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STIGMA/004: Europa macht wieder Jagd auf bettelnde "Zigeuner" (Der Schlepper)


Der Schlepper Nr. 50 - Frühling 2010
Quartalsmagazin für Migration und Flüchtlingssolidarität in Schleswig-Holstein

Europa macht wieder Jagd auf bettelnde "Zigeuner"

Von Karin Waringo


Seit dem EU-Beitritt Rumäniens und Bulgariens haben Maßnahmen gegen bettelnde Roma wieder Hochkonjunktur.Dabei bedient man sich gezielt antiziganistischer Motive, die durch diese Maßnahmen weiter gestärkt werden.


Eine junge Frau betritt die Eingangshalle des Pariser Ostbahnhofs. Mit ihren langen schwarzen Haaren, die bis an die Taille reichen, und ihrem knöchellangen Rock ist sie unschwer als "typische Zigeunerin" zu erkennen. Binnen weniger Sekunden schwirren Sicherheitskräfte von allen Seiten herbei und führen die Frau ab. Solche oder ähnliche Szenen wiederholen sich tagtäglich überall in Europa. Nach einer kurzen Ruhephase hat man bettelnde Roma wieder als Thema entdeckt, mit dem man Stimmen einfangen und Einschaltquoten in die Höhe treiben kann.

Ein Ausschnitt: In Italien war es eine Reihe medial aufgebauschter Straftaten, die zu einer regelrechten Hetzjagd auf Roma führte. Nach der brutalen Ermordung einer 47-jährigen Italienerin, die einem rumänischen Rom angelastet wurde, ordnete die Regierung schärfere Maßnahmen gegen sogenannte illegale EinwandererInnen an. Landesweit durchforsteten BeamtInnen Romalager und erfassten ihre BewohnerInnen erkennungsdienstlich. Hunderte von Roma wurden des Landes verwiesen, andere flüchteten, um einer Abschiebung zu entgehen. Im österreichischen Graz, das der Bürgermeister in einem Zeitungsinterview als "Bettlerhauptstadt Österreichs" bezeichnete, denkt man inmitten des Landeswahlkampfs über ein "sektorales Bettelverbot" nach. In Genf hat der Stadtrat vor wenigen Wochen beschlossen, dass Roma, die mit ihren Kindern betteln oder diese zum Betteln "anleiten", die Fürsorge entzogen werden kann. Dem vorausgegangen war ein langer Kampf, bei dem bettelnde Roma zunächst mit Strafzetteln traktiert und ihre Einnahmen beschlagnahmt wurden.


Zum Beispiel Menschenrechts-Musterstaat Finnland

In Finnland reagierte man pikiert, als sich kurz nach dem Eintritt Rumäniens und Bulgariens in die EU, rumänische Roma in den Straßen von Helsinki und anderen Städten niederließen und PassantInnen um Almosen baten. Im Juni 2008 begab sich die finnische Präsidentin Tarja Halonen, die als Urheberin des "Europäischen Forums der Roma und Fahrenden" gilt, nach Bukarest, um dort mit ihrem Amtskollegen Traian Bascescu über die Integration der Roma zu diskutieren. Medienberichten zufolge erklärte sie ihm, dass sie seine Einstellung über die allgemeine Freizügigkeit für Personen innerhalb der EU zwar schätze, die Präsenz rumänischer BettlerInnen aber die finnische Bevölkerung und die Medien schockiert habe. Betteln sei in Finnland kein Beruf, dozierte die Präsidentin.

Während bei entsprechenden Maßnahmen gegen Roma ganz offensichtlich antiziganistische Motive mitwirken, die sie als eine Fortsetzung und Verlängerung von Maßnahmen erscheinen lassen, mit denen Roma seit Jahrhunderten in ganz Europa verfolgt und an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden, bemüht man sich dennoch darum, scheinbar objektive Kriterien vorzubringen, die sie als gerechtfertigt erscheinen lassen. Dieser Rechtfertigungsdruck ergibt sich auch daraus, dass Bettelverbote vielerorts nicht mehr systematisch angewendet werden oder im Rahmen einer gesetzlichen Liberalisierung sogar aufgehoben wurden. Folglich erfindet man "erschwerende Gründe", die das Betteln der Roma als besonders gravierendes Phänomen erscheinen lassen.


