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KIND/090: Alle Kinder gezielt fördern (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2013 - Nr. 101

Alle Kinder gezielt fördern

Von Thomas Olk



Die Kinder- und Jugendhilfe erreicht oft diejenigen am wenigsten, die am meisten von ihr profitieren würden. Angebote müssen deshalb besser auf die Zielgruppen abgestimmt werden. Dazu gehört auch, die Gründe zu verstehen, warum Eltern Hilfsangebote annehmen oder ausschlagen.


In den letzten zehn Jahren ist die öffentliche Verantwortung im Bereich des Aufwachsens angestiegen. Gründe dafür waren die Bildungsdebatte nach den für Deutschland unbefriedigenden Ergebnissen der PISA-Studien und der Paradigmenwechsel hin zu einer nachhaltigen Familienpolitik. Dazu gehören etwa der Ausbau der Ganztagsschulen mithilfe des Investitionsprogramms des Bundes »Zukunft Bildung und Betreuung 2003 - 2007«, der Ausbau des Systems der »Frühen Hilfen« als Folge des Kinder- und Jugendhilfeerweiterungsgesetzes (2005) sowie der Ausbau der Betreuung für die unter Dreijährigen durch das Tagesbetreuungsausbaugesetz (2005) und das Kinderförderungsgesetz (2009). Die expansive Entwicklung in der Kinder- und Jugendhilfe lässt sich auch an der Statistik ablesen: Die Inanspruchnahme in den Erzieherischen Hilfen erreicht bis zu 6 Prozent der Minderjährigen, sie entwickelte sich seit 1990 von 490.000 auf 779.000 Hilfen stark nach oben - obwohl die Zahl der Kinder und Jugendlichen abnimmt. Der finanzielle Aufwand für die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe stieg im gleichen Zeitraum von etwa 15 Milliarden Euro 1992 auf fast 29 Milliarden im Jahr 2010. Die Anzahl der unter Dreijährigen in der Kindertagesbetreuung wuchs aufgrund des gesetzlich bestimmten Ausbaus allein zwischen 2006 und 2011 von knapp 287.000 auf 517.000 Kinder (BMFSFJ 2013).

Ziel der Ausweitung einer öffentlichen Verantwortung für das Aufwachsen ist die Verminderung sozialer Ungleichheiten und die Verbesserung der Teilhabechancen für alle Kinder und Jugendlichen. In diesem Artikel wird im Anschluss an den 14. Kinder- und Jugendbericht die These vertreten, dass trotz der Ausweitung öffentlicher Verantwortung für das Aufwachsen in bestimmten Handlungsfeldern Unterschiede in den Lebenschancen von Kindern und Jugendlichen weiterbestehen und soziale Spaltungen zum Teil sogar noch zunehmen (BMFSFJ 2013). Diese Beobachtung lenkt den Blick auf Folgeprobleme beziehungsweise ungewollte Nebenwirkungen einer verstärkten Übernahme öffentlicher Verantwortung für das Aufwachsen, auf die im Folgenden näher eingegangen werden soll.

Der Ausbau von Angeboten, Einrichtungen und Diensten für Kinder und Jugendliche führt offensichtlich nicht automatisch zur Erreichung der damit verbundenen Ziele. Die erwünschten Wirkungen sind an bestimmte Voraussetzungen gebunden: Die Angebote und Leistungen müssen von den Zielgruppen tatsächlich genutzt und die Förderung und Unterstützung muss von den Zielgruppen als hilfreich erlebt und angenommen werden. Beide Bedingungen sind nicht immer gegeben.


Kinderbetreuung steht nicht allen Eltern zu, wird aber auch nicht immer gewünscht

Die wichtigste Voraussetzung für die Wirksamkeit von Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe ist ihre Nutzung durch die Zielgruppen. Dass dies in unterschiedlichem Maße der Fall ist, kann sowohl mit selektiven Zugangskriterien als auch mit den Präferenzen der potenziellen Nutzerinnen und Nutzer zusammenhängen. Momentan haben Kinder ab drei Jahren in Deutschland einen Rechtsanspruch auf Kindertagesbetreuung. Dieser wird im Hinblick auf die Dauer der Betreuung eingeschränkt, da er sich nur auf den halben Tag bezieht. Für unter dreijährige Kinder gelten - bis zum Inkrafttreten des Rechtsanspruchs auf einen Kita-Platz für unter Dreijährige im August 2013 - gewisse Bedarfskriterien im Hinblick auf den Anspruch auf eine Nutzung. Seit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz aus dem Jahr 2005 steht Kindern unter drei Jahren eine Förderung in einer Kindertagesbetreuung zu, wenn das Wohl des Kindes ohne eine entsprechende Förderung nicht gewährleistet werden kann oder wenn beide Eltern erwerbstätig sind, sich in einer Bildungsmaßnahme befinden oder Leistungen zur Eingliederung in Arbeit im Sinne des Sozialgesetzbuches (SGB II) erhalten. In einigen Bundesländern und Kommunen gelten zusätzliche Bedarfskriterien, und Kinder haben dort zum Teil bereits früher einen Anspruch auf einen Kita-Platz. Weitere Faktoren, die die Inanspruchnahme von Kindertagesbetreuung beeinflussen können, sind Gebühren (etwa Elternbeiträge) oder eine (regionale) Unterversorgung mit Angeboten.

