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WOHNEN/175: Der »Housing-First-Fonds« - damit Wohnungslose ein Zuhause bekommen (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 166 - Heft 04/19, 2019
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Der »Housing-First-Fonds« - damit Wohnungslose ein Zuhause bekommen

Von Hubert Ostendorf



»fiftyfifty« ist eine gemeinnützige Organisation zur Unterstützung von Obdachlosen im Raum Düsseldorf. In verschiedenen Projekten werden unterschiedliche Lebenshilfen angeboten wie etwa das auch über Düsseldorf hinaus bekannte Straßenmagazin »fiftyfifty« oder das Projekt »Housing First«. Geschäftsführer Hubert Ostendorf berichtet vom aktuellen Projekt Housing-First-Fonds, das Organisationen der Wohnungslosenhilfe dabei unterstützt, Wohnungen für Wohnungslose zu kaufen.

In deutschen Großstädten liegt der Anteil an Sozialwohnungen oft nicht einmal bei fünf Prozent - bei sinkender Tendenz, weil in den letzten Jahren massenhaft preiswerter Wohnraum an Konzerne verkauft wurde. »In den 77 deutschen Großstädten fehlen gut 1,9 Millionen bezahlbare Wohnungen, darunter etwa 1,4 Millionen günstige Apartments unter 45 Quadratmetern für Einpersonenhaushalte«, heißt es in einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung (2018). Und weil dies so ist, haben sozial Benachteiligte es sehr schwer auf dem umkämpften Wohnungsmarkt. Obdachlose haben so gut wie gar keine Chancen. Ihnen bleiben Notunterkünfte und allenfalls spezielle Einrichtungen, aus denen heraus die Vermittlung in reguläre Wohnungen des freien Marktes kaum gelingt, sodass sie zumeist wieder auf der Straße landen. Sozialforscher nennen das Phänomen der immer wiederkehrenden Obdachlosigkeit »Drehtüreffekt«: vom Betreuten Wohnen wieder auf die Straße, von dort erneut in die Notunterkunft und auf die Straße. Jede erneute Wohnungslosigkeit ist aber wieder mit negativen Begleiterscheinungen wie Verschärfung von Sucht, Verelendung, Kriminalisierung und gesundheitlicher Ruin verbunden. Dabei gibt es gute Ansätze und Beispiele dafür, wie es gelingen kann, wohnungslose Menschen dauerhaft von der Platte zu holen.

Mit der Wohnung anfangen

Einiges lässt sich von der österreichischen Hauptstadt lernen. Hier wird mit Erfolg ein Modell praktiziert, das ursprünglich aus den USA stammt: Housing First. Das bedeutet: Obdachlose werden direkt in normale Wohnungen vermittelt - Wohnungen in normalen bürgerlichen Häusern, mit normalen Mietverträgen. Hinzu kommen wohnbegleitende und tagesstrukturierende Maßnahmen, um alle anderen Probleme wie etwa Schulden, Sucht, Arbeitslosigkeit etc. in Angriff zu nehmen und so den dauerhaften Erhalt der Wohnung zu gewährleisten.

Housing First ist nicht nur menschenwürdig, sondern auch preiswerter. Denn im Laufe einer langen Wohnungslosigkeit können gut und gerne bis zu 300.000 Euro Kosten pro »Fall« für stationär Betreutes Wohnen anfallen. Mit dem Ergebnis, dass danach oft wieder ein Leben (mit den oben beschriebenen Kosten verursachenden Begleiterscheinungen) auf der Straße folgt, weil es eben keine Wohnungen für diese Menschen gibt, die auch nur von wenigen Vermietern als Mieter akzeptiert werden. Dort, wo Housing First praktiziert wird, sind die Erfolge überwältigend. Nach fünf Jahren leben noch über 90 Prozent in ihren Wohnungen.

Wien als Vorbild

In Österreich gehört Housing First zum Standard in der Wohnungslosenhilfe. Vor Aufnahme eigener Housing-First-Aktivitäten hat sich das fiftyfifty-Team darum im Jahr 2015 in Wien bei der wegweisenden Organisation »Neunerhaus« (www.neunerhaus.at) kundig gemacht und dabei Erstaunliches erfahren. Die Hauptstadt der Alpenrepublik blickt auf über 90 Jahre sozialen Wohnungsbau zurück und »gilt international als Beispiel für einen funktionierenden Markt für günstigen Wohnraum«, wie der Ökonom Claus Michelsen vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) konstatiert (Süddeutsche Zeitung, 2016). Die Stadt kontrolliert mit über 220.000 Gemeindewohnungen - was für ein schönes Wort gegenüber dem deutschen, abfälligen Begriff »Sozialwohnung« - mehr als ein Viertel des gesamten Marktes. Hinzu kommen noch viele Genossenschaftswohnungen. Sechs von zehn Menschen wohnen in Wien in geförderten Wohnungen.

Österreich hat den Bestand an subventionierten Wohnungen konsequent ausgebaut. Mit der Folge, dass der Mietpreis in den geförderten Segmenten bei nur etwa 6,50 Euro pro Quadratmeter inklusive Betriebskosten liegt. Ein so niedriger Preis für mehr als die Hälfte aller Bewohner wirkt auch dämpfend auf das freie Marktsegment. Hier liegt der Quadratmeterpreis auch nur bei gut 9 Euro - ein Dumpingbetrag gemessen an Wuchermieten in deutschen Metropolen.

