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STIGMA/001: Schützt uns vor "Zigeuner"-Bildern! (Der Schlepper)


Der Schlepper Nr. 50 - Frühling 2010
Quartalsmagazin für Migration und Flüchtlingssolidarität in Schleswig-Holstein

Schützt uns vor "Zigeuner"-Bildern!

Warum die Sinti und Roma keine "ZigeunerInnen" sind.

Von Wilhelm Solms


"Warum darf man eigentlich nicht mehr 'Zigeuner' sagen?" Wer heute noch die Frage stellt: macht deutlich, auch weiterhin "Zigeuner" sagen zu wollen.

Die Antwort darauf könnte lauten: Der Name "Zigeuner" ist erstens eine Fremdbezeichnung - "im Volk wurden sie Zigeuner genannt", heißt es in mehreren Chroniken aus der Zeit ihrer Einwanderung. Zweitens wird er als Schimpfwort verwendet - in Lexika werden als "Synonyme" unter anderem "Tagedieb", "Gauner" und "Drecksack" genannt. Und drittens passt der Name auf die heute lebenden Angehörigen dieser deutschen Minderheit nicht. Denn diese sind keine "Fahrenden", die "herumzigeunern" und ein "freies" oder gar "lustiges Zigeunerleben" führen, sondern schon seit Jahrzehnten zu mehr als neunzig Prozent sesshaft und schon deshalb keine "Zigeuner".

Dagegen ist die Eigenbezeichnung "Sinti und Roma" keine "neue Bezeichnung", sondern wird seit dem 14. Jahrhundert durch mehrere Zeugnisse belegt. Als "Sinti" bezeichnet sich die Volksgruppe, die Anfang des 15. Jahrhunderts nach Deutschland und in die Nachbarländer eingewandert ist. Als "Roma" bezeichnen sich die in ost- und südosteuropäischen Ländern lebenden Volksgruppen und als "deutsche Roma" diejenigen, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts aus Rumänien und anderen osteuropäischen Ländern hierher gekommen sind.


Geschichte des Begriffs "Zigeuner"

Dass man mit dem Begriff "Zigeuner" vorsichtig umgehen muss, ist auch eine Frage der gedanklichen und sprachlichen Korrektheit: Das Wort "Zigeuner"/"Zigeunerin" hat im Lauf der sechshundertjährigen Geschichte der Sinti in Deutschland völlig verschiedene Bedeutungen angenommen, die bis heute verwechselt oder vermischt werden. Überwiegend wurde den als "Zigeuner" Bezeichneten jedoch jeweils eine Fülle negativer Merkmale zugeschrieben.

Bei ihrer Einwanderung zu Beginn des 15. Jahrhunderts galten die "Zigeuner" vor allem wegen ihrer dunklen Hautfarbe als ein aus Ägypten stammendes Volk, weshalb sie als "Ägypter" (engl. "Gypsy") bezeichnet wurden. Damit verband sich die Vorstellung, sie hätten keine Religion, weshalb sie auch als "HeidInnen" betrachtet wurden, und seien MagierInnen und TeufelsbündnerInnen. In Norddeutschland wurden sie auch "Tater" (= Tataren) genannt, weil der Einfall der tatarischen Horden in Schlesien im 13. Jahrhundert noch in Erinnerung war. Gegen Ende des Jahrhunderts wurden sie verdächtigt, "Spione der Türken" zu sein, und deshalb auf den Reichstagen für vogelfrei erklärt.

Im 16. und 17. Jahrhundert war die vorherrschende Meinung, dass die "Zigeuner", die sich, weil sie sich nirgends niederlassen durften, dem damals rasch anwachsenden Heer der Fahrenden angeschlossen hatten, kein "fremdes Volk", sondern ein aus Deutschland und den Nachbarländern "zusammengerottetes" "diebisches Gesindel" seien. Damit kamen auch die vulgären Etymologien auf -"Zigeuner" bedeute "Zig oder ziehe einher" oder "Zieh-Gauner" - die nicht zutreffen, da das Wort "Zigeuner" in ähnlichen Formen auch in anderen Sprachen auftaucht.


Sinti, Roma und Jenische als Feindbild

In der Literatur der Reformationszeit werden Fahrende oder Vaganten mit Landstreichern oder Vagabunden gleichgesetzt, die nicht nur faulenzen und betteln, statt zu arbeiten, sondern auch lügen, betrügen, stehlen, rauben und morden. Die gleichen Bilder finden sich bereits in den Bettlerordnungen des 15. Jahrhunderts, in denen einheimische Bettler beschrieben werden. Demnach stand das Feindbild des "Zigeuners" schon fest, bevor die Sinti in Mitteleuropa ankamen, wurde dann auf sie übertragen und blieb, als die anderen Fahrenden wieder sesshaft wurden, an ihnen hängen. Seither gelten alle Sinti und Roma, auch wenn sie längst sesshaft sind, als Fahrende, und seither werden alle Fahrenden, auch wenn sie keine Roma sind, wie die Jenischen, "Zigeuner" genannt.

