Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → WIRTSCHAFT


DISKURS/119: Die "krasse Utopie" des Freihandels und die solare und solidarische Alternative (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2015

Die "krasse Utopie" des Freihandels und die solare und solidarische Alternative

von Elmar Altvater


Der Weltmarkt ist spätestens seit dem 15. Jahrhundert "in der Mache", allerdings in sehr widersprüchlicher Weise, auf die Fernand Braudel in seiner dreibändigen Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts aufmerksam macht. Die Ökonomie weitet sich mit den "großen Entdeckungen" seit dem Ende des 15. Jahrhunderts zur modernen kapitalistischen Weltwirtschaft aus und fast zeitgleich wird in den Verhandlungen über den Westfälischen Frieden von Münster und Osnabrück 1648 das moderne System der Nationalstaaten aus der Taufe gehoben. Grenzen der Nationalstaaten und Grenzenlosigkeit des Marktes, politische Regulierung und ökonomische Deregulierung, freier Handel und Protektion, Einbettung der Wirtschaft in Gesellschaft und Natur - das sind die Pole, zwischen denen die Spannung historischer Konflikte knistert und um die seitdem die wissenschaftlichen und politischen Diskurse kreisen. Man geht nicht fehl mit der Feststellung, dass es genau um die Spannung zwischen Ökonomie und Politik, Markt und Staat, Deregulierung und Regulierung, auch heute in den Auseinandersetzungen um das transatlantische Handels- und Partnerschaftsabkommen (TTIP) und ähnlich gelagerte Abkommen wie TTP, TiSA und CETA geht.

David Ricardo, einer der großen Begründer der politischen Ökonomie, hat zu Beginn des 19. Jahrhunderts gesagt, was die Ausweitung des auswärtigen Handels erreichen soll. Dadurch können mehr "Nahrungsmittel und andere lebensnotwendige Güter des Arbeiters zu einem niedrigeren Preis auf den Markt gebracht werden". Weil die Lohnkosten sinken, steigen die Profite, und daher ist der auswärtige Handel, so Ricardos Schlussfolgerung, für die ihm bis heute Verehrung entgegengebracht wird, "sehr vorteilhaft für ein Land". Schon zu Ricardos Zeiten kamen Zweifel an diesem Theorem auf. Sie wurden z.B. von dem deutschen Ökonomen Friedrich List formuliert. Ricardo und die anderen Vertreter der Freihandelsdoktrin richteten all ihre Hoffnungen auf die anregenden Wirkungen des freien Wettbewerbs, auf Leistungsdruck, materielle Anreize, Gewinnstreben und innovative Ideen, auf die die Wirtschaftssubjekte von selbst kommen, wenn der Rahmen einer funktionierenden freien Marktwirtschaft gesichert ist.

Doch nützt der liberale Rahmen nichts, wenn nicht die produktiven Kräfte der Nation entwickelt werden: durch Bildungspolitik, die Errichtung eines modernen Bildungssystems, durch regionale Wirtschaftsförderung, Infrastruktur und Wissenschaft. Das ist mit einem freien und entbetteten Markt allein nicht zu schaffen. Es erfordert industriepolitische Gestaltung der Wirtschaft.

Der Staat und gesellschaftliche Kräfte üben also eine Gestaltungsfunktion aus, wie diese sinnvollerweise aussehen soll, wird in der Außenhandelstheorie seit Jahrhunderten diskutiert, und zwar höchst kontrovers. Denn an verschiedenen Standorten sind die Bedingungen für die Wettbewerbsfähigkeit auf dem kapitalistischen Weltmarkt sehr unterschiedlich. Die Gründe dafür sind vielfältig. Sie haben mit der "Faktorausstattung" eines Standorts zu tun, der Verteilung der Ressourcen vor Ort, dem Wert der Währung und den Lohnstückkosten.

