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DISKURS/099: Gerechtigkeit jenseits von Wachstum (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 2/2010
Wohlstand durch Wachstum? Wohlstand ohne Wachstum? Wohlstand statt Wachstum?

Gerechtigkeit jenseits von Wachstum

Die Degrowth-Bewegung und die Herausforderung einer gerechten Post-Wachstums-Gesellschaft

Von Barbara Muraca und Tanja von Egan-Krieger


Wirtschaftswachstum gilt immer noch - wenn auch nicht mehr selbstverständlich - als eine Grundbedingung für politische Stabilität und Armutsbekämpfung. Die wachstumskritische Degrowth-Bewegung stellt dies in Frage und setzt sich für eine gerechte und lebensfreundliche Post-Wachstums-Gesellschaft ein.


Wird unsere Wirtschaft 'entwachsen'? Degrowth als Chance für die Gestaltung einer konvivialen Gesellschaft

Wachstumskritik hat nicht zuletzt aufgrund der aktuellen Finanzkrise auch in Deutschland für Schlagzeilen gesorgt. War für die Kritik am Wirtschaftswachstum in den 70er Jahren ein steigendes Bewusstsein für die ökologischen Krise maßgeblich, spielen für die neuen wachstumskritischen Bewegungen neben ökologischen auch soziale und kulturelle Gründe eine wesentliche Rolle. Diese Bewegungen fordern eine aktive und kreative Gestaltung des Weges zu einer Post-Wachstums-Gesellschaft. Ihr Motto lautet: Schrumpfung der Ökonomie steht vor der Tür - entweder gestalten wir den Wandeln im Sinne von intergenerationeller und globaler Verteilungsgerechtigkeit sowie alternativen Vorstellungen eines 'guten Lebens', oder wir werden mit den unerwünschten Folgen einer Stagnation konfrontiert. Auf der zweiten internationalen 'Degrowth-Tagung' in Barcelona im März [1] haben sich Vertreter/innen aus Ländern des globalen Südens dem wachstumskritischen Pfad angeschlossen.

Der französische Begriff 'Décroissance' (Degrowth, Entwachsen) meint weder ökonomische Stagnation noch bloße Wachstumsreduzierung: Beide Begriffe bewegen sich noch innerhalb derselben Wachstumslogik, nach der Wachstum als Bedingung für Wohlfahrt und deswegen auch für Lebensqualität gilt. Stattdessen plädieren Décroissance-Verfechter/innen für ein Konzept von Lebensqualität, das auf Konvivialität und Reziprozität beruht. Wie verhalten sich aber Gerechtigkeitsfragen zu Wachstum bzw. Degrowth? Je nachdem, welches Gerechtigkeitsverständnis zugrunde gelegt wird, ändert sich die Vorstellung über die Vor- und Nachteile von Wirtschaftswachstum für künftige und heute lebende Generationen. In Anlehnung an den von Nussbaum und Sen entwickelten Fähigkeitenansatz und seine Anwendungen vor allem im HDCA (Human Development and Capability Association [2]) stehen für uns im Mittelpunkt von Gerechtigkeitsfragen die substantiellen (= realen und nicht bloß formalen) Möglichkeiten zur Ausführung eines guten, weil erfüllten und gelungenen menschlichen Lebens. Ein solcher Ansatz legt (materiellen) Wohlstand nur zugrunde, insofern er förderlich für die Ausübung eines menschenwürdigen Lebens ist, das neben Einkommen auch Zugang zu Gesundheitsvorsorge, Bildung, gesellschaftliche und politische Teilhabe sowie Selbstbestimmung und Geschlechtergerechtigkeit einschließt.


Ist Wachstum eine Bedingung oder ein Hindernis für soziale Gerechtigkeit?

Wirtschaftswachstum gilt bei vielen noch als Bedingung für soziale Gerechtigkeit, politische Stabilität, Wohlstandssicherung und Verbesserung der Umweltbedingungen durch Investitionen in grüne Technologien. Dieses Vertrauen lässt sich aber laut vieler Degrowth-Anhänger/innen nicht mehr ohne Weiteres begründen.

