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FRAUEN/848: 30 Jahre nach dem Tian'anmen-Massaker - Warum die Erinnerung noch immer Frauensache ist (Frauen*solidarität)


frauen*solidarität - Nr. 148, 2/19

30 Jahre nach dem Tian'anmen-Massaker

Warum die Erinnerung noch immer Frauensache ist

von Astrid Lipinsky


Am 3. und 4. Juni 1989 "bekämpften" Soldaten der chinesischen "Volksbefreiungsarmee" mit Panzern ihr (unbewaffnetes) Volk. Nicht nur auf Pekings Straßen, sondern in vielen Städten wie in Nanjing oder Shanghai starben Menschen. Ihre Zahl ist bis heute unbekannt, und die Erinnerung an sie tabu. Das offizielle China spricht von "einzelnen Protestierenden". Doch allein für Peking haben die Mütter des Tian'anmen 220 Personen - ihre Kinder - namentlich und mit Todesort identifiziert und auf einer Karte markiert. Aber weil niemand vom Massaker sprechen und es beforschen darf, tauchen regelmäßig Zahlen zwischen 500 und mehreren tausend Toten - allein in Peking - in den Schlagzeilen auf. Dass noch heute daran erinnert wird, ist vor allem Frauen - innerhalb und außerhalb Chinas - zu verdanken.

Am 15. April 1989 starb mit Hu Yaobang ein Vertreter der Reformwilligen und der Jugend Zugewandten in der regierenden Kommunistischen Partei. Sein Tod löste wochenlange Massendemonstrationen aus - zuerst für mehr Reformen in der Partei, später gegen die Parteikorruption und für Demokratie. Die Protestierenden, bald nicht allein Studierende, hatten den Tian'anmen-Platz zum Zentrum der Kundgebungen erkoren - einen Ort in Sichtweite der Regierungsgebäude. Zunächst kamen Tausende (ab 15. April), später Hunderttausende (ab 27. April), und im Mai waren es sogar über eine Million Menschen, die sich versammelten.

Mit der Aufstellung der Statue der "Göttin der Demokratie" am 29. Mai - in Anlehnung an die Freiheitsstatue von New York - bekamen die Bewegung und der Platz auch ein weibliches Gesicht. Von der Göttin der Demokratie ausgehend, können wir nun 30 Jahre später an das weibliche Gesicht des Massakers erinnern.

Die Anführerin der Student_innen: Chai Ling

Chai Ling (geb. 1966) schloss sich am 12. Mai 1989 dem Hungerstreik der protestierenden Student_innen auf dem Tian'anmen-Platz an und wurde in der Folge zur wichtigen Leitfigur und zum Sprachrohr der Bewegung. Am 13. Mai war sie Teil der Studierendengruppe, die Regierungsvertreter traf und ihre Forderungen vorlegte. Sie wurde am 23. Mai zur Führerin der Defend Tian'anmen Square Headquarters gewählt, einer neu gegründeten Dachorganisation für die verschiedenen Studierendenverbände und Splittergruppen.

Chai Ling befürwortete Ende Mai zuerst die Räumung des Platzes, plädierte jedoch kurze Zeit später für die Fortdauer der Besetzung. Sie erwartete und befürwortete ein blutiges Ende, denn nur so würden die Protestierenden die Unterstützung der Mehrheit der chinesischen Bevölkerung gewinnen. Chai Ling floh am 3. Juni gerade noch rechtzeitig mit dem Zug aus Peking und versteckte sich an unterschiedlichen Orten im Land bis zu ihrer Flucht nach Hongkong und später in die USA.

Auf der am 13. Juni veröffentlichten Verhaftungsliste der chinesischen Regierung fanden sich die Namen der 21 meistgesuchten Student_innen - angeordnet nach ihrer Wichtigkeit. Chai Ling war an vierter Stelle gereiht und damit als erste Frau genannt. Eine weitere Aktivistin auf der Liste war Wang Chaohua, die ebenfalls in die USA entkam.

Im Einsatz gegen das Vergessen

1990 wurde Chai Ling für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen, den am Ende dann doch Michail Gorbatschow bekam. Chai Ling erhielt mit Unterstützung einer amerikanischen NGO eine Einladung an die Princeton University, wo sie bis 1993 Politikwissenschaften und Internationale Beziehungen studierte. Sie spricht seitdem bei Erinnerungsveranstaltungen zum Tian'anmen-Massaker in den USA und wurde bereits achtmal als Expertin für Menschenrechte in China vor dem US-Kongress gehört.