Während Kindern unter drei Jahren derzeit ausschließlich unter den genannten Bedingungen eine Betreuung zusteht, spielen selektive Zugangskriterien im Bereich der Betreuung von Kindern über drei Jahren eine relativ geringe Rolle. Grund dafür ist der Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz und die Ausweitung der Angebote. Im Gegensatz dazu wird der Zugang zur Betreuung von Kindern unter drei Jahren vor allem in Westdeutschland durch die enorme Diskrepanz zwischen den Betreuungswünschen der Eltern und den vorhandenen Angeboten begrenzt. Vor allem Kinder aus Familien, die (bildungs-)benachteiligt sind oder einen Migrationshintergrund haben, nehmen die Angebote der Kleinkinderbetreuung unterdurchschnittlich in Anspruch. Neuere Analysen weisen nach, dass Familien mit niedriger Ressourcenausstattung (Indikatoren: Migrationshintergrund, Einkommensschwäche, niedriges Bildungsniveau der Mütter, Ein-Eltern-Familie) formale Betreuungsangebote weniger nutzen als andere Familien. Kinder von Alleinerziehenden unterscheiden sich in dieser Hinsicht allerdings nicht von Kindern aus anderen Familien (Schober/Spieß 2012; siehe zum internationalen Vergleich S. 19 in diesem Heft).

Am deutlichsten fällt der Unterschied für diejenigen Kinder aus, deren Eltern zu Hause überwiegend nicht Deutsch sprechen: Nur 10 Prozent von ihnen werden in eine öffentliche Kleinkindbetreuung geschickt, bei anderen Familien ist der Anteil fast dreimal so hoch (27 Prozent). Die Nutzungswahrscheinlichkeit sinkt besonders dann, wenn beide Elternteile einen Migrationshintergrund haben oder zu Hause überwiegend nicht Deutsch gesprochen wird. Ebenfalls unterdurchschnittliche Nutzerinnen und Nutzer sind - sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland - die Empfängerinnen und Empfänger von Arbeitslosengeld II. 20 bis 30 Prozent der Mütter der genannten Gruppen mit geringer Ressourcenausstattung geben an, dass kein Platz verfügbar war (ebd.). Gründe für die Nicht-Inanspruchnahme sind die Knappheit des Angebots, die Kosten und milieuspezifische Präferenzen und Werthaltungen. Viele der befragten Mütter aus den genannten Gruppen halten ihre Kinder für zu jung für eine Betreuung, während bei den übrigen Familien besonders die (Nicht-)Erwerbstätigkeit der Mütter eine wichtige Rolle spielt.

Auch hinsichtlich der Nutzung schulischer Ganztagsangebote lassen sich Selektivitäten und Nutzungsbarrieren nachweisen. Die positive Wirkung ganztagsschulischer Angebote hängt entscheidend von der Nutzungsdauer ab. Förderliche Wirkungen auf die Motivation, das Sozialverhalten, den schulischen Erfolg und den Bildungsehrgeiz der Schülerinnen und Schüler hängen wesentlich davon ab, ob die Ganztagsschule kontinuierlich genutzt wird (Steiner/Fischer 2011). Diese Kontinuität ist in vollgebundenen Ganztagsschulen in deutlich höherem Maße gegeben als in offenen Ganztagsschulen - das zeigen die Ergebnisse der StEG-Studie (»Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen«). Eine wichtige Rolle bei der Wahl für oder gegen eine Ganztagsschule spielt die Art des Entscheidungsprozesses. Wichtige Faktoren für die Kontinuität der Teilnahme am Ganztag sind die elterliche Unterstützung, aber auch elterliche Kontrolle sowie die Kontrolle von Lehrkräften und durch Peers. Allerdings gehören leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler weniger zu den dauerhaften Ganztagsnutzerinnen und -nutzern, was die kompensatorischen Wirkungen von Ganztagsschulen deutlich einschränken dürfte (ebd.).