Zahlreiche Wissenschaftler/innen sind sich mittlerweile darüber einig, dass ein nachhaltiges oder grünes Wachstum nicht einfach ist: Da technische Verbesserungen zu einer Senkung der Kosten der Ressourcennutzung führen und damit ihre intensivere Inanspruchnahme begünstigen, steigt am Ende die gesamte Ressourcenutzung trotzt steigender Ressourceneffizienz (Rebound-Effekt). Ohne starke Regulierungsmechanismen u.a. der Nachfrage, die wiederum wachstumshemmend wirken könnten, führt eine ökologische Modernisierung der Wirtschaft nicht automatisch zu einer geringen Inanspruchnahme von natürlichen Ressourcen und Senken.

Gängige Argumente für ein Festhalten am Wirtschaftswachstum sind, dass es Wohlstandszuwächse für ärmere Bevölkerungsschichten ermögliche, ohne den Reicheren etwas wegnehmen zu müssen. Geht es dabei nur darum, den absoluten Lebensstandard der ärmeren Bevölkerung anzuheben, egal wie stark der Lebensstandard anderer steigt, dann ist dies leichter politisch durchzusetzen. Aber ist dieses Ziel in den Industrieländern mit ihrem vergleichsweise hohen Lebensstandard noch gerechtfertigt, oder wird die Lebensqualität der ärmeren Bevölkerung nicht vielmehr vor allem durch ihren relativen materiellen Wohlstand beeinflusst? Fähigkeiten wie soziale und politische Teilhabe sowie Anerkennung werden vor allem durch einen relativen niedrigen Lebensstandard eingeschränkt. Die Bestimmungen von Armut und Reichtum lassen sich nicht trennen.

Die Ungleichheit hat de facto in den Industrieländern in den vergangenen Jahren trotz oder wegen Wachstums stark zugenommen. Vom Wachstum profitiert hat vor allem eine kleine Oberschicht. ExpertInnen halten eine gewisse Stufe der Ungleichheit für eine notwendige Bedingung von Wachstum, denn sie gilt als Anreiz für soziale Mobilität nach oben. WachstumsverfechterInnen behaupten, dass die Ungleichheit ab einer bestimmten Schwelle bei steigendem BIP sinken würde. Dagegen zeigen zahlreiche empirische Studien, dass dies nicht durch immanente Tendenzen der Wirtschaft geschieht, sondern dank gezielter politischer Maßnahmen zur gerechten Verteilung und nur in den Ländern zu beobachten ist, die großzügig zu solchen Maßnahmen greifen.


Lebensstandard und Lebensqualität klaffen auseinander, in den Industrieländern wie auch im globalen Süden

Laut Max-Neef hat seit den 1980er Jahren die Lebensqualität in vielen westlichen Industrieländern bei wachsendem (materiellen) Lebensstandard nicht mehr zugenommen. Die Unterscheidung zwischen Lebensqualität und Lebensstandard macht deutlich, dass Wirtschaftswachstum nur bis zu einer bestimmten Schwelle zur Lebensqualität beiträgt und es sich darüber hinaus auch negativ auf sie auswirken kann: Gerade die Zerstörung von lebenswichtigen Ökosystemen betrifft heute lebende Menschen, vor allem in den Ländern des globalen Südens. So werden durch Bergbau, intensive Landnutzung und industrielle Ressourcennutzung (z.B. Garnelenzucht an den Stätten von Mangrovenwäldern; Palmöl) die Lebensgrundlagen vieler indigener Völker vernichtet und somit auch ihr Zugang zu notwendigen Bedingungen eines guten Lebens erschwert. Globale Fragen der Umweltgerechtigkeit führen den katalanischen Ökonom Martinez-Alier zu dem Schluss, dass eine Wachstumsrücknahme in den Industrieländern notwendig für eine Entlastung des Drucks auf die Länder des globalen Südens ist.

Andere Décroissance-Denker/innen fordern sogar ein 'Recht' des globalen Südens auf Degrowth und argumentieren, dass gerade der zwanghafte Wachstumspfad der Industrieländer viel mehr an Lebensgrundlagen zerstört, als er im Austausch dafür angeboten habe. Armut werde nur aus und innerhalb der Wachstumslogik mit Elend gleichgesetzt, weil die Zerstörung vielfältiger marktunabhängiger Zugänge zu notwendigen Lebensgrundlagen menschenwürdige und konviviale Armut in Elend verwandle und Menschen vom Wachstum abhängig mache. Die Eindämmung von Elend könne vielmehr durch gerechte Verteilung und den Rückzug westlicher ökonomischer Erfolgskriterien erreicht werden.

