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ARBEIT/2751: Agrar- und Schlachtindustrie - Nach wie vor Ausbeutung und Ausgrenzung (UBS)


Unabhängige Bauernstimme, Nr. 414 - Oktober 2017
Die Zeitung von Bäuerinnen und Bauern

Nach wie vor Ausbeutung und Ausgrenzung
Arbeit in der deutschen Agrar- und Schlachtindustrie

von Guido Grüner


Werden im Jahr 2017 Nahrungsmittel in Deutschland unter korrekten Arbeitsbedingungen erzeugt? Man könnte dies meinen, schließlich wurden hierzu in den vergangenen Jahren zahlreiche neue Gesetze verabschiedet. Infolge breiter Proteste von GewerkschafterInnen, Kirchen, Initiativen und nach zahlreichen Medienberichten insbesondere über die Arbeits- und Wohnverhältnisse in der Fleischindustrie Süd-Oldenburgs wurden Mindeststandards für Wohn- und Arbeitsverhältnisse definiert: ab Januar 2014 für Arbeiterunterkünfte in Niedersachsen, ab Juli 2014 der Mindestlohntarifvertrag für die Fleischindustrie, ab August 2014 der allgemeine Mindestlohn, ab dem 1. Januar 2015 der Mindestentgelttarifvertrag für die Land- und Forstwirtschaft. Kürzlich wurde nachgelegt. Im Juli 2017 trat ein "Gesetz zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten in der Fleischwirtschaft" in Kraft, mit dem u. a. Abzüge vom Lohn für Arbeitsmittel für unzulässig erklärt wurden und eine Generalunternehmerhaftung für Sozialbeiträge eingeführt wurde.

Fettgürtel Niedersachsens

Die Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg berät Menschen mit fehlenden bzw. geringen Einkommen im "Fettgürtel Niedersachsen". Unser Angebot unweit zahlreicher Geflügel- und Schweineschlachthöfe und der angeschlossenen Fleischverarbeitungsfabriken von u. a. Danish-Crown, PHW/Wiesenhof, Tönnies, VION wird auch von dort tätigen ArbeiterInnen angenommen. Unzweifelhaft können die genannten Mindestregelungen zumindest als Prüfmaßstäbe dienen. Niemand wird jedoch die in den Mindestlohnregelungen enthaltenen Stundenlöhne von inzwischen rund neun Euro als ausreichend einschätzen. Auch die für Niedersachsen auf dem Papier stehenden Anforderungen an gesunde Unterkünfte für Beschäftigte sind armselig: eine Toilette und eine Dusche mit Warm- und Kaltwasser für je acht Personen, ein Waschbecken für je vier Personen, bei Schlafräumen mit bis zu sechs Betten sind je BewohnerIn mindestens sechs Quadratmeter vorgeschrieben. Dass die Lage vieler ArbeiterInnen bis heute nicht einmal auf diesen Stand verbessert wurde, können wir selbst infolge vieler Beratungsgespräche feststellen und teilen diese Erfahrungen mit anderen Beratungsstellen und Gewerkschaften. Nach Aussagen Betroffener werden ArbeiterInnen auch immer noch von Vorarbeitern rassistisch beschimpft und in einzelnen uns zugetragenen Fällen gar geschlagen. Geändert hat sich die Situation durch die in den letzten Jahren geschaffenen mobilen und mehrsprachigen Beratungsangebote. Regelmäßig veranlassen BeraterInnen Berichte in den örtlichen Medien, die Verwaltung und Politik das Wegsehen nicht mehr so leicht machen. Beschäftigte sagten uns, dass es heute längst nicht mehr so schlimm sei wie früher.

Arbeitsrecht = Ausbeutungsrecht

Das Arbeitsrecht eröffnet zahlreiche Möglichkeiten, ArbeiterInnen unter Druck zu setzen. Arbeitsverträge sind beinahe grundsätzlich auf wenige Monate befristet, auch beim Einsatz in Fabriken, die das ganze Jahr hindurch produzieren. Oft entspricht die Probezeit der Vertragsdauer. Ergebnis: Wer nicht spurt, wer sich beschwert oder krank wird, fliegt, da Probezeitkündigungen grundlos und quasi von heute auf morgen möglich sind. Aufgrund der Zulässigkeit von Überstunden und der rechtlichen Schlechterstellung von nicht-deutschen EU-Bürgern finden wir Lohnabrechnungen mit Arbeitszeiten weit über 200 Stunden monatlich. Massiv erschwerend kommt für migrantische ArbeiterInnen hinzu, dass in dieser Industrie mit der Vergabe von Aufträgen (Werkverträgen, Serviceaufträgen) und der Leiharbeit die Arbeitgeberverantwortung der eigentlichen Konzerne quasi gen Null reduziert wurde. Für die beim Leih- oder Werkvertragsbetrieb angestellten ArbeiterInnen entsteht hinsichtlich ihres Beschäftigungsverhältnisses ein schwer durchschaubarer Nebel, in dem kaum auszumachen ist, wer denn für Entscheidungen zum Arbeits- und Verwaltungsablauf zuständig oder verantwortlich ist.

