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INTERNATIONAL/195: Pakistan - Hitzewelle tötet die städtischen Armen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 26. Juni 2015

Pakistan: Hitzewelle tötet die städtischen Armen

Von Zofeen Ebrahim



Bild: © Zofeen T. Ebrahim/IPS

Kinder in den Armensiedlungen wie dieser Junge werden oft von ihren Familien losgeschickt, damit sie an öffentlichen Zapfstellen Wasser holen
Bild: © Zofeen T. Ebrahim/IPS

KARACHI (IPS) - In der südpakistanischen Provinz Sindh haben die hohen Temperaturen der letzten Tage mehr als 1.100 Menschen den Tod gebracht. Die meisten Opfer der schlimmsten Hitzewelle seit den 1950er Jahren verzeichnen die Armenviertel der 23 Millionen Einwohner zählenden Hafenmetropole Karachi.

Am 20. Juni wurden in der Stadt 44,8 Grad Celsius gemessen, am Tag darauf gingen die Temperaturen leicht zurück, um dann zwei Tage später auf 45 Grad in die Höhe zu schnellen. Millionen Menschen sahen sich der Gefahr eines Hitzeschlages ausgesetzt.

Auch wenn ganz Sindh die Hitzewelle zu spüren bekam, handelte es sich bei den meisten Todesopfern um die Armen Karachis. Ihnen wurde unter anderem der fehlende Zugang zu Strom zum Verhängnis. Viele von ihnen waren gesundheitlich angeschlagen und verfügten nicht über die Möglichkeit, sich vor der Sonneneinstrahlung zu schützen.

Wie Anwar Kazmi, Sprecher der Edhi-Stiftung, Pakistans größter Hilfsorganisation, berichtete, wird die Hälfte der Toten auf den Straßen aufgelesen, unter ihnen Bettler, Drogenabhängige und Tagelöhner - allesamt Menschen, die den Empfehlungen der Regierung, sich bis zum Ende der Hitzewelle möglichst in geschlossenen Räumen aufzuhalten, nicht Folge leisten konnten.


Leichenhalle und Krankenhäuser überfüllt

Zwei Tage nach Beginn der Krise war Karachis größte Leichenhalle überfüllt. Dennoch wurden jeden Tag hunderte neue Tote angeliefert. Die Edhi-Stiftung, die die Einrichtung betreibt, sah sich deshalb gezwungen, all die Hitzeopfer, nach denen sich niemand erkundigte, anonym zu bestatten. "In meiner gesamten Dienstzeit habe ich noch nie so viele Leichen in so kurzer Zeit ankommen sehen", sagte Mohammad Bilal, der Leiter der Leichenhalle.

Der pakistanischen Regierung wird vorgeworfen, die Bevölkerung nicht rechtzeitig auf die Klimakatastrophe vorbereitet zu haben, die in Karachi durch das Phänomen der 'urbanen Hitzeinseln' verschärft wurde. Einige Stadtteile leiden urbanisierungsbedingt besonders stark unter der Überhitzung, Temperaturen von 45 Grad wirken sich hier laut Klimatologen leicht aus wie 50 Grad, denn die Hitze wird festgehalten und so verwandelt sich die Stadt in einen allmählich kochenden Ofen. Die Kritik entzündete sich daran, daß Premierminister Nawaz Sharif und der Ministerpräsident von Sindh, Syed Qaim Ali Shah, relativ spät die Schließung der Schulen und Ämter angeordnet hatten.

Auch die Krankenhäuser sind mehr als ausgelastet, und das Gesundheitspersonal der Provinz bemüht sich verzweifelt um rund 40.000 geschwächte oder dehydrierte Patienten. Laut Saeed Quraishy, dem medizinischen Leiter des größten städtischen Zivil-Krankenhauses, nimmt die Klinik nur noch Notfälle auf.

Experten zufolge verdeutlicht die Tragödie, dass sich das Land dringend auf die künftigen klimabedingten Herausforderungen vorbereiten muss, denen, wie schon Dürren, Überschwemmungen und andere Wetterextreme gezeigt haben, die Armen in Massen zum Opfer fallen.

Die Krise wirft auch ein Schlaglicht auf bestehende Defizite, unter denen Pakistan leidet, wie Energieengpässe und dem Mangel an menschenwürdigen Unterkünften. Diese Probleme sind gerade in der bevölkerungsreichsten Stadt Karachi unübersehbar.

Nichtregierungsorganisationen zufolge leben und arbeiten hunderte Millionen Menschen auf den Straßen der Metropolen weltweit. In Karachi sind mehr als 62 Prozent in informellen Siedlungen mit einer Bevölkerungsdichte von fast 6.000 Menschen pro Quadratkilometer zu Hause.

