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DISKURS/117: Neoliberalismus und kein Ende (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 146/Dezember 2014
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Neoliberalismus und kein Ende

Seit 1989 gibt es keine Alternativen mehr

von Dieter Plehwe


Kurz gefasst: Die Zäsur der globalen Finanzkrise seit 2007 wird kontrovers diskutiert. Markiert sie das Ende des Neoliberalismus? Oder reiht sich die große Krise ein in die Reihe von "Neoliberalismuskrisen" der 1990er und 2000er Jahre (z.B. Russland, Argentinien, Süd-Ostasien, Enron)? Die gegenwärtige Epoche wird als zweite große Transformation im Sinne Polanyis interpretiert, deren Ende noch nicht abzusehen ist, weil zentrale Herausforderungen nicht bewältigt werden. Zugleich werden marktliberale Reformkapazitäten ebenso unterschätzt wie die Varianten des Neoliberalismus.


Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2007 markiert eine scharfe Zäsur. In den Jahrzehnten zuvor hatte der Kapitalismus angelsächsischer Prägung den Wohlfahrtsstaat immer weiter zurückgedrängt. Neo- oder marktliberale Perspektiven einer beschleunigten Globalisierung wurden 1989 auf die "Zweite Welt" des ehemaligen Sowjet-Imperiums ausgedehnt und darüber hinaus als "Washingtoner Konsens" für die Länder der sogenannten Dritten Welt fixiert. Privatisierung, Deregulierung, Liberalisierung der Finanzmärkte, exportorientierte Wettbewerbsfähigkeit und Weltmarktintegration traten an die Stelle geschützter Märkte und nationaler Industrialisierungspolitik. Der Siegeszug des Markts legte Perspektiven einer "grenzenlosen Welt" (Ohmae) oder eines "Endes der Geschichte" (Fukuyama) als liberale Marktdemokratie nahe.

Die schweren Krisen der 1990er und 2000er Jahre (Russland, Südostasien, Argentinien, Enron) ließen bereits Zweifel an einseitig auf Maximierung des Shareholder-Value getrimmten Unternehmen und am Modell möglichst geringer (Finanz-)Marktregulierung aufkommen. Wenn Unternehmen - Banken - zu groß sind, um scheitern zu dürfen, gerät die Idee einer marktwirtschaftlichen Ordnung an ihre Grenzen. Mit der jüngsten, im Vergleich zum Vorherigen wirklich großen Krise erschien zunächst das Ende der neoliberalen Fahnenstange erreicht. Ist der Neoliberalismus aber wirklich schon am Ende? Leben wir bereits in einem postneoliberalen Zeitalter, einem Zeitalter der Re-Regulierung? Oder handelt es sich auch bei der großen Finanz- und Wirtschaftskrise um eine weitere Station in einem neoliberal geprägten Krisenprozess?


Rückkehr zu Keynes oder neoliberale Krisenpolitik?

Die nordatlantische Finanz- und Wirtschaftskrise und die sich anschließende große Rezession gaben zunächst durchaus Anlass für Spekulationen über das Ende des Neoliberalismus. Vor dem Hintergrund der zum Teil dramatisch verschlechterten wirtschaftlichen, politischen und sozialen Verhältnisse wurden unter maßgeblicher Anleitung der USA Konjunkturprogramme aufgelegt und international koordiniert. Wirtschaftspolitisch war das eine weitreichende Änderung. Die erfolgreiche Wiederbelebung von Konzepten des ehrwürdigen Lord Keynes, 2008/9 mit den Zielen einer grünen Transformation (green jobs) verbunden, wäre drei Jahrzehnte lang kaum denkbar gewesen.

Anfang der 1980er Jahre hatte der langjährige Präsident des Kieler Weltwirtschaftsinstituts, Herbert Giersch, das keynesianische Zeitalter für beendet erklärt. Die Wirtschaft stagnierte, Arbeitslosigkeit und Inflation stiegen gleichzeitig an (Stagflation), die Staatsschulden wuchsen. Die folgende Epoche stand laut Giersch im Zeichen der Ideenwelt des jungen Schumpeter: Innovation, schöpferische Zerstörung, neue Produkte, Öffnung der Märkte, Standortwettbewerb und Flexibilität zielten allesamt auf eine Verbesserung der Angebotsseite der Märkte. Es entstehe ein "kosmopolitischer Kapitalismus".