Vorwurf Nummer 1: Organisiertes Betteln

Ein Beispiel gibt der Münchner Oberbürgermeister Christian Ude. Auf seiner Website fordert der Oberbürgermeister die MünchnerInnen auf: "Bitte seien Sie kaltherzig!" Die "Bettelei" sei ein "angereistes Phänomen". Ude erläutert, "die Bettler kommen straff organisiert aus südöstlichen Beitrittsländern der EU und wollen mit häufig effektvoll inszenierter Bedürftigkeit den schnellen Euro kassieren".

Belegt wird die These der "Organisiertheit" oft mit dem Hinweis, dass die Roma mit Bussen oder Autos an ihren "Einsatzort" gebracht werden. So berichtet der Medienchef der Züricher Polizei, Marco Cortesi, dass die Roma mit Bussen durch die Schweiz fahren. Die Polizeiinspektion Freilassing warnt: "Wie die Polizei festgestellt hat, ist die Bettelei großteils organisiert. Kleinbusse bringen die Leute, die größtenteils aus osteuropäischen Ländern stammen, in die Stadt, um ihnen im Nachhinein das Geld abzunehmen". Die finnische Zeitung "Helsingin Sanomat" meldet, dass die Bettler mit Minibussen über die baltischen Staaten nach Finnland gebracht würden. Sie zitiert außerdem einen "Fall", bei dem Ende November vergangenen Jahres, die Polizei in Österreich einen Minibus aufgehalten habe, in dem insgesamt 27 Rumänen eingezwängt gewesen seien.


Die ominösen Hintermänner

Ein spanischer Journalist der Zeitung "Diario de Navarro", der sich eine Stunde lang, als "Bettler" getarnt, vor der Kirche San Nicolás in Pamplona auf die Lauer legte, berichtete dass "Vereinigungen" in Gruppen, manche von ihnen in "Luxusautos", zu ihren "Posten" kommen würden, um dann am Abend wieder zu verschwinden. Der spanische Journalist will auch bemerkt haben, dass sie sich "wie Mafiosi" verhalten und einmal am Tag die Gelder einsammeln.

Der "Helsingin Sanomat" berichtete im November 2007 über die Festnahme einer "kriminellen Bande" im rumänischen Birchis, die Roma nach Finnland gebracht habe. Die Zeitung stellte empört fest, dass die "Bandenchefs ... Häuser, Autos, Gold und Bargeld [hatten]." Sie errechnete auch, dass allein die Überfahrt von Rumänien ein lukratives Geschäft ist. Im Zusammenhang mit dem österreichischen Fall, wo angeblich 27 Personen mit einem Kleintransporter befördert wurden, schrieb sie: "Nehmen wir mal an, dass jeder von ihnen 200 Euro für die Überfahrt zahlen musste, dann hat der Reiseveranstalter insgesamt 5400 Euro mit nach Hause genommen, dafür dass er seine menschliche Fracht abgeliefert hat."


Vorwurf Nummer 2: Ausbeutung bettelnder Kinder

Dieser Vorwurf ging implizit den Maßnahmen voran, die in Genf, aber auch in Helsinki getroffen wurden. Zeitungsberichten zufolge beschloss man Ende 2007 in Helsinki, dass es rechtmäßig sei, Roma die Kinder weg zu nehmen, wenn sie mit ihnen betteln gingen. In Luxemburg rechtfertigte die Polizei ihr hartes Vorgehen gegen rumänische BettlerInnen damit, dass Inaktivität nur zu einer Ausweitung des Phänomens führe. "Wenn wir nichts tun, wird es immer mehr, und, vor allem, schicken sie dann immer mehr ihre Kinder", erklärte Kristin Schmit von der städtischen Polizei: Sie fügte hinzu, die Polizei könne das nicht akzeptieren, da die Kinder - als europäische Kinder - der Schulpflicht in Luxemburg unterliegen würden.

Das Bemerkenswerte an diesen Berichten ist die Tatsache, dass sie mit relativ wenig Fakten auskommen. Dort, wo es diese Fakten gibt, stammen sie in der Regel von der Polizei. So berichtete die Londoner "Times" im Januar 2008 über die angebliche Zunahme von Taschendiebstählen in der englischen Hauptstadt. Die Zeitung erwähnte unter anderem eine Hausdurchsuchung, bei der 27 rumänische Roma, darunter 16 Kinder, in einem Vorort von London aufgegriffen worden waren. Hintergrund dieses Artikels war ganz offensichtlich eine PR-Aktion der Londoner Polizei.

