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KIND/128: Kindliches Wohlbefinden als Maßstab (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 3/2015 - Nr. 111

Kindliches Wohlbefinden als Maßstab

Von Hans Bertram


Um eine Politik für Kinder konsequent umzusetzen, ist ein Kontrollsystem unerlässlich. Ein UNICEF-Bericht definiert erstmals nachprüfbare Kriterien, um die komplexen Prozesse einer Verletzung von Kinderrechten zu erkennen.


Schon Anfang des 19. Jahrhunderts beschrieb der englische Schriftsteller Charles Dickens in seinem Roman »Oliver Twist« zentrale Elemente der kindlichen Entwicklung und der kindlichen Rechte. In dem Konflikt zwischen dem Hehler, der Oliver gegen seinen Willen zum Taschendieb ausbilden möchte, und dem älteren Herrn Brownlow, der dem Jungen helfen will, zeigt sich sehr genau die Problematik bei der Umsetzung der Kinderrechte. Ausschließlich Herr Brownlow ist bereit, Oliver das Recht zuzugestehen, selbst über seine Zukunft und damit auch über die eigene Bildung und die eigene Entwicklung mitzuentscheiden.

Die Thesen des Soziologen Ralf Dahrendorf in seiner Streitschrift »Bildung ist Bürgerrecht« aus den 1960er-Jahren machen deutlich, dass dieses Recht selbst Mitte des 20. Jahrhunderts allenfalls für einen kleinen Teil der Bevölkerung in der damaligen Bundesrepublik verwirklicht war. Sogar das Recht von Kindern, in hinreichenden materiellen Existenzbedingungen aufzuwachsen, ohne selbst arbeiten zu müssen, war nicht für alle gewährleistet. Und das Recht von Kindern, ungehindert mit beiden Eltern Kontakt zu haben, konnte nur in langen und mühevollen politischen Auseinandersetzungen zumindest im Ansatz durch das gemeinsame Sorgerecht beider Elternteile umgesetzt werden.

Bis heute ist die Realisierung einzelner konkreter Dimensionen der Kinderrechte - selbst in einem so reichen Land wie Deutschland - ein langwieriger und schwieriger politischer Prozess. Zwar sind die Kinderrechte Menschenrechte und lassen sich aus Artikel 1 der deutschen Verfassung ableiten, aber sie sind nicht explizit Teil des Grundgesetzes (siehe Artikel auf S. 8). Immerhin ist die UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland seit dem Jahr 1992 geltendes Recht. Doch erst im Jahr 2010 fiel die Einschränkung in Bezug auf Flüchtlingskinder, die bis dahin schon im Alter von 16 Jahren in Abschiebehaft genommen werden konnten. Im selben Jahr entschied das Bundesverfassungsgericht, dass Kinder ein Recht darauf haben, dass ihr materielles Existenzminimum gesondert berechnet wird.

Dieser kurze Überblick macht deutlich, dass eine Politik für Kinder, die deren Entwicklungsperspektiven und deren Rechte gegenüber Eltern, Nachbarschaft, Gemeinde und Gesellschaft als Maßstab des eigenen Handelns betrachtet, einer entsprechenden Kontrolle bedarf. Auch wenn Deutschland durch die Ratifizierung der Kinderrechtskonvention dazu verpflichtet ist, gilt es zu überprüfen, ob und inwieweit Politik und Gesellschaft diese Rechte respektieren.