Ein weiteres Argument für Wachstum ist die Sicherung von Erwerbsarbeit, die für einen wesentlichen Faktor für Lebensqualität gehalten wird. Mittlerweile gilt aber als nachgewiesen, dass auch ein vergleichsweise hohes Wirtschaftswachstum nicht mehr automatisch zu einer Reduzierung der Arbeitslosigkeit führt (so genanntes 'jobless growth'). Muss aber Vollbeschäftigung an sich eine notwendige Bedingung für ein gutes Leben sein? Erwerbsarbeit ist nicht nur als Einkommensquelle wichtig, sondern auch weil dadurch soziale Anerkennung und Teilhabe ermöglicht werden. In einer nicht wachsenden Wirtschaft sollen deshalb alternative Modelle eines gesellschaftlichen 'Tätig-seins' entwickelt werden, die andere Zugänge zur sozialen Anerkennung, zum Gefühl der eigenen Würde und Wirksamkeit und zur sozialen Partizipation ermöglichen.


Die Herausforderung: Den Wandel gerecht gestalten

Eine schrumpfende Ökonomie unter der herrschenden Wachstumslogik würde - so die Degrowth-Denker/innen - zu schwerwiegende Gerechtigkeitsfolgen für heute lebende und zukünftige Generationen führen. Eine der größten Gefahren einer stagnierenden Ökonomie wäre ein politischer Deregulierungspfad: den öffentlich finanzierten Dienstleistungssektor zugunsten von alten Mustern von Pflege und Fürsorge innerhalb der Familie drastisch zu kürzen, statt durch Umverteilungsmaßnahmen und die Unterstützung von zivilgesellschaftlichen Strukturen (Genossenschaften, Vereine etc.) Grundlagen für die Ausübung eines guten Lebens zu gewährleisten und im Sinne der Geschlechtergerechtigkeit zu handeln.

Der Pfad hin zu einer Décroissance-Gesellschaft läuft über eine Stärkung der Zivilgesellschaft als kreativem und partizipatorischem Ort der Zukunftsgestaltung. Bestandteil dieser Auffassung ist die Fokussierung auf die Kategorie des Lokalen bzw. des Territoriums. Gerade von den Ländern des globalen Südens werden Forderungen nach 'Ernährungssouveränität' immer lauter. Obwohl der Begriff des Lokalen nicht immer mit geographischen Eingrenzungen und der Autonomie lokaler Gemeinden verbunden ist, ertönt in vielen Vorschlägen das Risiko von kirchturmspolitischen Lokalismen in der schlimmsten Tradition eines konservativen Kommunitarismus. Utopische Vorstellungen bergen die Gefahr ideologischer Fixierungen auf Ausschlusskriterien, bis hin zu totalitären Folgen.

Die Gestaltung des Wandels hin zu einer Post-Wachstums-Gesellschaft ist deshalb eine große Herausforderung: Diese bedarf einer mutigen Auseinandersetzung mit Gerechtigkeitsfragen und der aktiven Beteiligung aller Betroffenen in Prozessen der Entscheidungsfindung.


Barbara Muraca hat Philosophie in Turin, Hamburg, Greifswald und Claremont studiert. Z. Zt. ist sie Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Universität Greifswald, wo sie 2008 über den philosophischtheoretischen Rahmen des Nachhaltigkeitskonzepts promoviert hat.

Tanja von Egan-Krieger promoviert in Philosophie zur Normativität in den Wirtschaftswissenschaften bei Prof. Konrad Ott (Universität Greifswald) und Prof. Peter Ulrich (Universität St. Gallen).

Anmerkungen
[1] http://www.degrowth.eu
[2] http://www.capabilityapproach.com/index.php


Das Forum Umwelt & Entwicklung wurde 1992 nach der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung gegründet und koordiniert die Aktivitäten der deutschen NRO in internationalen Politikprozessen zu nachhaltiger Entwicklung. Rechtsträger ist der Deutsche Naturschutzring, Dachverband der deutschen Natur- und Umweltschutzverbände (DNR) e.V. Diese Publikation wurde vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) offiziell gefördert. Der Inhalt gibt nicht unbedingt die Meinung des BMZ wieder.

Der Rundbrief des Forums Umwelt & Entwicklung, erscheint vierteljährlich, zu beziehen gegen eine Spende für das Forum.


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Quelle:
Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 2/2010, S. 16-17
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. August 2010