Im April vergangenen Jahres veröffentlichte die dänische Lokalzeitung "Kolding Ugavies" einen Artikel, in dem sie ihre LeserInnen vor der Rückkehr der "Sigøjnere" in der Stadt und Umgebung warnte. Diese würden, so die Anschuldigung, falschen Schmuck verkaufen. Recherchen ergaben, dass die Zeitung lediglich einen Warnhinweis der Polizei übernommen und mit Anekdoten aufbereitet hatte. Im Sommer berichteten österreichische Medien über die Ausbeutung rumänischer Romakinder durch Menschenhändler. Der Artikel ließ einen Experten der europäischen Polizeibehörde EUROPOL zu Wort kommen, der berichtete, dass die Kinder von ihren Eltern gegen eine "Leihgebühr" an "Clanchefs" abgegeben würden, die sie nach Westeuropa bringen und dort zur Straßenkriminalität zwingen würden.


Keine Belege für "organisierte Banden" und "Hintermänner"

Die Polizei hält sich ihrerseits mit Aussagen in dieser Angelegenheit äußerst bedeckt. Gerade in Bezug auf Kernaussagen, wie beispielsweise die These, dass die Bettelei organisiert sei, gibt es so gut wie keine Informationen. Marion Thuswald, die sich im Rahmen ihrer Diplomarbeit mit dem Phänomen der Bettelei beschäftigt hat und sich dabei besonders auf "Bettlernnen" aus Osteuropa konzentrierte, stellt in einem Artikel fest: "Auf eine genaue Definition von 'Organisiertheit' scheint bewusst verzichtet zu werden. Einerseits wird mit diesem Begriff im öffentlichen Diskurs die Nähe zum 'organisierten Verbrechen' bzw. ein Ausbeutungsverhältnis suggeriert, andererseits sieht die Polizei bereits drei Personen, die sich bewusst zum Betteln verabreden (auch Großmutter, Mutter und Tochter), als organisiert an". Marion Thuswald führt außerdem die Stellungnahme eines anzeigenden Beamten an, in der es heißt: "Der Verdacht der organisierten Bettelei liegt auch dann vor, wenn drei oder mehrere Personen in verabredeter Verbindung der Bettelei nachgehen, ungeachtet dessen, ob sie verwandt sind oder nicht".

Im Kommunalen Sicherheitsbericht der Stadt Esslingen heißt es: "'Organisiertes' Betteln liegt vor, wenn das Betteln nicht der Beseitigung einer Notlage einer einzelnen Person dient, sondern eine systematische Einnahme- und Gewinnerzielungsabsicht dahinter steht. Diese Bettelform geht oftmals einher mit Mitleid erregenden Demutsgesten und -haltungen der bettelnden Personen." Allerdings wendet der Bericht einschränkend ein: "In der täglichen Praxis gestaltet es sich äußerst schwierig, die Existenz von 'organisierter Bettelei' nachzuweisen". Der Grazer Polizeidirektor, Helmut Westermayer, der offensichtlich von Politikern missbräuchlich mit der Aussage zitiert worden war, 80 Prozent der Bettelei in Graz sei organisiert, erklärte Anfang dieses Jahres: "Die Zahlen kann ich nicht bestätigen, dafür müssten wir eine Statistik führen".

Die Polizei kann keine Zahlen vorweisen, die belegen könnten, dass die Bettelaktivitäten von Roma "bandenmäßig organisiert", und die Bettler von "kriminellen Banden" ausgebeutet werden.


An Belegen fehlt es auch der Politik

Im Februar 2004 richtete der belgische Abgeordnete François-Xavier de Donnéa eine schriftliche Anfrage an den Föderalen öffentlichen Dienst, dem das Ausländeramt untersteht, zum Thema "Kinderbettelei". Er wollte wissen, wie viele Erwachsene und Kinder in Belgien betteln würden, wie viele Personen wegen Menschenhandels verfolgt würden und wie viele Kinder aus der Obhut von Erwachsenen entfernt worden seien, die sie ausbeuten.

Obwohl der Innenminister zu keiner dieser Fragen auch nur ansatzweise Zahlen nennen konnte, wusste er, dass sich "hinter diesen Praktiken richtige Organisationen verbergen". Diese seien meist auf familiärer Basis organisiert und würden ihre Landsleute in ihren Ländern rekrutieren: "Der Organisator steckt die gesamten Einnahmen der Aktivitäten ... ein".

Auf die parlamentarische Anfrage des griechischen Europaabgeordneten, ob die EU-Kommission "Zahlen oder sonstige Angaben zu dieser Form des organisierten Verbrechens [organisierte Bettelei]" habe, antwortete der frühere Kommissar für Justiz, Freiheit und Sicherheit, Jacques Barrot, im Februar dieses Jahres, die Kommission habe eine allgemeine Studie über das Phänomen "Menschenhandel" initiiert, deren Ergebnisse noch im gleichen Monat vorliegen sollten. Außerdem würde die Kommission eine weitere Studie initiieren, die sich spezifisch mit dem Problem bettelnder Kinder befassen werde.