Nach der Entdeckung ihrer Herkunft aus Indien im Jahr 1782 setzte sich der "Zigeunerforscher" Grellmann mit der These durch, die "ZigeunerInnen" würden von der untersten indischen Kaste, den "Sudern" oder "Paria", abstammen. Er beschrieb sie als ein primitives "orientalisches Nomadenvolk", das "unehrlich und unrein" sei und eine Vorliebe für Aas und Menschenfleisch habe. Den Männern sagte er nach, dass sie faulenzten und sich am Branntwein berauschten, und den Frauen, dass sie halbnackt herumliefen, auf "Wollust" aus seien und "Unzucht" trieben.


Zur literarischen Tradition des "Zigeunermythos"

Dagegen wurden in der Romantik und darüber hinaus auch schöne Bilder geschaffen, die die "Zigeuner" verklären, wie das unschuldige Naturkind, die verführerische Tänzerin, der Zaubergeiger, der edle Räuberhauptmann und die Bohème, die von "Zigeunerfreunden" bis heute bewundert werden. Diese tragen jedoch, indem sie die "Zigeuner" verklären, ebenfalls zu ihrer Ausgrenzung bei. Sie wurden den verzerrenden Bildern früherer Epochen auch nicht entgegen-, sondern zur Seite gestellt. In den Dichtungen der Romantik begegnen uns auch nicht nur junge, schöne und zauberhafte, sondern ebenso alte, hässliche und hexenhafte "Zigeunerinnen".

Die hier aufgezählten Merkmale, durch die die "Zigeuner" dämonisiert, kriminalisiert, bestialisiert und romantisiert wurden, sind allesamt rassistisch, da sie die Eigenschaften eines Individuums durch die Zugehörigkeit zu einer Ethnie oder "Rasse" determinieren. Trotzdem sind die gängigen Bilder von den "Zigeuner" keineswegs aus der Luft gegriffen. Sie gehören zum kulturellen Erbe, auf das die Deutschen, "das Volk der Dichter und Denker", so stolz sind.

Solange diese Bilder in unseren Köpfen festsitzen, nutzt es wenig, zu Toleranz und Nächstenliebe aufzurufen. Deshalb soll hier gezeigt werden, dass sie unrealistisch und obendrein, ob sie die Sinti und Roma verzerren oder verklären, menschenverachtend sind.

Die Dichter haben sich für ihre Darstellung von "Zigeunerfiguren" nicht mit der realen Lebensweise der Sinti und Roma befasst, sondern ausschließlich aus schriftlichen, vor allem literarischen Quellen geschöpft. Der junge Goethe hat beispielsweise für das "nächtliche Zigeunerlager" im "Götz von Berlichingen" auf Cervantes und Wieland zurückgegriffen, die Romantiker haben Goethes Porträt der "zigeunerhaften" Mignon kopiert, die Autoren des Biedermeier und des Realismus haben Züge von Goethes Mignon und Mignons romantischer Schwester kombiniert.


Rassisch festgeschriebene Eigenschaften

In Zigeunermythen des späten Mittelalters wurde verbreitet, dass die "Zigeuner", wie die Tartaren, aus der Unterwelt kämen oder von Kain abstammten. In Legenden und Märchen wurde erzählt, die "Zigeuner" hätten Maria und Joseph auf der Flucht nach Ägypten das Nachtquartier verweigert und die Kreuznägel Christi geschmiedet, weshalb sie von Gott und der Jungfrau Maria zu ewiger Wanderschaft verflucht worden seien.

Die ethnische Dämonisierung der "Zigeuner" blieb nicht auf das späte Mittelalter beschränkt, sondern wurde durch die Volksliteratur, durch Märchen, Sagen, Schwänke und Witze verbreitet und fand auch in mehreren Erzählungen der Romantik Eingang. Die "fahrenden Zigeuner" werden in den Schriften von Luther und in Sprichwörtersammlungen, Schwänken und Fasnachtsspielen der Reformationszeit als Bettler, Diebe und Betrüger verurteilt, während sie in Grimmelshausens Schelmenromanen ungleich positiver als listige Gauner und Abenteurer porträtiert werden.