Wer einmal eine Gemeindewohnung hat, muss nie wieder ausziehen, auch nicht, wenn sich das Einkommen erhöht. Auf diese Weise soll verhindert werden, dass in bestimmten Gebieten überwiegend benachteiligte bzw. wohlhabende Menschen wohnen. Ehrlicherweise muss erwähnt werden, dass dies in Wien nur zum Teil gelungen ist. Denn die zwischen 1966 und 1977 erbaute Großfeld-, Rennbahn- und Per-Albin-Hansson-Siedlung »gelten als Ghettos in einer Stadt, die eigentlich keine Ghettos kennt«, wie Ruth Eisenreich in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung (2016) kritisch anmerkt. Dort zitiert sie auch den Stadtplaner Reinhard Seiß, der feststellt: »Jede europäische Stadt hat die Möglichkeit, sozialen Wohnbau zu errichten. Es ist einfach eine Frage des Wollens.«

Housing First in NRW

fiftyfifty praktiziert den Housing-First-Ansatz nun seit fast vier Jahren und hat in dieser Zeit mit Spenden für mittlerweile 60 langzeitobdachlose Menschen Wohnungen gekauft - für Menschen ohne Chancen auf dem herkömmlichen Wohnungsmarkt. Zum Teil leben sie unter einem Dach in zwei gekauften Häusern, zum Teil in diversen Appartements und Wohnungen in ganz normalen Häusern, in denen niemand weiß, dass die dort untergekommenen ehemals Wohnungslosen einmal auf der Straße waren. Auch so funktioniert Schutz vor Diskriminierung. Ziel ist es, weitere Appartements für Wohnungslose zu kaufen und darüber hinaus andere Organisationen dabei zu unterstützen.

Deshalb hat fiftyfifty jetzt zusammen mit dem Paritätischen Wohlfahrtsverband einen Fonds aufgelegt, der auch andere Organisationen in die Lage versetzen soll, Wohnungen zu kaufen und so Menschen von der Straße zu holen. Der sogenannte Housing-First-Fonds versetzt Organisationen der Wohnungslosenhilfe aus ganz NRW in die Lage, den in Deutschland noch wenig verbreiteten, aber sehr vielversprechenden Housing-First-Ansatz umzusetzen. Mit den Fondsmitteln werden Finanzierungsgrundlagen zum Ankauf von Wohnungen geschaffen (in der Regel 20 Prozent plus Kaufnebenkosten) sowie Umbaumaßnahmen mitfinanziert. Darüber hinaus werden kompetente Fachberatung und Begleitung geboten. Die Implementierung und Durchführung des Projekts wird durch das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales NRW bis Ende November 2020 gefördert.

14 Organisationen der Wohnungslosenhilfe konnten seit Projektbeginn bereits für den Housing-First-Fonds gewonnen werden. Immerhin 29 Wohnungen quer durch NRW sind mittlerweile in der Kaufabwicklung, in Renovierung oder sogar schon bewohnt - ein toller Erfolg.

Der Housing-First-Fonds wird durch den Verkauf von Kunst finanziell ausgestattet: Einer der weltweit am höchsten gehandelten Künstler, Gerhard Richter, spendete dem Projekt eine eigene Edition (18 Bilder). Erwartet werden insgesamt Verkaufserlöse von mehr als einer Million Euro. Damit soll der Ankauf von bis zu 100 Wohneinheiten für zuvor wohnungslose Menschen bezuschusst werden. Mehr Infos unter: www.housingfirstfonds.de.

Politik ist gefordert

fiftyfifty kann mit Housing First die Wohnungslosigkeit natürlich nicht überwinden und kann nicht Lückenbüßer für eine verfehlte Politik sein. Da, wo lange schon und nach wie vor der Staat versagt, springt fiftyfifty aktuell sozusagen in die Bresche, nicht ohne die Versäumnisse lautstark anzuklagen und Forderungen zu erheben. Tatsächlich ist hier aber, wie der verstorbene Künstler Jörg Immendorff einmal völlig zu Recht sagte, »knallhart der Staat gefragt«. Gerade in Zeiten, in denen AfD und andere neue Rechte die soziale Ausgrenzung weiter fördern, muss das durch fiftyfifty gegebene Beispiel dazu dienen, einen Paradigmenwechsel in der Wohnungslosenhilfe und in der Sozialpolitik zu befördern. Wir brauchen endlich wieder mehr bezahlbaren Wohnraum für breite Bevölkerungsschichten. Denn einen Anspruch auf eine Sozialwohnung haben angesichts steigender Mieten und immer mehr prekärer Beschäftigung nicht mehr nur soziale Notfälle, sondern mittlerweile fast die Hälfte der Bevölkerung. Das ist der eigentliche Skandal. Wenn es um Gerechtigkeit geht, müssen wir dem massiv entgegenwirken. Denn Wohnen ist ein Menschenrecht, und jeder Mensch braucht ein Zuhause.

(Literatur beim Verfasser)


Hubert Ostendorf, Dipl.-Religionspädagoge, Verlagskaufmann; Gründer, Geschäftsführer, leitender Redakteur von fiftyfifty

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 166 - Heft 04/19, 2019, Seite 23
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorinnen und der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. März 2020

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