung bei Frauenorganisationen in Westgeorgien.

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Quelle:
Frauen*solidarität Nr. 145, 3/2018, S. 26-28
Text: © 2018 by Frauensolidarität / Gundi Dick
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - feministisch-entwicklungspolitische
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Februar 2019

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