"Satansmühlen" des entfesselten Marktes

Die Staaten üben nicht nur eine Gestaltungsfunktion aus. Sie übernehmen auch eine Schutzfunktion, die ihnen von den schutzbedürftigen Bevölkerungsschichten in heftigen Klassenkämpfen um sozialstaatliche Regelungen, um eine Arbeitslosenversicherung, die Altersrenten oder eine Krankenversicherung, um Wohnungen, Bildung und die Betreuung der Kinder abverlangt wird. Entbettete Märkte, das Mantra der Freihandelslehre, sind - wie Karl Polanyi hervorhebt - "Satansmühlen" für die Waren, die auf ihnen gehandelt werden: Arbeitsmärkte für die Arbeitskraft, Märkte für die in Naturkapital verwandelte Natur, Finanzmärkte für das Geld und die Währung. Das ist der Grund dafür, dass es in der Geschichte immer zu einer "Doppelbewegung" kommt: Liberalisierung und Entbettung der Märkte zusammen mit Maßnahmen der Deregulierung und der Privatisierung öffentlicher Güter und Dienste auf der einen Seite und Bewegungen zum Schutz der Gesellschaft vor der Teufelsmühle des entfesselten Marktes auf der anderen Seite. Beide Bewegungen, das zeigt Michael Brie in seinem Buch Polanyi neu entdecken, sind durch das soziale und ökonomische Koordinatensystem der kapitalistischen Gesellschaftsordnung begrenzt. Daher kommt weder die eine im beschworenen liberalen oder neoliberalen Paradies an, noch die andere über den beengten Horizont des Kapitalismus hinaus.

Dieser ist der aus der Chaostheorie wohlbekannte "seltsame Attraktor", auf den sich die weitere Entwicklung beinahe schicksalhaft zubewegt. Die Krisen der Akkumulation des Kapitals hindern das nicht. Sie sind zugleich zerstörerisch und schöpferisch, schreibt Joseph Schumpeter, und stabilisieren so letztlich das System insgesamt. Auch die großen Vermögen, die im Laufe des Akkumulationsprozesses immer größer und dann auch zu einem politischen Machtfaktor werden, gegen den keine Gewerkschaft, auch wenn sie wollte, ankommen kann, werden dem System nicht schädlich. Der technische Fortschritt, eigentlich ein Pfad der Emanzipation, perfektioniert das "Gehäuse der Hörigkeit", aus dem auszubrechen, schwierig und gefährlich ist.

Deshalb ist das Arrangement mit dem real existierenden Kapitalismus die verbreitete Verhaltensweise, zumindest der Menschen in den reichen Staaten des Globus. Dort, wo dieses Arrangement nicht gelingt, hält das Chaos Einzug: in den Territorien der einstigen Staaten des Mittleren Ostens von Syrien und Libyen bis Irak und Afghanistan, in den sich ausdehnenden Regionen eines verwilderten Kapitalismus, einer Staatsmacht, die von Banden übernommen wird, einer Religion, die Primitivformen der Gewaltherrschaft rechtfertigt und verbrämt, und einer äußeren Interventionsmacht, die nur noch geheimdienstlich und militärisch zu operieren weiß.

Die Zumutungen der kapitalistischen Entwicklung gehen auch in den entwickelten Weltregionen vielen Menschen gegen den Strich. Denn die geplanten Liberalisierungen des Welthandels sind so rücksichtslos, dass das Trostwort von der "schöpferischen Zerstörung" wie blanker Zynismus klingt. Ein großer Teil des in den vergangenen Jahrzehnten erkämpften Schutzes der Arbeitskraft, der Natur und der Währung wird auf dem Altar der Entbettung in den neuen Freihandelsabkommen geopfert. Auch demokratische Verfahren bleiben auf der Strecke. Nur die von Ricardo gerühmte Steigerung der Profite, in Form von Renditen für Finanzvermögen, kommt zustande. Das fällt mit den Interessen der wichtigsten Akteure im modernen finanzgetriebenen Kapitalismus zusammen. Die Rendite muss stimmen. Der Reichtum wird größer, die Haves werden begünstigt, doch die Have-nots haben einen hohen Preis zu zahlen: Sozialabbau, ökologisches Vabanque-Spiel mit Klima und nuklearer Endlagerung, der Beeinträchtigung der Artenvielfalt und der Plünderung der Ressourcen des Planeten. Die Destabilisierung der Finanzmärkte und das Heraufbeschwören von desaströsen Finanzkrisen, wachsende Ungleichheit von Einkommen, Vermögen und Lebenschancen in der modernen Welt und nicht zuletzt das Zerbröckeln der Demokratie in ein post-demokratisches System.

Man kann diesen sich ankündigenden Desastern vorbeugen. Die neoliberale Gesellschaft mit einem aus Gesellschaft und Natur entbetteten Markt ist eine "krasse Utopie", schreibt Karl Polanyi. Ökonomisch kann der freie Markt im Kapitalismus schon wegen der Krisentendenzen des Finanzsystems nicht gut funktionieren. Gesellschaftlich ist allein wegen des mangelnden Konsenses in einer zerrissenen Weltgesellschaft keine Stabilität zu erreichen und politisch fehlen Legitimität und demokratische Zustimmung für die meisten Entscheidungen, sofern sie Ricardos Logik folgen und Freihandel als Vehikel der Profitsteigerung nutzen.