Chai Ling, die 2001 einen US-Amerikaner geheiratet hat, drei Töchter hat und zum Christentum konvertiert ist, schreibt in ihrer Autobiografie A Heart for Freedom. The Remarkable Journey of a Young Dissident, Her Daring Escape, and Her Quest to Free China's Daughters (2011) über ihre Flucht, aber auch wie sie aktuell für Frauen- und Mädchenrechte in China eintritt. 2015 gehörte sie zu den Mitgründerinnen von All Girls Allowed (http://allgirlsallowed.org), einer ausdrücklich christlichen NGO, die sich gegen Chinas Ein-Kind-Politik (1980-2015) richtet, der vor allem Mädchen zum Opfer fielen. Forschungen gehen davon aus, dass durch Kindstötungen, Vernachlässigung oder geschlechtsspezifische Abtreibung in China heute um etwa 30 bis 40 Millionen Mädchen/Frauen weniger leben.

Zum 27. Jahrestag des Massakers, am 4. Juni 2016, publizierte Chai Ling einen offenen Brief an die Familien der Opfer und an "my people in China". Der Brief verlieh ihrer Frustration Ausdruck angesichts der mangelnden Veränderungen in China. Wie auch anderen Dissident_innen bleibt ihr bis heute die Einreise nach China verwehrt.

Die Mütter des Tian'anmen

Im September 1989, also noch vor dem ersten Jahrestag des Massakers, gründete Ding Zilin (geb. 1936) die Gruppe "Mütter des Tian'anmen". Ding verlor durch das Massaker ihren 17-jährigen Sohn und damit ihr einziges Kind. Bei den "Müttern" schlossen sich 150 betroffene Pekinger Familien zusammen. Seit 1995 fordern sie jährlich in einem Brief an die Regierung und die beiden Volkskongresse die Aufklärung der Ereignisse von 1989, eine Entschuldigung und eine Entschädigung. Sie wollen auch die Namen der Täter erfahren und haben 1999 vor dem 10. Jahrestag des Massakers vor der Obersten Staatsanwaltschaft Anklage gegen Li Peng, einen der damaligen Hauptverantwortlichen, erhoben. Die Anklage wurde entgegengenommen. Eine Antwort gab es nie.

Die chinesische Regierung bedient sich der Totschweigemethode - ähnlich der japanischen Regierung in Bezug auf die Massenvergewaltigungen der sogenannten Trostfrauen im Zweiten Weltkrieg durch die eigene Armee. In Japan wartet man darauf, dass die letzte Überlebende mit ihrer Forderung nach einer offiziellen Entschuldigung stirbt. Die chinesische Regierung wartet gleichermaßen, dass die letzten Nachkommen der Toten des Massakers sterben. Dennoch fürchtet die Regierung sie und reagiert mit Verhaftungen, Telefonabhörungen und 24-Stunden-Überwachungen.

1991 wurde Ding die Recherche und innerstaatliche Publikation verboten, ihre Parteimitgliedschaft wurde aufgehoben, und sie wurde zwangspensioniert. Immer wieder wurde sie unter fadenscheinigen Gründen für mehrere Wochen inhaftiert und - anlässlich der Olympischen Spiele in Peking - sogar aus der Stadt verbannt.

Internationale Unterstützung

Trotz des Schweigegebots der chinesischen Regierung machte internationale politische, insbesondere Hongkonger Unterstützung die "Mütter" weltweit bekannt. Unter den Unterstützer_innen sind viele Frauen. So hat Nancy Pelosi, damals einfache US-Kongressabgeordnete, bereits 1991 auf dem Tian'anmen-Platz ein Banner mit der Aufschrift "To Those Who Died for Democracy in China" entrollt. Spätestens seitdem wird der Platz weitgehend abgeriegelt, vor allem rund um den 4. Juni.

Vor den "Müttern" - und überhaupt vor alten Frauen - hat die chinesische Regierung panische Angst. Doch sie werden nicht aussterben: Die Säuglinge und Kleinkinder der Toten des Tian'anmen-Massakers wurden von den "Müttern" mit finanzieller Hilfe aus dem Ausland liebevoll aufgezogen. Sie werden die Erinnerung wachhalten, gemeinsam mit den zahlreichen - vor allem jungen - Menschen, die an der jährlichen Hongkonger Totenwache am 4. Juni teilnehmen.


Zur Autorin: Astrid Lipinsky lehrt am Institut für Ostasienwissenschaften der Universität Wien und leitet seit 2009 das dortige Wiener Zentrum für Taiwanstudien. Ihre Texte finden sich auf ihrer Homepage:
www.sinojus-feminae.eu

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Quelle:
Frauen*solidarität Nr. 148, 2/2019, S. 26-27
Text: © 2019 by Frauensolidarität / Astrid Lipinsky
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - feministisch-entwicklungspolitische
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Juni 2020

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