EUROPOL beschreibt in ihrem Jahresbericht zum Thema Menschenhandel in der Europäischen Union lediglich einen nicht näher identifizierten Einzelfall, aus dem sie schließt, dass die "Menschenhändler klare Gewinnerwartungen hätten, die zwischen 20 000 und 30 000 Euro pro Monat lägen, und dass in der Herkunftsstadt der Menschenhändler in Rumänien villenartige Häuser gebaut worden seien. In dieser Gegend würde der Bau von Häusern, die mehr als 100 000 Euro kosten würden, eine klare Botschaft abgeben, dass sich Straftaten lohnen. Der Bericht ähnelt in verblüffender Weise den Aussagen des Experten für Menschenhandel. Auch der Jahresbericht zum Thema "organisierte Kriminalität" enthält kaum greifbare Informationen. Hier heißt es lediglich. "Organisierte kriminelle Romagruppen aus Rumänien beherrschen den Kinderhandel. In Fällen, in denen Kinderopfer identifiziert wurden, wurde festgestellt, dass sie kaum bereit waren, mit den Behörden zu kooperieren".


Europa jagt bettelnde Roma

In mehreren Ländern hat die Polizei inzwischen Spezialeinheiten eingerichtet, die sich auf "Zigeunerkriminalität" spezialisieren. Dabei geht es sowohl um Diebstahl, "Menschenhandel", als auch "organisierte Bettelei", die allesamt vage definiert und miteinander gleichgesetzt werden. So richtete die Polizei in Saint Denis, einem Vorort von Paris, bereits 2004 eine Sondereinheit "Spargator" ein, das rumänische Wort für Dieb, deren Ermittlungen die Grundlage für mehrere Razzien in Barackenlagern lieferten, in denen osteuropäische Roma leben. Die Kölner Polizei schuf das Sondereinsatzkommando "Tasna", das sich auf jugendliche StraßendiebInnen aus dem ehemaligen Jugoslawien spezialisierte. Britische und rumänische PolizistInnen haben sich im Rahmen von EUROPOL zu einem gemeinsamen Ermittlungsteam zusammengeschlossen, das die "Ausbeutung rumänischer Romakinder durch Mitglieder ihrer Gemeinschaft" untersucht.

In einem Aktivitätenreport berichtet das rumänische Innen- und Verwaltungsministerium über eine Reihe gemeinsamer Polizeiaktionen, die im Sommer und Frühherbst 2007 in der Umgebung von Rom durchgeführt wurden. Wesentliches Ziel dieser Aktionen seien die Romalager, die Ausbeutung von minderjährigen Kindern für kriminelle Zwecke und Prostitution in Rom gewesen. Außerdem habe es Aktionen gegeben, "um die Personen zu identifizieren, die betteln oder die Windschutzscheiben von Autos in den Straßen waschen, sowie Obdachlose". Im schweizerischen Bern richtete der Leiter der Fremdenpolizei, Alexander Ott, im März vergangenen Jahres das Pilotprojekt "Agora" ein, das zum Ziel hatte "organisierte Bettlerbanden [zu] bekämpfen und von Bern fernzuhalten. Bei einem landesweiten Treffen beschlossen die Polizeivorsitzenden mehrerer Schweizer Kantone einen verstärkten Informationsaustausch zum Thema "Bettler". Angedacht sei auch der Aufbau einer gemeinsamen Datenbank, wie sie bereits für die "gitans" (deutsch: Zigeuner) bestehe.

Mit dem Einsatz dieser Einheiten erhöht sich nicht nur der Druck auf die Menschen, die keine andere Überlebensmöglichkeit haben, als auf der Straße zu betteln. Sie tragen außerdem zu einer gesellschaftlichen Stigmatisierung aller Sinti und Roma bei, die als Volk von Bettlern und Dieben gebrandmarkt werden.


Karin Waringo ist promovierte Politologin und Expertin für Südosteuropa. Sie ist Vorsitzende der Menschenrechtsvereinigung Chachipe, die sich für die Rechte der Roma einsetzt.
http://romarights.word-press.com/


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Quelle:
Der Schlepper Nr. 50 - Frühling 2010, Seite 60-63
Quartalsmagazin für Migration und Flüchtlingssolidarität in
Schleswig-Holstein
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Juli 2010