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ARBEIT/1724: Halbjahresbilanz 2009 zu Arbeitskämpfen (idw)


Hans-Böckler-Stiftung - 29.07.2009

WSI-Halbjahresbilanz 2009 zu Arbeitskämpfen

300.000 Streikende im ersten Halbjahr - weniger Flächenstreiks, aber viele betriebliche Auseinandersetzungen


Vor dem Hintergrund der anhaltenden Wirtschaftskrise hat sich der Trend zu konfliktreichen Tarifrunden auch im Jahr 2009 mit einer ganzen Reihe von Arbeitskämpfen fortgesetzt. Zwar waren mit rund 300.000 Streikenden deutlich weniger Beschäftigte als im Vergleichszeitraum des Vorjahres an Streiks und Warnstreiks beteiligt, doch blieben Konflikthäufigkeit und Streikvolumen auf einem anhaltend hohen Niveau. Dies zeigt die Halbjahresbilanz zur Arbeitskampfentwicklung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung. Das Arbeitskampfvolumen schätzt das WSI für die ersten sechs Monate des Jahres 2009 auf etwa 350.000 Streiktage. Im gesamten Jahr 2008 fielen nach WSI-Schätzungen etwa 542.000 Arbeitstage wegen Arbeitskämpfen einschließlich Warnstreiks aus.

Ein wesentlicher Grund für den zahlenmäßigen Rückgang bei den Streikbeteiligten in diesem Jahr liegt darin, dass einige Großbranchen, darunter die Metallindustrie, bereits im letzten Jahr Tarifverträge geschlossen hatten, die auch 2009 umfassen. In anderen Branchen wurde 2009 rascher als in den Vorjahren eine Tarifeinigung erzielt, so WSI-Arbeitskampfexperte Dr. Heiner Dribbusch. Dies gilt insbesondere für den Einzelhandel, wo es diesmal bereits nach knapp zweieinhalb Monaten und lediglich 820 Streikaktionen zu einem Pilot-Abschluss kam. Die Tarifrunde 2007/2008 hatte sich hingegen über mehr als zwölf Monate hingezogen, begleitet von mehr als 6.000 Streikaktionen.

Umfangreiche Warnstreiks und ganztägige Arbeitsniederlegungen fanden zu Beginn des Jahres während der Tarifrunde der Länder statt. Dabei stellten nach Dribbuschs Untersuchung erstmals die angestellten Lehrerinnen und Lehrer die größte Gruppe von Streikenden. In den bisher größten Streikaktionen in der Geschichte der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), an denen auch Mitglieder der Gewerkschaften des Deutschen Beamtenbundes sowie Unorganisierte beteiligt waren, legten etwa 100.000 Lehrerinnen und Lehrer die Arbeit nieder. Die große Mehrheit der Streikenden waren Frauen.

Auch der zweite Großkonflikt, die bundesweite Auseinandersetzung bei den Kindertagesstätten, wurde von Frauen getragen. Seit Anfang Mai streikten in mehreren Wellen nach Gewerkschaftsangaben nahezu 150.000 Erzieherinnen und Erzieher für einen Tarifvertrag zum Gesundheitsschutz. Im Zusammenhang mit der Tarifrunde, die die IG Metall in der Textil- und Bekleidungsindustrie führte, fanden im März umfangreiche Warnstreiks mit knapp 9.000 Beteiligten statt.

Die Anzahl der Streiks wird von der amtlichen Statistik nicht erfasst. Doch sieht Dribbusch Anzeichen dafür, dass die in den letzten Jahren zu beobachtende Zunahme von Arbeitskämpfen anhält. Ein Indikator ist, dass allein die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di im ersten Halbjahr 2009 über 118 Anträge auf Arbeitskampfmaßnahmen entschieden hat. 2008 waren es insgesamt 149. 2007 lediglich 82.

Der Großteil aller Arbeitskämpfe sind Konflikte um Firmen- und Haustarifverträge, bilanziert Dribbusch. Die zunehmende Zersplitterung der Tariflandschaft, Tarifflucht und die Weigerung vieler Unternehmen, überhaupt einen Tarifvertrag abzuschließen, seien die wesentlichen Gründe für die Zunahme so genannter "Häuserkämpfe", erklärt der Wissenschaftler. Diese Konflikte können sich teilweise über viele Monate, im Einzelfall sogar länger als ein Jahr hinziehen. Als Beispiel nennt Dribbusch die Auseinandersetzung von Pflegekräften um einen Tarifvertrag bei der Lippischen Nervenklinik Dr. Spernau in Bad Salzuflen. Nachdem seitens ver.di über ein Jahr vergeblich versucht wurde, zu einer Einigung zu gelangen, kam es seit April diesen Jahres immer wieder zu Arbeitsniederlegungen. "Der Klinikbesitzer, der bisher prinzipiell jeden Tarifvertrag verweigert, versucht die Auseinandersetzung mit dem Einsatz von Leiharbeitsfirmen auszusitzen", berichtet Dribbusch.

Mehrere Firmen-Auseinandersetzungen betrafen Umstrukturierungen und Arbeitsplatzabbau. Beispiele sind unter anderem die Auseinandersetzung um geplante Entlassungen beim Wiesbadener Autozulieferer Federal Mogul im Mai sowie der fünfwöchige Streik beim IT-Unternehmen EDS, bei dem es nach der Übernahme des Unternehmens durch Hewlett Packard um Standortschließungen, Massenentlassungen sowie die Sicherung der Einkommen ging.

Das erste Halbjahr 2009 zeige, dass die Beschäftigten auch in der Krise bereit seien, ihre Interessen mit Arbeitskämpfen zu verteidigen. "Die Gewerkschaften bleiben mobilisierungsfähig", resümiert WSI-Experte Dribbusch. "Sollte es im weiteren Verlauf des Jahres zur Androhung von Standortschließungen und Massenentlassungen kommen, ist mit einer Zunahme von defensiven Arbeitskämpfen zu rechnen."

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution621


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Hans-Böckler-Stiftung, Rainer Jung, 29.07.2009
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Juli 2009