Die Alternative dazu ist, in Schlagworten ausgedrückt, solar und solidarisch. Man darf nicht vergessen, dass die Idee des Freihandels zeitgleich mit der industriellen Revolution, d.h. mit jener Phase kapitalistischer Akkumulation auftaucht, die Marx als die "reelle Subsumption der Arbeit (und, so fügen wir hinzu, der Natur) unter das Kapital" bezeichnet. Also könnte man vermuten, dass mit peak oil (globales Ölfördermaximum) und Klimakrise, also mit dem sich zu Ende neigenden fossilen Zeitalter, auch dem Freihandelssystem der Sprit ausgeht und Alternativen gefunden werden müssen. Der Hype um TTIP und CETA etc. wäre also eine letzte Raserei auf einer Bahn, auf der sehr bald ein Stoppschild auftauchen wird: Weiterfahrt lebensgefährlich.

Aus der Natur ist Naturkapital geworden, eine Kategorie, die im neoliberalen Denken einen festen Ankerplatz gefunden hat. Die Arbeitskraft - das Substrat des variablen Kapitals - ist zum Humankapital geworden. Das Denken (und das davon angeregte Handeln) in diesen Kategorien kann eine nicht-kapitalistische Wirtschaft kaum noch imaginieren, sich eine solidarische und solare Gesellschaft mit in Gesellschaft und Natur eingebettetem Markt kaum noch vorstellen. Und dennoch ist gerade dies notwendig, denn die Fahrt auf dem fossilen Pfad geht zu Ende.

Die Heilung der Defizite dieser Welt wird nicht mit der neoliberalen Entbettungsmedizin gelingen können. Das zeigt schon die Geschichte. Utopien sind notwendig, um solidarische und solare Wege zu kartografieren. Die Grundidee ist einfach. Internationaler Handel ist nicht, wie bei Ricardo und seinen Nachfolgern bis in unsere Tage, als Vehikel der Profitsteigerung, sondern als Austausch von Waren und Ideen, aber auch zur Vertiefung der Arbeitsteilung, der Kultur und der Wissenschaft zu konzipieren. Genossenschaftliche Wirtschaften, unterstützt von gesellschaftlichen Bewegungen, produzieren eher für lokale und regionale Märkte und Netzwerke. Sie brauchen die entbetteten Märkte auf denen vor allem große Konzerne und Vermarktungsketten tätig sind nicht. Diese sind gar nicht aufrecht zu erhalten, wenn der fossile Treibstoff und auch andere Ressourcen ausgehen. Es ist besser, sich dafür mit alternativen Produktions- und Lebensformen schon heute fit zu machen, als sich mit Deregulierung aller Grenzen für ein letztes "Catch-as-catch-can" zu rüsten.

Da war sogar die Bush-Regierung weiter, als sie 2005 einen Report in Auftrag gab, um die notwendigen Anpassungen an den zu erwartenden baldigen Höhepunkt der Ölförderung untersuchen zu lassen. Eine sofortige Abkehr von der fossil-industriellen Entwicklungsbahn ist unausweichlich, lautete die Schlussfolgerung. Die Studie (der "Hirsch-Report") wurde kurzzeitig von der Bush-Administration aus dem Web genommen. Es ist scheinbar besser blind weiterzumachen wie bisher, als die Grenzen von Natur und Gesellschaft zu beachten und eine neue demokratische, solidarische und solare Entwicklungsbahn einzuschlagen. Doch wir wissen auch: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.


Elmar Altvater war 1970 bis 2004 Professor für Politikwissenschaften an der FU Berlin. Zahlreiche Publikationen über Globalisierung, globale Umweltprobleme und Finanzmärkte sowie die Zukunft der europäischen Integration.
altvater@zedat.fu-berlin.de

*

Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2015, S. 33 - 36
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von
Kurt Beck, Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka,
Thomas Meyer und Bascha Mika
Redaktion: c/o Friedrich-Ebert-Stiftung
Hiroshimastraße 17, 10785 Berlin
Telefon: 030/26 935-71 51, -52, -53, Telefax: 030/26935 9238
E-Mail: ng-fh@fes.de
Internet: www.ng-fh.de
 
Die NG/FH erscheint zehnmal im Jahr (Hefte 1+2 und 7+8 als Doppelheft)
Einzelheft: 5,50 Euro zzgl. Versand
Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Juli 2015

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang