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AGRAR/1676: Westliche Sanktionen, russische Gegensanktionen und der Agrarhandel (idw)


Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien (IAMO) - 13.08.2014

Westliche Sanktionen, Russische Gegensanktionen und der Agrarhandel



Halle (Saale), 13. August 2014 - Als Reaktion auf die Wirtschaftssanktionen des Westens hat die russische Regierung am 6. August ein Importverbot für die meisten Nahrungsmittel und Agrarprodukte aus der Europäischen Union, den Vereinigten Staaten, Norwegen, Kanada und Australien angekündigt. Das vollständige Ausmaß der Maßnahmen und deren Effekte für den Agrarhandel, die Konsumenten und Produzenten sind bisher noch nicht klar absehbar. Dennoch lassen einige Fakten, die "Mechanik" internationaler Agrarhandelsbeziehungen sowie ein Blick in die jüngere Vergangenheit erste Schlussfolgerungen zu. "Die Agrarmärkte reagieren auf solch einschneidende politische Ereignisse wie der Agrarimportstopp der Russischen Föderation. Mittelfristig werden Anpassungsreaktionen des Handels negative Auswirkungen auf die europäische Agrarwirtschaft sowie für die russischen Verbraucher dämpfen", so IAMO-Direktor Prof. Dr. Thomas Glauben.

Die Fakten: Russland importiert über 50 Prozent seiner Lebensmittel; vor allem Fleisch, Früchte und Gemüse, Fisch sowie Milchprodukte. In 2013 belief sich der Importwert auf gut 40 Mrd. USD. Russland stellt mit rund 13 Prozent des EU-Agrarexportvolumens (knapp 16 Milliarde USD) den zweitwichtigsten Absatzmarkt der europäischen Ernährungswirtschaft dar.

Bei den vom Verbot betroffenen Produkten lieferten die Länder der EU in den letzten Jahren ca. 20 Prozent (ca. 1 Mrd. USD/Jahr) der Schweinefleischexporte und bis zu 40 Prozent (ca. 200 Mio. USD/Jahr) ihrer Rindfleischexporte nach Russland. Bei Milcherzeugnissen stellen Butter, Käse und Quarkprodukte mit knapp einem Viertel der Gesamtexporte einen wichtigen Posten dar. Für verschiedene Gemüsesorten (Tomaten, Kohl und Möhren) sowie Obst (Äpfel, Aprikosen, Zitrusfrüchte) stellt Russland ebenso einen wichtigsten Absatzmarkt dar. Bis zu 50 Prozent der EU-Exporte werden dort verkauft. Gleichzeitig agiert die EU bei einigen der Produkte (z. B. Milchprodukte und Schweinefleisch) als wichtiger Exporteur auf den Weltmärkten (mit bis zu 20 Prozent des Welthandels). Auch die russischen Importe absorbieren einen nicht unerheblichen Teil des globalen Handels (bis zu 15 Prozent) bei Produkten, wie beispielsweise gefrorenes Rindfleisch, Früchte und Butter.

Was darf erwartet werden: Kurzfristig sind durchaus spürbare Effekte sowohl für Agrarwirtschaft und Verbraucher zu erwarten. Dies unterstreichen die Erfahrungen aus den ad hoc Agrarhandelsrestriktionen verschiedener Getreideexportnationen im Kontext des jüngsten Preisbooms auf internationalen Getreidemärkten. Diese wirkten sozusagen in "umgekehrter" Weise. Einige Hauptgetreideexporteure, darunter auch Russland und die Ukraine, hatten ihre Weizenexporte in den Hochpreisjahren 2007/8 sowie 2010/11 durch Quoten und Exportverbote massiv eingeschränkt.

Dies hatte Folgen. Das Weizenangebot auf internationalen Märkten wurde (kurzfristig) eingeschränkt, die Weizenpreise erhöhten sich und Verbraucher, insbesondere in Entwicklungsländern, sahen sich höheren Brotpreisen gegenüber. Gleichzeitig wurden die nationalen Märkte dieser Getreideexporteure vom globalen Marktgeschehen abgekoppelt und erheblich verunsichert. Ukrainische und russische Landwirte und Agrarhändler mussten massive Einkommenseinbußen hinnehmen.

In gewisser Analogie dazu dürfen folgende kurzfristige Effekte durch den Agrarimportstopp Russlands erwartet werden. Auf der Suche der Europäer, Nordamerikaner und Australier nach neuen Absatzmärkten wird das Angebot auf internationalen Märkten kurzfristig steigen. Die Märkte werden verunsichert und Preise werden unter Druck geraten. Der europäische Handel wird Verluste an Exporterlösen hinnehmen müssen. Sollten die Preissenkungen von Groß- und Einzelhandel an Landwirte und Verbraucher "weitergereicht" werden, was sehr fraglich ist, dann müssten europäische Landwirte leichte Einkommensverluste hinnehmen, hingegen profitierten europäische Verbraucher. Allein der "überschaubare" landwirtschaftliche Wertschöpfungsanteil an den Exporterlösen würde mögliche Preiseffekte dämpfen. In Russland stehen die Konsumenten zunächst einer eingeschränkten Produktpalette und höheren Nahrungsmittelpreisen gegenüber. Dies wird auch die geplante "Deckelung" verschiedener Nahrungsmittelpreise nicht vollständig verhindern können. Kurzfristig wird der russische Agrarsektor vermutlich nicht in einem erheblichen Maße betroffen sein. Etwas profitieren kann er von temporären Preissteigerungen und verstärkten Staatbeihilfen.

