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DISKURS/116: Wirtschaftskompetenz braucht Verteilungskompetenz (spw)


spw - Ausgabe 5/2014 - Heft 204
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Wirtschaftskompetenz braucht Verteilungskompetenz

von Carsten Sieling



Sozialdemokratische Wirtschaftskompetenz bedeutet, mehr Investitionen zu tätigen, um zukunftsfähig zu sein. Öffentliche Investitionen, indem wir die Finanzierungsfrage beantworten, private Investitionen, indem wir die gesamtwirtschaftliche Nachfrage wieder stärker in den Mittelpunkt stellen.

Denn: Deutschland lebt von seiner Substanz. Es werden jährlich knapp 80 Milliarden Euro zu wenig investiert(1) - und das hat ganz konkrete Folgen. So lag das Nettovermögen des Staates im Jahr 1999 noch bei rund 500 Milliarden Euro und ist heute praktisch auf Null gesunken.(2)

Dieses Vermögen steht also für Unternehmen und private Haushalte und auch für künftige Generationen nicht mehr zur Verfügung. Deutschland hat ein Investitionsproblem, das auch mit den bisherigen Steuerreformen und gesenkten Lohnnebenkosten nicht gelöst werden konnte. Unser Land ist an vielen Orten eine Bröckelrepublik geworden - ob bei der Verkehrsinfrastruktur, im Bildungssystem, in den Kommunen oder auch auf dem einen oder anderen Betriebsgelände. Die privaten und öffentlichen Investitionsindikatoren offenbaren dies seit Jahren. Wenn nichts passiert, könnte hier eine neue German Disease im Anzug sein.

Maßstab für die Zukunftsfähigkeit eines Landes ist seine Investitionskraft. Investitionen sind das ökonomische Bindeglied zwischen Gegenwart und Zukunft und die Voraussetzung für Wachstum. Wirtschaftspolitische Kompetenz zeichnet sich dadurch aus, diese ökonomische Tatsache in den Blick zu nehmen. Wenn es gelänge, die existierende Investitionslücke zu schließen, dann hätte das einen erheblichen Wachstumseffekt, mehr Beschäftigung und stärkere Lohnanstiege zur Folge.

Solch ein Wachstumsimpuls würde sich auch auf die europäischen Nachbarn auswirken. Deutschland macht etwa ein Drittel der europäischen Wirtschaftsleistung aus und ist eine sehr offene Volkswirtschaft. Langfristig würden also auch die Nachbarn profitieren, wenn die deutsche Wirtschaft stärker wächst und somit mehr ausländische Produkte nachfragen könnte. Dass es uns gut geht, dass alles gut ist, das war die große Mehrheitserzählung der letzten Eurokrisenjahre. Währenddessen wurde seit 1999 deutsches Sparvermögen im Umfang von 400 Milliarden Euro im Ausland fehlinvestiert und damit vernichtet.(3) Statt im Inland realwirtschaftliche Investitionen zu tätigen, dienten die hohen deutschen Ersparnisse auch als Brandbeschleuniger an den internationalen Finanzmärkten.

Kapitalerträge vs. Realwirtschaft

Kapital sucht sich normalerweise in Abwägung zum Risiko die höchstmögliche Renditemöglichkeit. Das ist der Mechanismus, der in den letzten Jahren unter der Überschrift "Kapitalflucht" als beständiges Bedrohungsszenario politisch instrumentalisiert wurde. Wegen der Attraktivität reiner Finanzprodukte sind private Investitionen in realwirtschaftliche Projekte in den letzten Jahren aber häufig nicht rational gewesen. Es muss also ein Umdenken stattfinden: Reine Finanzanlagen dürfen für private Anleger und Betriebsinhaber nicht so attraktiv sein, wie sie es lange Jahre waren. Die SPD hat hier einiges erreicht: Wir haben die notwendige Reduzierung der spekulativ ausgerichteten Finanzwirtschaft gegenüber der Realwirtschaft in den Mittelpunkt unserer Politik gestellt, um die Renditeansprüche wieder in ein vernünftiges Verhältnis zu bringen. Erhöhte Eigenkapitalanforderung, Trennbankensystem, Finanztransaktionssteuer und anderes haben ihrerseits das wirtschaftspolitisch vernünftige Ziel, den Preis der reinen Finanzspekulationen zu erhöhen und somit das "level playingfield" im Verhältnis zur Anlagenrentabilität in der Realökonomie wieder herzustellen. Dabei ist die internationale Angleichung der Regulierung auf einem hohen Niveau die entscheidende Baustelle.

