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INTERNATIONAL/091: Haiti - Wiederaufbauhilfe läuft an Regierung vorbei (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 21. Mai 2012

Haiti: Wiederaufbauhilfe läuft an Regierung vorbei - Geber und internationale Hilfsorganisationen in der Kritik

von Carey L. Biron



Washington, 21. Mai (IPS) - Mehr als zwei Jahre nach dem Erdbeben im Januar 2010 werden die sozialen Grunddienste in Haiti noch zu 80 Prozent von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und privaten Vertragsfirmen erbracht. Die Präsenz der vorwiegend internationalen Akteure habe eine "Parallelstaatsstruktur" geschaffen, die mächtiger als die Regierung sei, warnt das Entwicklungsforschungsinstitut 'Center for Global Development' (CGD) in Washington.

Wie aus einem neuen CGD-Bericht hervorgeht, haben "diese Organisationen zwar eine alternative Infrastruktur zur Bereitstellung sozialer Dienste geschaffen". Dennoch würden sie von der haitianischen Regierung und der Bevölkerung nicht als verantwortungsvolle Partner betrachtet, schreiben die Autorinnen Vijaya Ramachandran und Julie Walz.

Von dem Erdbeben der Stärke sieben und den Nachbeben, deren Epizentrum nur 25 Kilometer von der Hauptstadt Port-au-Prince entfernt lag, waren etwa drei Millionen Menschen betroffen. Hunderttausende Gebäude wurden zerstört und die Handlungsmöglichkeiten der Regierung dadurch erheblich eingeschränkt.

In den folgenden Wochen kam es zu einer beispiellosen Lawine von Hilfsleistungen, die vor allem von US-Behörden und -unternehmen losgetreten wurde. Doch von den etwa 2,29 Milliarden US-Dollar, die 2010‍ ‍und 2011 nach Haiti geleitet wurden, erhielt die Regierung weniger als ein Prozent.


Ruf nach Budgethilfe ignoriert

Von der humanitären Hilfe der USA im Umfang von etwa 1,28 Milliarden Dollar sah Haitis Regierung gar nichts. Während der vergangenen zwei Jahre ist der Anteil für die langfristige Wiederaufbauhilfe auf lediglich ein Prozent gestiegen. Dabei hatte die haitianische Regierung immer wieder die Bedeutung von Budgethilfen betont.

"Die haitianische Regierung wird ihre Kapazitäten nicht entwickeln können, solange die Geber die staatlichen Einrichtungen zugunsten von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) umgehen", warnen Ramachandran und Walz. "Wird die haitianische Regierung weiter ignoriert, zieht sich der Wiederaufbau in die Länge und unterhöhlt den öffentlichen Sektor."

Viele Haitianer machen Koordinationsschwächen für die fehlende Nachhaltigkeit der Hilfeleistungen verantwortlich. Diese Schwächen erklären nach Ansicht des Vize-Sondergesandten der Vereinten Nationen für Haiti, Paul Farmer, auch den Unmut in der Bevölkerung, der in ganz Port-au-Prince an den Graffiti-Schriftzügen 'Nieder mit den NGOs' erkennbar sei.

Anderen Stimmen zufolge fehlen die Voraussetzungen für eine stärkere Einbindung der haitianischen Regierung. "Die internationale Gemeinschaft zu bitten, einer Regierung Geld zu geben, die noch nicht einmal damit begonnen hat, gegen Korruption anzugehen, funktioniert nicht. Das haben wir auch anderswo erlebt", meint John Norris, ein Entwicklungsexperte vom 'Center for American Progress' in Washington. Er weist darauf hin, dass sich unmittelbar nach dem Beben die Hilfslieferungen in den vom Staat kontrollierten Häfen Haitis gestapelt hätten. "Wiederholt wurden lebenswichtige Hilfsgüter so lange in den Docks von Port-au-Prince blockiert, bis sich die Regierungsbeamten ihren Anteil gesichert hatten. Dabei wussten sie, dass auf diese Weise weniger Leben gerettet werden konnten."

Nach Ansicht von Norris dürfen die Geber die Regierung jedoch nicht außen vor lassen: "Man kann Tonnen von Geld über den NGOs ausschütten, doch Entwicklung lässt sich nur durch staatlich durchgeführte, nachhaltige Reformen erreichen."


Zahlreiche NGO-Neugründungen

Die vielen Hilfsgelder haben zu einem steilen Anstieg der Zahl privater Organisationen in dem Land geführt, in dem schon vorher zahlreiche Nichtregierungsorganisationen im Einsatz waren. Kurz nach dem Erdbeben seien etwa 100 neue NGOs gegründet worden, heißt es in dem CGD-Bericht 'Haiti - Wo sind all die Gelder hin?' unter Berufung auf Daten der Vereinten Nationen.

Von den 196 von Ramachandran und Walz erfassten NGOs veröffentlichen aber nur acht regelmäßig Berichte über ihre Aktivitäten in dem karibischen Inselstaat. Der Mangel an Transparenz ist umso problematischer, als die meisten Organisationen ihren Hauptsitz nicht in Haiti haben. Die Autoren des Berichts fanden heraus, dass 51 Prozent der vor Ort aktiven Hilfsorganisationen in den USA ansässig sind.

Insbesondere die US-Entwicklungsbehörde USAID wird von Rachamandran und Walz wegen fehlender Transparenz kritisiert. Eine externe Überprüfung der Einsätze von USAID in Haiti im Jahr 2011, die in diesem April veröffentlicht wurde, stellte "einen beunruhigenden Mangel an Zahlenmaterial" fest.

"Das ist nicht nur ein Problem der NGOs - es fängt bereits bei den Gebern an", betont Karin Christiansen, die Geschäftsführerin der in London ansässigen Organisation 'Publish What You Fund'. Sie ist der Meinung, dass die US-Behörden Informationen zu den Projekten, die sie finanzieren, systematisch veröffentlichen sollten.

Ramachandran und Walz geben zum Abschluss des Berichts haitianischen und internationalen Organisationen drei Empfehlungen auf den Weg, die sich alle auf die Transparenz der Aktivitäten beziehen. Die Zusammenarbeit müsse im Einklang mit der Internationalen Geber-Transparenz-Initiative (IATI) erfolgen, hieß es. Die 2008 ins Leben gerufene Initiative hat globale Richtlinien entworfen, die von derzeit 40 Staaten anerkannt werden. (Ende/IPS/ck/2012)


Links:
http://www.cgdev.org/content/publications/detail/1426185
http://pdf.usaid.gov/pdf_docs/pdacr222.pdf
http://www.americanprogress.org/
http://www.publishwhatyoufund.org/
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=107798

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 21. Mai 2012
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Mai 2012