Aus einer mittelfristigen Perspektive werden viele der genannten kurzfristigen Effekte durch Anpassungsreaktionen, insbesondere durch Handelsumlenkungen, abgeschwächt bzw. "umgekehrt". Es wird sich zeigen, dass globale Handelsstrukturen geeignet sind, Krisen zu begegnen. Europäische Handelshäuser werden in der Lage sein, andere Absatzmärkte, etwa in Asien, zu bedienen. Und Russland wird seine Importnachfrage anderweitig, wie etwa in Brasilien, Argentinien und Türkei, realisieren.

Erste Initiativen sind bereits gestartet. Das heißt, es ist zu erwarteten, dass sich insgesamt das Welthandelsvolumen, eben das globale Angebot und die globale Nachfrage, nicht drastisch verändern werden. Lediglich die internationalen Agrarhandelsströme werden anders verlaufen. Allerdings wird der Handel bedingt durch die Umlenkungen der Handelsströme suboptimal organisiert sein. Das bedeutet, die Preise werden in Folge steigender Transportaufwendungen und sonstiger Transaktionskosten anziehen; aber sicherlich nicht drastisch. Der Verbraucher - sowohl in Europa als auch in Russland - wird die Preislast tragen müssen. Für die europäische Landwirtschaft sind mittelfristig keine einschneidenden Auswirkungen zu erwarten.

Wie sich der russische Importstopp langfristig auswirkt, ist schwierig abzuschätzen. Dies hängt maßgeblich von der Dauer der Maßnahmen, sowohl der westlichen Sanktionsmaßnahmen als auch des russischen Agrarboykotts ab. Entscheidend ist, unter welchen Bedingungen die Sanktionen wieder aufgehoben werden und insbesondere welche Lösung es im Ukraine-Konflikt geben wird. Ein weiter andauernder Konflikt führt, neben den verheerenden humanitären Wirkungen, zu einer anhaltenden Verunsicherung von Investoren, zur Abkehr der wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland und zur Behinderung der wirtschaftlichen Entwicklung Europas.

Ein dauerhafter Konflikt wird sich langfristig auch negativ, sowohl auf den europäischen als auch auf den russischen Agrarsektor, auswirken. Russland ist ein wichtiger Absatzmarkt für die europäische und deutsche Agrar- und Ernährungswirtschaft. Er birgt erhebliche längerfristige Potenziale zu beider Nutzen. Der Verlust europäisch-russischer Agrarhandelsbeziehungen und stärkere russische Autarkiebestrebungen werden die weitere Entwicklung des Agrarsektors und ländlicher Räume in der Russischen Föderation hemmen. "Vor einem lang anhaltenden Handelskonflikt zwischen der EU und der Russischen Föderation kann nur gewarnt werden. Die Sanktionen und Gegensanktionen gefährden letztendlich auch den Austausch von Wissen und Wissenschaft - eine Voraussetzung für Innovation, Wachstum und Wohlstand", so IAMO-Direktor Thomas Glauben.


Weiterführende Informationen

Glauben, T., Djuric, I., Götz, L., Koester, U., Loy, J.-P., Pàll, Z., Perekhozhuk, O., Prehn, S., Renner, S. (2013): Funktionieren osteuropäische Agrarmärkte? Vorsicht vor staatlich verordneten Markteingriffen! IAMO Policy Brief No. 11, Halle (Saale).

Glauben, T., Belyaeva, M., Bobojonov, I., Djuric, I., Götz, L., Hockmann, H., Müller, D., Perekhozhuk, O., Petrick, M., Prehn, S., Prishchepov, A., Renner, S., Schierhorn, F. (2014): Die Kornkammer des Ostens blockiert ihre Markt- und Wachstumschancen. IAMO Policy Brief No. 16, Halle (Saale).

Petrick, M. (2014): Russia's agricultural modernisation policy under WTO commitments: Why the EU's Common Agricultural Policy is a poor model. IAMO Policy Brief No. 18, Halle (Saale).

Hier können Sie die IAMO Policy Briefs kostenfrei herunterladen:
www.iamo.de/publikation/policybriefs


Über das IAMO

Das Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien (IAMO) widmet sich der Analyse von wirtschaftlichen, sozialen und politischen Veränderungsprozessen in der Agrar- und Ernährungswirtschaft sowie in den ländlichen Räumen. Sein Untersuchungsgebiet erstreckt sich von der sich erweiternden EU über die Transformationsregionen Mittel-, Ost- und Südosteuropas bis nach Zentral- und Ostasien. Das IAMO leistet dabei einen Beitrag zum besseren Verständnis des institutionellen, strukturellen und technologischen Wandels. Darüber hinaus untersucht es die daraus resultierenden Auswirkungen auf den Agrar- und Ernährungssektor sowie die Lebensumstände der ländlichen Bevölkerung. Für deren Bewältigung werden Strategien und Optionen für Unternehmen, Agrarmärkte und Politik abgeleitet und analysiert. Seit seiner Gründung im Jahr 1994 gehört das IAMO als außeruniversitäre Forschungseinrichtung der Leibniz-Gemeinschaft an.

Bitte beachten Sie: Im Januar 2014 wurde das Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Mittel- und Osteuropa in Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien umbenannt. Die Institutsabkürzung IAMO bleibt weiterhin gültig.

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution418

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien (IAMO),
Daniela Schimming, 13.08.2014
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. August 2014