Entscheidend sind gute Beziehungen zwischen Fachkräften und Kindern

Die Qualität der Angebote hat eine hohe Bedeutung für die Wirksamkeit. Die dabei existierenden Unterschiede wurden etwa durch die NUBBEK-Studie (»Nationale Untersuchung zur Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit«) für den Bereich der Kindertagesbetreuung belegt (Tietze u.a. 2012). Problematisch ist, dass Zugänge zu guter Qualität nicht für alle Familien gegeben sind. Überdurchschnittlich gebildete und finanziell besser gestellte Eltern sind besser informiert über die Angebote und eher in der Lage, Einrichtungen mit höherer Qualität für ihre Kinder auszuwählen. Solche Zusammenhänge lassen sich auch für andere Angebote und Leistungen nachweisen (zum Beispiel für frühkindliche Förderangebote, Beratungsangebote oder spezielle Förderangebote). Hinzu kommt, dass die Qualität von Angeboten und Maßnahmen sozialräumlich variiert. Wenn kommunale Politik nicht gegensteuert, dann führen Segregationsprozesse gerade in größeren Städten regelmäßig dazu, dass in benachteiligten Wohnquartieren mit ökonomischen und sozialen Abstiegsprozessen auch eine Qualitätsverminderung der sozialen und pädagogischen Einrichtungen einhergeht (Olk/Stimpel 2011). Nicht zuletzt spielen auch Merkmale der Prozessqualität in diesen Einrichtungen eine entscheidende Rolle. Prozessqualität beschreibt alle Interaktionen von Kindern mit den pädagogischen Fachkräften, mit anderen Kindern, mit dem Raum sowie den Materialien, zum Beispiel dem Spielzeug. Wenn sich die Angebote in erster Linie an Mittelschichtserwartungen orientieren und die Voraussetzungen anderer Nutzergruppen vernachlässigen, finden Kinder mit Migrationshintergrund oder aus sozial benachteiligten Verhältnissen wenig Anerkennung und Unterstützung durch die Fachkräfte. Dies ist umso problematischer, als sich empirisch immer wieder zeigt, dass gute soziale Beziehungen zwischen Erziehungs- oder Lehrkräften und Kindern ein entscheidender Faktor für die förderliche Wirkung der Kita, Beratungsstelle oder Ganztagsschule sind.

Um die förderliche Wirkung der Einrichtungen und Dienste der Kinder- und Jugendhilfe zu verbessern, bedarf es einiger qualitativer Weiterentwicklungen. Die Einrichtungen sollten reflexive Strategien der Steuerung, Gestaltung und Wirkungskontrolle einführen, um ihre Arbeitsweise auf die Interessen und Bedürfnisse der Zielgruppen besser abstimmen und benachteiligte Kinder und Jugendliche besonders fördern zu können. Da diese Einrichtungen für das Leben junger Menschen immer wichtiger werden, sollten zudem die Kinderrechte gestärkt werden. Dadurch könnten den Nutzerinnen und Nutzern dieser Einrichtungen echte Mitgestaltungsrechte garantiert werden. Darüber hinaus sollten die Schnittstellen zwischen Einrichtungen und Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe und anderen Professionen und Bereichen derart ausgestaltet werden, dass Übergänge erleichtert und Bildungsabbrüche vermieden werden. Insgesamt wird künftig zu klären sein, wie im lokalen Sozialraum Einrichtungen und Anbieter aus unterschiedlichen Bereichen (Kinder- und Jugendhilfe, Gesundheitswesen, Schule und andere) gemeinsam an einer optimalen Förderung von Kindern und Jugendlichen beteiligt sein können.


DER AUTOR

Prof. Dr. Thomas Olk ist Professor für Sozialpädagogik und Sozialpolitik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Philosophische Fakultät III - Erziehungswissenschaften. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kinder- und Jugendhilfeforschung, Engagementforschung sowie Kindheits- und Jugendforschung.
Kontakt: thomas.olk@paedagogik.uni-halle.de


LITERATUR

DEUTSCHER BUNDESTAG (2013): Der 14. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen und Bestrebungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Deutscher Bundestag, Drucksache 17/12200. Im Internet verfügbar unter
http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/122/1712200.pdf
(Zugriff: 27.2.2013)

OLK, THOMAS / STIMPEL, THOMAS (2011): Kommunale Bildungslandschaften und Educational Governance vor Ort. Bildungspolitische Reformpotenziale durch Kooperation und Vernetzung formeller und informeller Lernorte? In: Bollweg, Petra / Otto, Hans-Uwe (Hrsg.): Räume flexibler Bildung. Wiesbaden, S. 169-188

SCHOBER, PIA S. / SPIESS, C. KATHARINA (2012): Frühe Förderung und Betreuung von Kindern: Bedeutende Unterschiede bei der Inanspruchnahme besonders in den ersten Lebensjahren. In: DIW Wochenbericht 43, S. 17-29

STEINER, CHRISTINE / FISCHER, NATALIE (2011): Wer nutzt Ganztagsangebote und warum? In: Stecher, Ludwig / Krüger, Heinz-Hermann / Rauschenbach, Thomas (Hrsg.): Ganztagsschule - Neue Schule? Eine Forschungsbilanz. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft. Sonderheft 15, S. 185-203

TIETZE, WOLFGANG / BECKER-STOLL, FABIENNE / BENSEL, JOACHIM / ECKHARDT, ANDREA G. / HAUG-SCHNABEL, GABRIELE / KALICKI, BERNHARD / KELLER, HEIDI / LEYENDECKER, BIRGIT (Hrsg.; 2012): NUBBEK. Nationale Untersuchung zur Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit. Fragestellungen und Ergebnisse im Überblick. Berlin. Im Internet verfügbar unter
www.nubbek.de/media/pdf/NUBBEK%20Broschuere.pdf
(Zugriff: 19.2.2013)


DJI Impulse 1/2013 - Das komplette Heft finden Sie im Internet als PDF-Datei unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2013 - Nr. 101, S. 16-18
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. August 2013