Druck und Unterwerfung

Auf den ArbeiterInnen in den Schlacht- und Zerlegebetrieben lastet auch aufgrund der geforderten Geschwindigkeit ein immenser Druck. "Schneller", erklärte eine Arbeiterin, ist das erste deutsche Wort, das im Betrieb gelernt wird. Abzüge vom Lohn für Arbeitsmittel oder angebliche Verstöße gegen Hygienevorschriften finden wir zahlreich. ArbeiterInnen trauen sich nicht gegen diese - arbeitsrechtlich schon vor der letzten Gesetzesänderung unzulässige - Maßnahme vorzugehen, da sie die sofortige Entlassung fürchten. Allein schon mit diesen Tricks unterlaufen Betriebe selbst den minimalen Mindestlohn. Auf die Einführung des als Stundenlohn definierten Mindestlohns für den Agrarbereich wurde in dieser die Arbeitsleistung an Stück- oder Kilozahlen messenden Branche "kreativ" reagiert. Parallel zur Einführung des Mindestlohns stiegen die Monatsmieten für das Bett der ErntearbeiterInnen von ca. 100 bis 150 Euro auf 250 bis 300 Euro. Und fortan wurde die Zahl der aufgeführten und bezahlten Arbeitsstunden eben entsprechend der Ernteleistung bestimmt.

Ein gesondertes Thema sind die zahlreichen "Agrarserviceunternehmen" für die Geflügelmäster, Impf-, Ein- und Ausstallungsbetriebe, unter den ArbeiterInnen "Hähnchengreiferbetriebe" genannt. In Niedersachsen werden in Ställen jährlich gut 300 Mio. geflügelte Tiere gefangen, die dann zur vorbestimmten Zeit den Schlachthof erreichen müssen. Eine Kontrolle dieser Arbeitsverhältnisse scheint schwierig, wenn überhaupt gewollt. Manche Betriebe kennen weder bezahlte Urlaubstage noch die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Arbeitsverträge fehlen oft, Lohnabrechnungen sind unvollständig oder fehlen ebenfalls. Von einem Ein- und Ausstallungsbetrieb wurde über 20-Stunden-Schichten zuzüglich langer An- und Abfahrtzeiten zu den Einsatzorten berichtet. Ebenso tragen ArbeiterInnen besonders beim Putenfangen oft Verletzungen davon, da sie die stundenlange Arbeit bei Hitze und Nässe im Stall kaum in voller Schutzkleidung leisten können und viele Tiere sich gegen die Fänger wehren. Ganz zu schweigen von den Folgen der ammoniakhaltigen Luft für Haut und Atemwege der ArbeiterInnen.

Lebensverhältnisse

Das Wohnen in der Arbeiterunterkunft des Arbeitgebers bildet einen Extraknebel. Praktisch ist das Dach über dem Kopf an das Wohlverhalten im Betrieb gebunden. Mietverträge gibt es nicht, die Kosten gehen direkt vom Lohn ab. In einer ArbeiterInnenunterkunft im Zentrum Vechtas regnete es gar rein in die 17-Quadratmeter-Zimmer inklusiv Duschecke für 500 Euro pro Monat. Dort waren bei rund 40 BewohnerInnen immerhin vier Kinder untergebracht. Zimmer hatten verschimmelte Wände, was auch von vielen anderen Unterkünften berichtet wird. Offenkundig ist: Die eingangs angesprochenen Mindestwohnstandards nutzen nichts, wenn es keinen Wohnungsbau gibt. Hinzu kommt die nach rassistischen Kriterien betriebene Ausgrenzung migrantischer ArbeiterInnen bei den wenigen vorhandenen Wohnungsangeboten. Der Zugang zu Einrichtungen des Gesundheits- und Bildungssystems scheitert an den dort nicht vorhandenen Sprachmittlern. Wir haben erlebt, dass sich Ärzte auch bei Anwesenheit von Dolmetschern weigern, ArbeiterInnen krank zu schreiben, da diese dann ihrer Meinung nach ihr Aufenthaltsrecht verlieren würden (was nicht zutrifft). Die ArbeiterInnen bräuchten ökonomische Alternativen zum Verlassen ihrer Herkunftsländer, d. h. eine europäische Politik, die die Zerstörung von Erwerbs- und Versorgungsstrukturen durch die Konzentration z. B. der Lebensmittelerzeugung und -verarbeitung in wenigen Ländern beendet und den angerichteten Schaden in vielen Ländern ausgleicht. Die Isolation von migrantischen ArbeiterInnen aufgrund hoher Arbeitsbelastung und fehlender Kenntnisse der deutschen Sprache und oft auch der lateinischen Schrift ist eine zentrale Grundlage für die Ausbeutbarkeit dieser Menschen durch die Ernährungsindustrie. Diese durch eine breite Solidarität zu durchbrechen ist eine wesentliche Voraussetzung, um deren zerstörerische Wettbewerbsfähigkeit einzuschränken.


Guido Grüner, Arbeitslosenselbsthilfe ALSO Oldenburg

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Quelle:
Unabhängige Bauernstimme, Nr. 414 - Oktober 2017, S. 17
Herausgeber: Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft - Bauernblatt e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Dezember 2017

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