Ein Indikatoren-Konzept ermöglicht erstmals den Vergleich der Lebenssituationen

Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen UNICEF hat im Jahr 2005 erstmals einen Bericht vorgelegt, der auf der Basis der Arbeiten des britischen Soziologen Jonathan Bradshaw den Versuch macht, die Kinderrechte in ein Indikatoren-Konzept zu übersetzen. Dieses soll einen Vergleich der Entwicklungsmöglichkeiten und Lebenssituationen von Kindern in den hoch entwickelten Industrieländern ermöglichen. Denn selbst wenn viele Kinderrechte sehr allgemein formuliert sind - etwa das Recht auf Gesundheit, Bildung und Ausbildung, auf Schutz vor Diskriminierung und Gewalt, auf eine gewaltfreie Erziehung und Privatsphäre, auf eine Familie und elterliche Fürsorge sowie auf Betreuung bei Behinderung -, sind sie doch konkret genug, um darauf aufbauend vergleichbare Indikatoren zu entwickeln. Anfangs standen vor allem Aspekte der materiellen Existenzsicherung und der Vermeidung von relativer Armut bei Kindern im Mittelpunkt der Untersuchungen von UNICEF. Seitdem gab es verschiedene Schwerpunkte in den Berichten, wie etwa Bildung oder zuletzt die Folgen der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise (Bertram 2016).

Inzwischen haben sich die »Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung« (OECD) und die Europäische Union (EU) diesem Konzept des indikatorengestützten Vergleichs des kindlichen Wohlbefindens vor dem Hintergrund der Kinderrechte angeschlossen, so dass hier ein internationales System zur Kontrolle und Evaluation einer Politik für Kinder entsteht. Das gilt gegenwärtig jedoch nur für die hoch entwickelten Industrieländer mit vergleichbaren Datensätzen. In anderen Ländern gestalten sich solche Vergleiche noch schwierig.


Internationale Untersuchungen haben viele Stärken, aber auch Schwächen

In Deutschland hat UNICEF gleichzeitig begonnen, die Lebensverhältnisse und das kindliche Wohlbefinden in den Bundesländern zu untersuchen. Hintergrund war, dass bereits die ersten Ergebnisse der Schulleistungsstudie PISA im Jahr 2001 darauf hinwiesen, dass ein bundesweiter Durchschnittswert - zumindest im Bereich der Bildung - nur bedingt aussagekräftig ist. Denn während die Leistungen der deutschen Schulkinder in manchen Bundesländern auf dem hervorragenden Niveau des PISA-Spitzenreiters Finnland lagen, rangierten andere Bundesländer unter den Nationen mit den schlechtesten Ergebnissen. Eine ähnlich große Spannweite innerhalb von Deutschland gibt es bei der relativen Kinderarmut, der Jugendarbeitslosigkeit und selbst bei bestimmten Risiken für Kinder, etwa im Straßenverkehr (Bertram 2013).

Der politische Effekt solcher Vergleiche sollte nicht unterschätzt werden. Eine Nichtregierungsorganisation wie UNICEF kann zwar nicht direkt in den politischen Prozess eingreifen, aber die öffentliche Darstellung internationaler und innerstaatlicher Unterschiede führt immer zum Diskurs, ob und inwieweit solche Unterschiede hinzunehmen sind oder inwiefern im Interesse der Kinder politisches Handeln gefragt ist. Diese Anwaltsrolle kann UNICEF in den hoch entwickelten Industrieländern wahrnehmen.

Außerdem regen solche Vergleiche die internationalen Organisationen wie beispielsweise die OECD oder die EU-Kommission an, in ihren eigenen Untersuchungen und politischen Empfehlungen die Kinderrechte stärker zu berücksichtigen. Denn die Übersetzung der abstrakt formulierten Rechte der Kinder in messbare Indikatoren führt im politischen Prozess nicht nur zur Diskussion, wie man auf eine bessere Position in einer Rangliste gelangen kann, sondern diese konkreten Indikatoren begünstigen auch eine praktische Umsetzung in politisches Handeln.

Insoweit sind die Entwicklungen bei UNICEF, bei der OECD und beim Statistischen Amt der EU (Eurostat) auch ein spannendes und gutes Beispiel dafür, wie die Sozialwissenschaften - ausgehend von einem normativen Konzept kindlicher Entwicklung und Teilhabe sowie auf der Basis von international erhobenen Daten - Indikatoren entwickeln, die es ermöglichen zu überprüfen, ob und inwieweit diese normativen Vorgaben in den einzelnen Ländern auch tatsächlich erreicht werden und wo Verbesserungen anzustreben sind.