Wenn die Konkurrenz der Staaten um Investitionen und Standortansiedlungen durch das Kapital befeuert wird, statt ihre logische Kooperation, dann geschieht das, was in den letzten Jahren passiert ist: Es entsteht eine neoliberale Deregulierungsdynamik, auch "race to the bottom" genannt. Diese Befürchtung wird aktuell mit Bezug zu den mit Kanada und den USA geplanten Freihandelsabkommen CETA und TTIP thematisiert. Gerade wenn hier eine Regulierung auf jeweils höchstem Niveau erreicht werden kann, machen diese Abkommen Sinn. Einfach so, mit dem Argument, dass die Abkommen "gut" für einzelne Unternehmen seien und damit auch "gut" für die Beschäftigten, beweisen wir nur, dass wir unsere sozialdemokratischen Prinzipien nicht kennen. Das gilt auch allgemein: Was gut für das einzelne Unternehmen ist, muss deshalb noch lange nicht gut für die Gesamtwirtschaft sein und was Wirtschaftsvertreter selbst darüber erzählen, hat mit der ganzheitlichen volkswirtschaftlichen Perspektive oft nichts zu tun. So auch im Kontext der Freihandelsabkommen: Für einige Unternehmen und Konzerne machen die gefährlichen Investitionsschutzbestimmungen und Parallelgerichtsbarkeiten zur Einklagbarkeit entgangener Gewinnmöglichkeiten in den geplanten Freihandelsabkommen CETA und TTIP Sinn. Das ist die Richtung, wenn man in Kategorien der Betriebswirtschaftslehre denkt, wenn man nur Verantwortung für die Aktionäre und die nächste Bilanzpressekonferenz wahrnimmt. Die Verantwortung für die ganze Gesellschaft ist eine ganz andere und die Wachstumserwartung auf Basis der Freihandelsabkommen im Verhältnis zu den hier dargestellten Möglichkeiten auch nur marginal.

Zukunftsinvestitionen realisieren statt Exzesseinkommen

Um das reale Wirtschaftswachstum nachhaltig zu stärken, muss ein wesentliches sozialdemokratisches Prinzip sein, Arbeit nicht höher zu besteuern als Kapital. Dies war für Sozialdemokraten immer ein steuerpolitischer Fehlanreiz, der auch beider notwendigen Bekämpfung der Kapitalflucht nur temporär zu rechtfertigen war. Die Abschaffung der Abgeltungsteuer durch Überführung der Besteuerung von Zinsen und Dividenden in die normale Einkommensteuer gehört jedenfalls heute in jedes moderne Programm der SPD. Denn wir müssen die Entwicklungen der letzten Jahre umkehren. Seit 2000 sind erhebliche Verteilungseffekte in die falsche Richtung entstanden. Das ist vielfach belegt: Durch das Absenken der Lohnquote gegenüber den Gewinneinkommen, die Entwicklung des Gini-Koeffizienten als Indikator für zunehmende Ungleichheit, eine Vielzahl von OECD-Studien oder im Armuts- und Reichtumsbericht der letzten Bundesregierung, an dem die FDP ihren Umgang mit Fakten und Wahrheit umfänglich belegen konnte.

Ökonomisch gesprochen hat diese vielfach als "Umverteilung von unten nach oben" beschriebene Entwicklung mit ihrem starkem Anstieg der Gewinneinkommen und dem recht neuen Phänomen der Exzesseinkommen der sog. working rich (Emanuel Saez) zu einem steigenden Einkommensanteil geführt, der in der Realwirtschaft gar keine Verwendung mehr finden konnte. Laut dem Sozialwissenschaftler Thomas Piketty stehen wir ohne Kursänderung bald vor einer oligarchischen Gesellschaft, in der Finanzeliten bestimmen.(4) Genau diese Entwicklung konnten wir in den letzten Jahren beobachten. So ist in Deutschland auch die Sparquote nicht zuletzt aufgrund der ungleichen Lohn- und Gewinneinkommen in den letzten Jahren erneut stark gestiegen. Wir brauchen deshalb eine ehrliche Debatte darüber, wie die immer höheren Ersparnisse zur Finanzierung von Investitionen herangezogen werden können. Dazu müssen wir auch über die Idee eines Infrastrukturfonds diskutieren, dessen Charme darin besteht, anlagesuchendes Kapital in sinnvolle, investive Kanäle zu leiten, statt sie auf den Kapitalmärkten der Welt vagabundieren zu lassen.

Zuallererst aber müssen wir die Handlungsfähigkeit des Staates in Zeiten der Schuldenbremse durch gesteigerte Einnahmen der öffentlichen Hand verbessern: Hohe Einkommen und Vermögen müssen endlich stärker besteuert werden! Nicht als Selbstzweck, sondern als klug verstandenes Mittel zum Erreichen unserer wirtschaftspolitischen Ziele. Denn nur mit einer stabilen Einnahmesituation der öffentlichen Haushalte ist es möglich, eine steuerliche Entlastung unterer und mittlerer Einkommen realistisch in den Blick zu nehmen und damit die Nachfrageorientierung für die Wirtschaft weiter zu stärken.

Nachfrageorientierung bedeutet gerechte Verteilung

Wichtiger als die Finanzierung ist aus Sicht vieler Unternehmer die Frage, ob eine zusätzliche Produktion überhaupt genügend Abnehmer finden würde. Auch nach jüngsten Eurostat-Befragungen von Industrieunternehmen war die unzureichende Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen immer noch das größte Hemmnis für einen Ausbau der Produktion und damit mehr Wachstum.(5)

Kein Wunder: Bei stagnierender Nachfrage bleiben die Kapazitäten der Unternehmen unterausgelastet, zusätzliche Investitionen lohnen sich nicht mehr. So manchen hat erstaunt, dass diese Situation auch bei erfolgreichen Exportnationen wie Deutschland auftritt. Natürlich ist die wirtschaftliche Entwicklung der vergangenen Dekade wesentlich der Exportstärke unserer Industrie zu verdanken. Nicht zu vernachlässigen ist in einer ganzheitlichen Betrachtung aber auch die Binnennachfrage. Gerade in diesem Bereich war die Entwicklung in den letzten fünfzehn Jahren sehr schwach. Es gibt kaum ein Land in Europa, das so geringe reale Lohnanstiege gehabt hat wie Deutschland - ein großer Teil der deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hat heute real keine höheren Löhne als vor 15 Jahren. Eine gleichmäßigere Entwicklung der Lohn- und Gewinneinkommen hätte allein in den letzten Jahren nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) einen zusätzlichen Konsum in Höhe von bis zu zehn Milliarden Euro im Jahr in Deutschland freigesetzt und damit das Wachstum auf ein deutlich breiteres Fundament gestellt.(6)

Wenn es uns gelingt, durch höhere Investitionen das Wachstum und damit Beschäftigung und die Einkommen zu stärken, dann sorgt das wiederum für höhere Steuereinnahmen und stärkt die Fähigkeit des Staates, sich zu konsolidieren. Aber auch Konsolidierung darf kein Selbstzweck sein: Die "schwarze Null" ist mittlerweile das goldene Kalb deutscher Haushaltspolitik geworden. Der Wirtschaftsweise Peter Bofinger hat dieser Tage zu Recht darauf hingewiesen, dass alle so auf die Staatsverschuldung fixiert sind, "dass das Thema Zukunftssicherung durch Investitionen völlig in den Hintergrund geraten ist."(7) Zukunftssicherung bedeutet Verteilungspolitik. Für eine Stärkung der Investitionen brauchen wir kluge Wirtschaftspolitik, die aber gerechte Verteilung zur Voraussetzung hat.

Die sozialdemokratischen Parteien dürfen das Leitbild einer gerechteren Wohlstandsverteilung nicht verlieren. Führen wir wieder zusammen, was zusammengehört.


Dr. Carsten Sieling, MdB, ist Sprecher der Parlamentarischen Linken der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag und Mitglied im SPD-Parteivorstand.


Anmerkungen

(1) Marcel Fratzscher (2013) DIW-Wochenbericht, Nr. 26: "Sieben Fragen an Marcel Fratzscher"; siehe:
http://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.423524.de/13-26-3.pdf, 25.09.2014

(2) Marcel Fratzscher im Interview mit Christopher Krämer (manager-magazin online), 24.06.2013; siehe:
http://www.diw.de/sixcms/detail.php?id=diw_01.c.423481.de, 26.09.2014

(3) Dr. Marcel Fratzscher (2013) 10 Thesen - Investitionen für mehr Wachstum. Eine Zukunftsagenda für Deutschland siehe:
https://berlinoeconomicus.diw.de/blog/2013/06/24/10-thesen-investitionen-fur-mehr-wachstum-eine-zukunftsagenda-fur-deutschland/, 01.10.2014

(4) Thomas Piketty (2014) Das Kapital im 21. Jahrhundert; C.H. Beck.

(5) European Commission (2014): The Joint Harmonised EU Programme of Business and Consumer Surveys. User Guide, siehe:
http://ec.europa.eu/economy_finance/db_indicators/surveys/documents/userguide_en.pdf, 24.09.2014

(6) DIW Wochenbericht Nr. 22 (2012) "Umverteilung und Sparen", siehe:
http://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.401470.de/1222.pdf, 02.10.2014

(7) Peter Bofinger im Interview mit "Die Welt", 09.09.14, siehe:
http://www.welt.de/wirtschaft/article132053250/Staus-kosten-jeden-Haushalt-400-Euro-pro-Jahr.html, 06.10.2014

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 5/2014, Heft 204, Seite 7 - 10
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. November 2014