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DISKURS/124: Kapitalismus ohne Wachstum oder Postwachstum jenseits des Kapitalismus? (spw)


spw - Ausgabe 5/2015 - Heft 210
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Kapitalismus ohne Wachstum oder Postwachstum jenseits des Kapitalismus?

von Dennis Eversberg und Barbara Muraca


1. Flexibler Kapitalismus und Wachstum

Charakteristisch für die Form kapitalistischer Gesellschaften, wie wir sie in den Industrieländern des globalen Nordens kennen, ist ihre strukturelle Verbindung mit ökonomischem Wachstum, wie sie etwa im Fordismus einen paradigmatischen Ausdruck fand. Wenn wir hier über die Umbrüche der letzten 30 Jahre sprechen, setzen wir damit als Ausgangspunkt jedoch einen längst in die Krise geratenen, innerlich ausgehöhlten Fordismus, dessen zentrales Merkmal die Vorherrschaft von Arbeitslosigkeit als zentrales soziales Problem war. Heute jedoch müssen wir von einem flexiblen Kapitalismus sprechen, der sich in den letzten Jahren gebildet hat. Er wurde ermöglicht durch die Beseitigung politisch-geografischer (Ende der Systemkonkurrenz, "Globalisierung") wie technologischer Schranken (mikroelektronische Revolution) der weiteren Expansion und Dynamisierung kapitalistischen Wirtschaftens. Seit der Herstellung eines quasi alle Länder und Regionen des Erdballs umfassenden Weltmarkts wird die weiterhin immer wieder aufs Neue notwendige Erschließung eines "Mehr" in den wissens- und technologiebasierten Wirtschaften des globalen Nordens weniger durch Erschließung neuer Territorien als durch die Ermöglichung eines kleinteiligeren Zugriffs auf alle produktiven Ressourcen ermöglicht. Kurz: "Flexibler Kapitalismus" ist kleinteiliger Kapitalismus. Produktionsprozesse lassen sich nun in zunehmendem Maße so organisieren, dass die Beschränkungen der (am fordistischen Kapitalismus zu recht kritisierten) standardisierten Massenproduktion überwunden werden und viele Produkte auf KundInnenwunsch, in kleiner Stückzahl und mit den unterschiedlichsten, ad hoc zu bestimmenden Merkmalen produziert werden können. Das erlaubt nicht nur die passgenaue Bedienung der Wünsche von KonsumentInnen, sondern auch die stetige Minimierung von Investitionsrisiken und Ressourcenverschwendung - je genauer bekannt ist, wann und in welcher Menge welches Produkt gefragt ist, desto weniger wird überschüssig produziert und desto genauer kann sich der Einkauf von Rohstoffen am sicher abzusetzenden Bedarf orientieren. Das ermöglicht den Unternehmen, die mit dem Verkauf von Rohstoffen und Vorleistungsgütern verbundenen Risiken an ihre Zulieferbetriebe weiterzugeben - und setzt diese unter Druck, entlang der weiteren Wertschöpfungskette ebenso zu verfahren.

Fossilismus: Kleinteiliger Zugriff auf Rohstoffe

Was die Nutzung fossiler Energiereserven und anderer knapper natürlicher Rohstoffe angeht, so hat sich eine solche Logik vordergründig bereits seit den "Ölschocks" der 1970er Jahre aufzudrängen begonnen. Je teurer eine für die Aktivitäten eines Unternehmens benötigte Ressource, desto größer der Anreiz für Unternehmen, deren Nutzung effizienter zu gestalten. Nun ist der Ölpreis in den letzten Jahrzehnten immer noch durch politischen Druck und militärische Gewalt viel zu niedrig gehalten worden, als dass er die sozialen und ökologischen Kosten der Förderung, des Transports und vor allem der Verbrennung von Öl auch nur annähernd angemessen abbilden würde. Dennoch deutet sich in den letzten Jahren im Zeichen der Debatte um das globale Ölfördermaximum ("peak oil") an, dass sich die Zeichen wandeln und die Reduzierung des Ölverbrauchs mittel- bis langfristig ins Kalkül der Unternehmen eingehen könnte. Glaubt man dem innovationstreibenden Potential des Militärs, so steht derzeit die Suche nach alternativen, nicht fossil-basierten Treibstoffen (wie Biodiesel) im Mittelpunkt der militärischen US-Forschung. Einstweilen ist eine wirkliche Reduzierung des Ölverbrauchs allerdings, sieht man sich etwa die Entwicklung der Automobilindustrie an, nicht ernsthaft zu erwarten. Eine tatsächliche Entwicklung hin zu Kleinteiligkeit und Rationalisierung des Ressourcenzugriffs gibt es dagegen im Hinblick auf Metalle, seltene Erden und andere teure und knappe Rohstoffe, die insbesondere in der Elektronikindustrie benötigt werden. Hier gibt es, z.B. unter dem Label "Cradle to Cradle", weitreichende Bemühungen, Verschwendung und Abfall im Produktionsprozess zu minimieren oder soweit möglich ganz zu vermeiden. Auch das Recycling von bereits in Endprodukten verbauten Ressourcen spielt dabei eine zentrale Rolle. Kleinteilig ist das insofern, als der Ankauf bestimmter Ausgangsstoffe in großen Mengen direkt aus der Förderung entweder zu teuer oder wegen fehlender Verfügbarkeit schlicht nicht mehr möglich ist, so dass es sich im Vergleich dazu zu lohnen beginnt, verstärkt auf Abfallvermeidung zu achten und das mühsame Geschäft des Wiedereinsammelns und Aufarbeitens kleiner Rohstoffeinheiten aus verschrotteten Endprodukten anzugehen. Öffentlich diskutiert werden diese Vorgehensweisen vor allem unter dem (in der Tat auch nicht zu verleugnenden) ökologischen Aspekt, jedoch spielen für die Firmen, die solche Konzepte verfolgen, vor allem Kostenaspekte eine Rolle. Allerdings geschieht dies mehrheitlich auf der Grundlage globaler Ausbeutungsketten: Elektroschrott wird auf illegalen Wegen in Länder des globalen Südens verfrachtet und dort in gigantischen Müllhalden gesammelt, wo ohne jeglichen Schutz vor allem Kinder die Geräte in Kleinteile und Metalle auseinandernehmen, die sie für lächerliche Summen weiterverkaufen.