Allerdings sind solche Indikatoren-Tableaus, selbst wenn sie kleinräumig auf Metropolen und Bundesländerebene übertragen werden, nur teilweise geeignet, die spezifischen Lebenssituationen und Lebenslagen von Kindern in besonderen Situationen (wie beispielsweise von Flüchtlingskindern) angemessen zu berücksichtigen. Zum einen sind die Datensätze nicht groß genug, um einzelne Gruppen genau zu erfassen; zum anderen muss bei aufwändigen internationalen Vergleichen akzeptiert werden, dass sie keine aktuellen Daten enthalten können.


Bei Schulleistungsvergleichen belegt Deutschland inzwischen einen Spitzenplatz

Nichtsdestotrotz lassen sich durch die Kontinuität dieser Berichterstattung Veränderungen und Entwicklungen in ihren Effekten sehr gut darstellen, wie etwa die Folgen der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise. Dabei zeigt sich, dass Länder wie etwa Schweden, die beim kindlichen Wohlbefinden lange zur Spitzengruppe zählten, deutlich zurückgefallen sind. Schweden verlor seinen ersten Platz des Jahres 2007 im materiellen Wohlbefinden an die Niederlande und liegt heute auf Platz fünf; bei den schulischen Leistungen erreicht Schweden jetzt den elften Platz.

Andere Länder hingegen haben große Anstrengungen unternommen, um die ökonomische Lage der Kinder trotz der Finanzkrise zu sichern. Beispielsweise ist in Irland und Großbritannien in dieser Zeit die relative Kinderarmut zurückgegangen; andere Länder wie etwa Deutschland haben sich inzwischen in vielen Dimensionen auf einen Spitzenplatz geschoben (UNICEF 2014, Bertram 2016). Diese teilweise erstaunlichen Veränderungen sind aber nicht nur auf die Finanzkrise zurückzuführen, sondern auch auf unterschiedliche Politikansätze dieser Länder.

Solche Ergebnisse machen deutlich, dass eine kontinuierliche Analyse des kindlichen Wohlbefindens auf der Basis von Indikatoren, die an den Kinderrechten orientiert sind, sehr sinnvoll ist. Allerdings fehlen noch wichtige Aspekte, um eine Evaluation vor dem Hintergrund der UN-Kinderrechtskonvention tatsächlich zu realisieren. Im internationalen Vergleich sind bisher in nur wenigen Studien die Kinder selbst befragt worden, so dass die kindliche Meinung und ihre Wahrnehmung der Welt sowie ihre Zufriedenheit mit der eigenen Lebenssituation im internationalen Vergleich kaum dargestellt werden kann. Auch für diesen Teil der UN-Kinderrechtskonvention müssen noch Indikatoren definiert werden, um eine Analyse der unmittelbaren Lebenswelten der Kinder zu ermöglichen.


Kinderrechte zu stärken, ist vor allem eine Aufgabe der Kommunen

Die kindliche Entwicklung und die kindlichen Lebenschancen vollziehen sich nicht abstrakt auf Bundes- oder Landesebene, sondern konkret in der Kommune vor Ort. Bei der Entwicklung des deutschen Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG; 1990/91) spielte die UN-Kinderrechtskonvention zwar generell eine wichtige Rolle, aber in der konkreten Ausformulierung finden sich keine Anhaltspunkte, wie das Wohlbefinden von Kindern auch auf kommunaler Ebene evaluiert werden könnte.