War die Figur des "Zigeuners" vor 1770 nur eine Randerscheinung, so haben sich danach die feindlichen "Zigeuner"-Bilder - ebenso wie rassistische Bilder von "JüdInnen" - schlagartig vermehrt und verschärft. In den Dramen des Sturm und Drangs tritt eine hässliche alte "Zigeunerin" auf, die dem Helden aus der Hand liest. Dabei wird ihre Wahrsagekunst nicht als prophetische Gabe bewundert, sondern als ein mit List ausgeführter Betrug parodiert. Die schöne "Zigeunerin" der Romantik ist mit einer Ausnahme keine "echte" "Zigeunerin", sondern entweder die Tochter einer "Zigeunerin" und eines Freiherrn oder Grafen oder ein "zigeunerhaftes" Wesen, das aus einem hohen Haus abstammt, als kleines Kind von fahrenden Gauklern oder "Zigeunern" entführt und dann dressiert wurde wie Goethes Mignon. Diese "zigeunerhaften" Figuren heben sich durch Reinheit und Tugendhaftigkeit von dem schmutzigen und lasterhaften "Zigeunervolk" ab.

In der Literatur des Realismus steht häufig das "Zigeunerkind" im Mittelpunkt, das zu einem sesshaften, tüchtigen und tugendhaften Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft erzogen werden soll, was meistens scheitert, aber manchmal dank der unendlichen Geduld des väterlichen Erziehers gelingt. In Werken von Löns, Hesse und Friedrich Georg Jünger aus den zwanziger und dreißiger Jahren, als nicht mehr die Assimilierung, sondern die Ausgrenzung der "Zigeuner" auf der Tagesordnung stand, leben die "Zigeuner" nicht mehr im Dorf oder am Stadtrand, sondern fern der Zivilisation in der Heide oder im Wald.


Der literarische "Zigeuner"-Mythos - eine ergänzende Komponente

So sind in verschiedenen Epochen verschiedene Vorurteile über Sinti und Roma in die Literatur eingegangen: Erst die Dämonisierung der Einwanderer aus dem Nahen Osten, dann die Kriminalisierung der Fahrenden und seit der Aufklärung die Herleitung der ihnen aufgezwungenen oder angedichteten Merkmale aus ihrer "Rasse". Da diese Vorurteile durch die Literatur am Leben geblieben sind, haben sie einander nicht abgelöst, sondern sich zu einem todbringenden Feindbild addiert.

Während die Sinti - sie leben seit über 600 Jahren in Deutschland - und Roma in Westeuropa längst sesshaft sind und bürgerliche Berufe ausüben, gelten sie noch immer als "fremdes Volk", "Fahrende" und "NomadInnen", die mit Kuh- oder Schafherden durch die Länder ziehen. Oder als "moderne NomadInnen", die, so definiert der "Rassenhygieniker" Robert Ritter diesen Begriff, in der Industriegesellschaft auf Beute gehen.

So wurden die Sinti und Roma während des Nationalsozialismus als "Parasiten des Volkskörpers" halluziniert und nicht als "Zigeuner", sondern unter dem Namen "Zigeuner" verfolgt und ermordet. [1]

In schulischen Lesebüchern, in Editionen von "Zigeunermärchen", in Tatort-Krimis und auf Musikfestivals werden nach wie vor exotische Bilder von "Zigeunern" verbreitet, die lachen, singen oder weinen, sich prügeln oder umarmen und die Engel oder Hexen, Clowns oder Verbrecher darstellen, nur ja keine normalen Menschen.

Die Umbenennung von "Zigeuner" in "Sinti und Roma" genügt freilich nicht, um den Antiziganismus zu überwinden, sie wäre aber ein erstes Zeichen des Respekts gegenüber den Sinti und Roma.


Wilhelm Solms ist pensionierter Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Marburg und Vorsitzender der Gesellschaft für Antiziganismusforschung.


Letzte Buchveröffentlichungen:

"Die Moral von Grimms Märchen" (1999); "'Kulturloses Volk'? Berichte über 'Zigeuner' und Selbstzeugnisse von Sinti und Roma (2006)";

"'Zigeunerbilder'. Ein dunkles Kapitel der deutschen Literaturgeschichte. Von der Frühen Neuzeit bis zur Romantik" (2008).

Zahlreiche Beiträge zu: Goethe, Literatur des 19. Jahrhunderts, Gegenwartsliteratur, Märchenforschung, Antiziganismus.


Anmerkung:

[1] Andere Fahrende, die ebenfalls "Zigeuner" genannt wurden, sind zuvor ebenfalls erfasst, zwangsweise festgesetzt und in Einzelfällen eingesperrt oder hingerichtet aber nicht als Gruppe planmäßig ermordet worden. So hat es keinen, wie Bundesratspräsident Peter Müller 2008 fälschlich behauptete, "Völkermord an den Jenischen" gegeben.


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Quelle:
Der Schlepper Nr. 50 - Frühling 2010, Seite 16-19
Quartalsmagazin für Migration und Flüchtlingssolidarität in
Schleswig-Holstein
Herausgeber: Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Juli 2010