Viele haben keinen Zugang zu den staatlichen Dienstleistungen wie Strom und Wasser, die in Zeiten extremer Wetteranomalien besonders wichtig sind. Sie überwinden die 'Energie-Apartheid' durch die sogenannte 'Kunda'-Methode: das illegale Anzapfen der Stromleitungen. Allein in diesem Monat hat das städtische Elektrizitätswerk 1.500 solcher Verbindungen gekappt.

Doch selbst die 46 Prozent der Haushalte, die an das Stromnetz angeschlossen sind, haben mit Stromengpässen zu kämpfen. Angesichts eines täglichen Stromdefizits von beinahe 4.000 Megawatt pro Tag sind Stromunterbrechungen von bis zu 20 Stunden täglich keine Seltenheit.


Arme schutzlos der Hitze ausgeliefert

In solchen Situationen können die wohlhabenderen Familien auf Generatoren zurückgreifen. Doch die 91 Millionen Pakistaner, die mit weniger als zwei US-Dollar pro Tag auskommen müssen, haben keinen Plan B, auf den sie zurückgreifen könnten. Das erklärt, warum so viele Menschen in diesem Monat den Kampf ums Überleben verloren haben.

Empfehlungen, lauwarm zu duschen, den körpereigenen Wasserhaushalt auszugleichen und sich möglichst in Innenräumen aufzuhalten, sind für Familien, die keine 1,25 Dollar pro Tag zum Leben haben, kaum umzusetzen. Das gilt insbesondere für die Slumbewohner, in denen sich hunderte Familien eine einzige Leitung teilen müssen. Auch für die vielen Tagelöhner ist es eine Unmöglichkeit, bis zum Abklingen der Hitze zu Hause zu bleiben. Denn nichts zu verdienen bedeutet, nichts zu essen zu haben.


Bild: © Zofeen T. Ebrahim/IPS

Auch für die vielen Tagelöhner ist es ein Ding der Unmöglichkeit, zu Hause zu bleiben, bis die Hitze abklingt: Keine Einkünfte bedeutet kein Essen
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Nach Ansicht von Tasneem Ahsan, der ehemaligen Geschäftsführerin des Medizinischen Jinnah-Postgraduiertenzentrums (JPMC), hätten unzählige Menschenleben durch ein vorzeitiges Handeln gerettet werden können. Auch habe die Regierung versäumt, den armen Familien Tankwagen zu schicken, sie mit angemessenen Kleidungsstücken und mit Informationen auszustatten. Auch den Medien wirft sie Versagen vor. Sie hätten sich vor allem darauf konzentriert, die Toten zu zählen anstatt über lebenserhaltende Maßnahmen zu berichten.

Regelmäßige Proteste im Vorfeld der Hitzewelle gegen 'K-Electric', den größten Stromversorger, hatten die Tragödie angekündigt. Obwohl das Land über eine installierte Leistung von 22.797 Megawatt verfügt, kann die aktuelle Energienachfrage von 19.000 Megawatt nicht gedeckt werden. So müssen sich viele Menschen eine einzige Stromleitung teilen oder gehen leer aus.

Die Zivilgesellschaft versucht derzeit die vielen Lücken zu schließen, die der Staat und die Medien hinterlassen haben. Tasneem Butt vom JPMC nutzt die sozialen Plattformen, um Sachspenden wie Bettlaken, Handtücher, Wasser in Flaschen und zerstoßenes Eis zu organisieren.

Und was besonders wichtig ist: Sie trommelt freiwillige Helfer zusammen. "Sie springen ein, sodass ich mich um die Beschaffung von Kühlgeräten kümmern kann", erklärte sie. "In den Notaufnahmen ist es erstickend heiß. Nicht nur die Patienten benötigen Kühlung, auch das Krankenhauspersonal braucht Kühlsysteme, um optimal arbeiten zu können."


Monsunregen im Anmarsch

In Sindh wurde ein Urlaubsverbot für Ärzte und Pfleger verhängt und Personal aus anderen Bundesstaaten nach Karachi entsandt, die den überforderten Kollegen helfen, die Flut der hitzegeschädigten Menschen zu behandeln. Um im Fastenmonat Ramadan nicht noch mehr Leben zu gefährden, wurden zudem die Fastenregeln gelockert. Mit den Monsunregen vor der Tür steht jedoch zu befürchten, dass die Zahl der Toten weiter ansteigen wird.

Auch wenn sich inzwischen ein Ende der Tragödie abzeichnet - Klimatologen wie Qamar-Uz-Zaman Chaudhry warnen, dass sich derartige Naturkatstrophen häufen werden. (Ende/IPS/kb/26.06.2015)


Link:

http://www.ipsnews.net/2015/06/heat-wave-picking-off-pakistans-urban-poor/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 29. Juni 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Juni 2015

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