Dabei sind die Kinderrechte so konkret formuliert, dass sich daraus auch ein Evaluationskonzept auf kommunaler Ebene entwickeln lässt. Das beginnt mit der Forderung der Teilhabe von Kinder und Jugendlichen an den politischen Entscheidungsprozessen, die sie unmittelbar betreffen. Diese beziehen sich nicht nur auf den Ausbau von Spielplätzen und öffentlichen Räumen für Kinder und Jugendliche, sondern auch auf eine der ganz großen Herausforderungen, nämlich die Gestaltung des Nachmittags für Schulkinder. Welche Möglichkeiten und welche Perspektiven entwickeln Kommunen, wenn es um den Ausbau von Ganztagsschulangeboten geht? Unmittelbar betroffen sind Kinder und Jugendliche in vielen Lebensbereichen: Beispielsweise stellt sich die Frage, wie ihre Bedürfnisse am Wohnungsmarkt in stark wachsenden Metropolen angemessen berücksichtigt werden können, und wie Kinder und Jugendliche, die sich aus ganz unterschiedlichen Gründen schwertun, in der Schule und in der Berufsausbildung eine angemessene Perspektive zu entwickeln, in den jeweiligen Kommunen entsprechend ihrer individuellen Entwicklungsmöglichkeiten gefördert werden können. Nicht zuletzt schließt es auch die hochaktuelle Frage ein, wie Angebote der Jugendhilfe so organisiert werden können, dass junge Menschen aus ganz unterschiedlichen Kulturen Wege der gemeinsamen Kommunikation finden. Es ist vermutlich eine der größten Herausforderungen der nächsten Jahre, die Kinderrechte nicht nur als ein Instrument zu betrachten, das auf Bundes- und Landesebene die Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen evaluiert und die Fort- oder Rückschritte verdeutlicht, sondern die Kinderrechte eben auch in der konkreten alltäglichen Planung und Arbeit der kommunalen Jugendhilfe zu verankern.


DER AUTOR

Prof. Dr. Hans Bertram ist Familiensoziologe und Herausgeber der regelmäßig erscheinenden UNICEF-Berichte zur Lage der Kinder in Deutschland. Er hatte bis 2014 den Lehrstuhl für Mikrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin inne. Zuvor leitete er von 1984 bis 1993 als wissenschaftlicher Direktor das Deutsche Jugendinstitut (DJI). Seine Forschungsgebiete umfassen die Situation von Kindern und Familien in Deutschland, den Wandel und die Entwicklung von Familie, Bindung und »Care«, die Veränderungen der ökonomischen Lage von Familien, den Wandel der Berufseinmündungen junger Erwachsener unter einer lebensverlaufstheoretischen Perspektive, die Sozialberichterstattung auf Basis des Mikrozensus sowie die Bedeutung der kleinen Lebenskreise im Kontext von Solidarität und Subsidiarität in der modernen Gesellschaft.
Kontakt: hbertram@sowi.hu-berlin.de


Literatur

Bertram, Hans (2008): Mittelmaß für Kinder. Der UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland. München

Bertram, Hans (2013): Reiche, kluge, glückliche Kinder? Der UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland. Weinheim/Basel

Bertram, Hans (2016): Fragt die Kinder, in Vorbereitung

Bradshaw, Jonathan / Emese, Mayhew (2005): The Well-Being of Children in the UK. London

Dahrendorf, Ralf (1968): Bildung ist Bürgerrecht. Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik. Hamburg

Dickens, Charles (2012): Oliver Twist. Köln

UNICEF Report Card 7 (2007): Child poverty in perspective: An overview of child well-being in rich countries. Florenz

UNICEF Report Card 12 (2014): Children of the recession: The impact of the economic crisis on child well-being in rich countries. Florenz


DJI Impulse 3/2015 - Das komplette Heft finden Sie im Internet unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 3/2015 - Nr. 111, S. 4-7
Herausgeber: Deutsches Jugendinstitut e.V.
Nockherstraße 2, 81541 München
Telefon: 089/6 23 06-140, Fax: 089/6 23 06-265
Internet: www.dji.de
 
DJI Impulse erscheint viermal im Jahr.
Die Hefte können kostenlos unter www.dji.de/impulsebestellung.htm
abonniert oder unter vontz@dji.de schriftlich angefordert werden.


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Mai 2016

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