Im Zentrum der neuen Epoche stand das - möglichst freie - Unternehmertum; staatliche Planung und starke Gewerkschaften galten als weniger wichtig, wenn nicht hinderlich. Allerdings dominierte nicht Schumpeters anspruchsvolle Vorstellung einer kleinen Schicht von Unternehmern, die makroökonomisch relevante Neuerungen einleiten, sondern die Allerweltskonzeption von Ludwig von Mises, wonach jeder ein Unternehmer sei, der ein Risiko eingehe und dafür hafte. Staatliche Institutionen spielten freilich weiterhin eine zentrale und planende Rolle, weil Liberalisierung, Privatisierung und Deregulierung in der OECD und der EU, aber auch im Rahmen der internationalen Finanzinstitutionen politisch organisiert und gesichert werden müssen. Ordnungspolitisch gab es mithin keinen Rückzug des Staats, sondern einen Umzug, zum Teil nach Brüssel und in die internationale Handelsorganisation. Allerdings wurde der fiskalpolitische Einfluss der Staaten deutlich beschränkt. Konjunkturpolitische Maßnahmen galten nur noch als Strohfeuer, nicht mehr als probates Mittel nachhaltiger staatlicher Wirtschaftspolitik.

Als allerdings 2008 viele Zeichen auf einen drohenden Kollaps der wirtschaftlichen Aktivitäten deuteten, verfing die Strohfeuerrhetorik nicht mehr. Auch ein internationaler Wortführer ordoliberaler Perspektiven, die deutsche CDU-CSU-FDP-Regierung, schloss sich schließlich einer international koordinierten Konjunkturpolitik an. Private Wirtschaftsaktivitäten waren kollabiert, Banken wollten kein Geld mehr verleihen: Keynes hatte Recht. Nach Auffassung der Bundesregierung aber nur für zwei Jahre. Im Zuge der Euro-Rettungspolitik schaltete die Bundesregierung spätestens 2011 wieder um: Im Zentrum der Krisendiagnose stehen seither erneut die Staatsschulden, das Rezept lautet Austerität.

Als sich die marktliberale Mont-Pèlerin-Gesellschaft im Krisenjahr 2009 in New York traf, wurde kritisch darüber diskutiert, wie die Politik des "leichten Geldes" ausgerechnet in Zeiten stark werden konnte, als die eigenen Leute (zum Beispiel Alan Greenspan und Milton Friedman) am Ruder des Federal Reserve System die Geldpolitik in den USA maßgeblich beeinflussten. Als Ursachen für die Krise wurden auch weltwirtschaftliche Ungleichgewichte und ein Verfall der moralischen Werte der Kapitalmarktakteure diskutiert. Der Entwicklungsökonom Depaak Lal, zu diesem Zeitpunkt Präsident der Gesellschaft, unterstrich die Angleichung der Positionen von Keynes und Hayek, was Finanzpolitik in Zeiten einer großen Depression anbelangt. Er lobte Keynes besonders für den Vorschlag, die Konjunktur über die Senkung von Steuern anzukurbeln. Die Neoliberalen vereinnahmten Keynes also für die eigenen Prioritäten.

Allerdings wurde in diesem Kreis bezweifelt, dass die Wirtschaftskrise der Gegenwart wirklich mit den 1930er Jahren zu vergleichen sei. Die staatliche Lenkung sei deshalb möglichst rasch zu beenden. Jedenfalls wurde die Rückkehr zur soliden Geldpolitik gefordert sowie die Bewahrung der Errungenschaften der Globalisierung. Die über viele Think-tank-Netzwerke transportierte krisenpolitische Botschaft lautete: Zurück zu den neoliberalen Grundlagen und Verteidigung des Status quo ante Crisis.

Innerhalb weniger Jahre verschob sich seitdem - insbesondere in Europa - der öffentliche Diskurs von der Finanzkapitalismuskrise zur Staatsschuldenkrise. Finanzmärkte, Banken und bankähnliche Institute (Schattenbanken) sind in diesem Zusammenhang nur noch ein Element, das die Stabilität des Gemeinwesens gefährdet, wenn Banken aus Gründen der Systemstabilisierung gerettet werden müssen, also private Schulden durch Steuereinnahmen beglichen werden. Eine sanfte Stärkung der Regulierung der Finanzmärkte ist also auch im neoliberalen Sinne: eine Erhöhung der Eigenkapitalquote der Banken, die Schließung von Regelungslücken, eine Stärkung der Aufsicht. Weiterreichende Instrumente und effektive Einschränkungen der Finanzmärkte aber, zum Beispiel durch eine universelle Finanztransaktionssteuer oder die wirksame Auflösung von Steueroasen, werden abgeblockt.

Im Vordergrund der neoliberalen Debatte über die Schuldenkrise stehen andere, altbekannte Themen: die hohen Kosten der sozialen Sicherung, des öffentlichen Gesundheitswesens, der Bildung sowie generell der Beschäftigung im öffentlichen Dienst. Empfohlen und im Zuge der Euro-Rettungspolitik weitgehend durchgesetzt wurde ein neues System restriktiver Austeritätspolitik, der gegenüber der Pragmatismus der in Maastricht beschlossenen Wirtschafts- und Währungsunion als Schlaraffenland erscheinen muss. Die neue europäische Wirtschaftsregierung lehnt Eurobonds ab, weil sie die Disziplinierung der nationalen Haushaltspolitik einschränken würden. Gebetsmühlenartig wird moral hazard beschworen, staatliche Regelungsalternativen in alter Manier als untauglich diffamiert.

Gleichzeitig zentralisiert Europa die Haushaltskonsolidierung von oben mit erweiterten Eingriffsmöglichkeiten der Europäischen Kommission und von unten durch die Sozialtechnologie der Schuldenbremsen. Der neue ökonomische Konstitutionalismus (Stephen Gill) wird über die Krisenpolitik vertieft und verankert. Dieses große neoliberale Projekt greift in überraschendem Ausmaß auf die deutschen und schweizerischen Traditionen des Ordoliberalismus zurück.


Was ist Neoliberalismus?

Den Zustand des Neoliberalismus zu bestimmen, ist auch deshalb schwierig, weil es keine Reinform des Neo- oder Rechtsliberalismus gibt, ebenso wie es keine Reinform des konkurrierenden Sozial- beziehungsweise Linksliberalismus gibt oder gab. Vieles spricht dafür, dass die neoliberale Epoche mit der Krise des Fordismus und der Wohlfahrtsstaaten in den 1970er Jahren begann. Doch weder die soziale Marktwirtschaft im Deutschland der Ära Adenauer/Erhard noch die neoliberalen Diktaturen im Lateinamerika der 1970er Jahre dürfen ausgeblendet werden.

In der Bundesrepublik Deutschland war der Neoliberalismus deutsch-schweizerischer Prägung, der Ordoliberalismus, direkt nach dem Zweiten Weltkrieg dominant. Ökonomen wie Alfred Müller-Armack, Walter Eucken, Alexander Rüstow und Wilhelm Röpke und Politiker wie Ludwig Erhard prägten die soziale Marktwirtschaft bis in die späten 1960er stark, auch wenn sie dem christlichen Flügel der CDU/CSU ebenso wie den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie erhebliche Zugeständnisse machen mussten (Generationenrente, Mitbestimmung). Die Tarifautonomie schützte andererseits vor Ansprüchen und Ansätzen einer zentralen staatlichen Gestaltung.

Wichtige neoliberale Projekte wurden vor Ronald Reagan und Margaret Thatcher in Chile und Argentinien durchgesetzt. Von den Militärdiktaturen der 1970er Jahre in Lateinamerika wurden die Gewerkschaften entmachtet und es wurde eine Abkehr von der staatlichen Industrialisierungspolitik vollzogen, in mancher Hinsicht eine Vorwegnahme des "Washingtoner Konsenses". In Chile begann die Privatisierung der Sozialsysteme, lange bevor der Rück- und "marktkonformere" Umbau der sozialen Sicherung in den europäischen OECD-Staaten oder in den USA durchgesetzt werden konnte. Zuvor waren der aufsteigende Sozialliberalismus in den USA in den 1930er und 1940er Jahren ebenso wie die Great-Society-Ära beziehungsweise die europäischen Wohlfahrtsstaaten in den 1960er Jahren kein Paradies: Rassismus, Antikommunismus, Sexismus und Beschränkungen der Arbeiterbewegung spielten eine große Rolle.

Weder zu Zeiten des Sozialliberalismus noch des Rechtsliberalismus sind Gesellschaften einheitlich und konfliktfrei gestaltet. Untersucht werden können aber Hegemoniekonstellationen, dominante Tendenzen und entsprechende Entwicklungsmodi, die sich von Land zu Land und von Bereich zu Bereich sowie im Zeitverlauf unterscheiden, die einander ergänzen, aber auch widersprechen können. Ebenso wie die Wohlfahrtsstaatstypen in ihrer Hochzeit unterschieden werden, können Neoliberalismustypen bestimmt werden, die allerdings allesamt auf einen marktorientierten Umbau beziehungsweise den Rückbau des Wohlfahrtsstaats zielen. Der deutsche oder der schwedische Wohlfahrtsstaat bleiben generöser als der amerikanische oder britische. Weder in Deutschland noch in Schweden wird allerdings über einen Ausbau geredet: Es geht vielmehr um die Senkung der Kosten.

Das gegenwärtige Bild vom Neoliberalismus wird durch die antietatistische Rhetorik der amerikanischen und österreichischen Schulen verzerrt. Diese Rhetorik, die aus den neoliberalen Angriffen auf den sozialliberalen Wohlfahrtsstaat der 1970er Jahre stammt, steht nicht für den ganzen Neoliberalismus. Es gibt auch marktliberale Perspektiven, die sehr oft mit dem organisierenden Staat argumentieren. Neoliberale Politik in Marktperspektive muss nicht nur kompromissbereit sein, um hegemoniefähig zu sein, sondern auch ansatzweise offen für überlegene Lösungen. Die Regulierung der Naturverhältnisse im Zuge der Klimapolitik - Stichwort Emissionshandel - und der ökonomische Anreiz für regenerative Energie sind Beispiele regulativer Marktpolitik. Dabei scheinen derzeit weder die Grenzen für eine erweiterte Kommodifizierung und Finanzialisierung von gesellschaftlichen Sphären etwa der Umwelt- und Sozialpolitik (Emissionshandel, Flexicurity) erreicht, noch deren machtpolitische Absicherung.


Der Gegenspieler fehlt

Die national und international abgesicherte Entwicklung einer Systemkonkurrenz zwischen Staatssozialismus und Wohlfahrtskapitalismus prägte die Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und vor dem Zerfall der Sowjetunion. Wohlfahrtskapitalismus und Realsozialismus lieferten Antworten auf die große Krise des Kapitalismus vom Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Konsolidierung der sowjetischen Staatenwelt und das westliche Bretton-Woods-Regime beendeten die Große Transformation der 1920er und 1930er Jahre, wie sie Karl Polanyi wegweisend analysiert hat.

Die zweite große Transformation der Gegenwart muss demgegenüber nahezu ausnahmslos Spielarten des Kapitalismus und des Neoliberalismus versöhnen, worin möglicherweise das größere Problem besteht, weil die System- und Weltanschauungskonkurrenz der vorherigen Epoche zweifelsohne auch den Spielraum für Pragmatismus und Lernprozesse erhöhte.

Der neoliberale Krisenprozess der Gegenwart, die große Transformation der 1990er und 2000er Jahre ist analog zur Entwicklung der 1920er bis 1940er Jahre nicht am Ende, weil die Ursachen der multiplen Kapitalismuskrisen der jüngeren Vergangenheit nicht bewältigt sind. Die europäische beziehungsweise Weltmarktintegration wird am besten als andauernder Krisenprozess verstanden, der auch immer weiter in eine Sackgasse führen kann. Allzu oft immunisiert sich eindimensionales Denken (zum Beispiel der Austeritätspolitik, des Emissionshandels) gegen überlegene Lösungen; für große Aufgaben wie die Eindämmung des Klimawandels, die soziale Integration in Nord und Süd, die Einlösung liberaler Aufstiegsversprechen werden keine adäquaten Ansätze gefunden. Der Neoliberalismus ist allerdings auch deshalb so zählebig, weil er Reformkapazität und Kompromissformen bietet, die in der Literatur wenig bearbeitet werden.


Dieter Plehwe ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Ungleichheit und Sozialpolitik. Er befasst sich vor allem mit Neoliberalismus, politischer Ökonomie, der Entwicklung des Kapitalismus in seinen Varianten und den industriellen Beziehungen.
dieter.plehwe@wzb.eu


Literatur

Blyth, Mark: Austerity. History of a Dangerous Idea. Oxford University Press 2013.

Cahill, Damien: The End of Laisser-Faire. On the Durability of Always Embedded Neoliberalism. Edward Elgar 2014.

Mirowski, Philip: Never Let a Serious Crisis Go to Waste. Verso 2013.

Plehwe, Dieter / Walpen, Bernhard / Neunhöffer, Gisela: Neoliberal Hegemony: A Global Critique. Routledge 2006.

Polanyi, Karl: The Great Transformation: The Political and Economic Origins of Our Time. 2nd ed. Boston: Beacon Press 2001.

Schmidt, Vivien / Thatcher, Mark: Resilient Neoliberalism in Europe's Political Economy. Cambridge 2013.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 146, Dezember 2014, Seite 26-29
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. März 2015

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