Wertschöpfungsketten: Kleinteilige Produktion für kleinteiligen Konsum

Nicht zu trennen ist die Flexibilisierung des Kapitalismus von der Ausdifferenzierung der Konsumvorlieben von Menschen insbesondere in den Industriegesellschaften des globalen Nordens. Diese ökonomische Seite der Individualisierungsprozesse der 1960er und 1970er Jahre brachte die fordistische Erfolgsformel von "standardisierter Massenproduktion für standardisierten Massenkonsum" aus dem Tritt und war damit entscheidend für das Ende der Phase des organisierten Kapitalismus. Die Leute wollten zunehmend nicht mehr nur den Standard, sondern entwickelten zunehmend besondere Vorlieben, und diese konnte das fordistische Produktionsmodell nicht bedienen. In der Folge entwickelte sich eine globale Arbeitsteilung: Während das, was in Westeuropa und Nordamerika an einfach zu fertigender "Standardware" weiterhin gefragt war, zunehmend aus Niedriglohnökonomien in Ostasien oder Lateinamerika bezogen werden konnte, setzten die Unternehmen des Nordens auf Steigerung der Qualität und Diversifizierung ihrer Produktpaletten. Um dabei das Produzieren "am Bedarf vorbei" zu vermeiden, wurden allerdings elaborierte Feedback-Systeme erforderlich: Nicht nur Grundstoffe, sondern auch Vorleistungsgüter konnten nun nicht mehr dauerhaft in konstant hoher Menge abgenommen werden. Zulieferunternehmen mussten sich daher zunächst auf kleinere Losgrößen und kürzere Planungszyklen, inzwischen verstärkt auch auf "just-in-time" und "just-in-sequence" zu erbringende Bereitstellung von zudem in jedem einzelnen Fall an spezielle KundInnenwünsche angepassten Teilen einstellen. Dadurch stehen die Zulieferer ihrerseits unter Druck, das auf sie verlagerte Risiko zu minimieren und ihre Kosten möglichst niedrig zu halten, indem sie den Druck entlang der Wertschöpfungskette weitergeben. Die auf dem Markt für das Endprodukt von den volatilen Bedürfnisstrukturen der Leute erzeugte Kurzfristigkeit und Unsicherheit des Marktgeschehens wird also von den Unternehmen entlang der Zulieferkette "weitergereicht" - und je weiter unten in der Kette, je weiter weg von den industriellen Zentren und je schmutziger und gefährlicher eine Tätigkeit ohnehin schon ist, desto stärker ist sie davon betroffen.

Dividualisierung: Das kleinteilige Selbst

Die Verkleinteiligungsdynamik des flexiblen Kapitalismus betrifft also nicht nur Bearbeitung der Güter und Rohstoffe, sondern auch und gerade die dazu benötigte Arbeit. Wenn sich der Bedarf am Produkt eines Betriebes ständig unvorhersehbar ändern kann, bleibt diesem auch im Hinblick auf die Arbeitskraft kaum etwas anderes übrig, als seine Investitionsrisiken zu minimieren, indem er sich an möglichst wenige Arbeitskräfte dauerhaft bindet und diejenigen, deren Leistungen bei einem Rückgang der Nachfrage auf das niedrigste kurzfristig zu erwartende Niveau nicht mehr gebraucht würden, nur noch befristet, auf Leiharbeits- oder Werkvertragsbasis zu beschäftigen. Durch die allgemeine Verbreitung des Mobilfunks und die Möglichkeit, den Personaleinsatz über das Internet auch über Firmengrenzen hinweg kurzfristig zu koordinieren, ist es nun zunehmend möglich, Arbeitskräfte auch bei sehr kurzfristigen Nachfrageschwankungen telefonisch zur Arbeit zu beordern und ihre Fähigkeiten so zielgenau und ohne "Leerlaufzeiten" in die Produktionsabläufe einzuspannen. Nun ist diese Dynamik nicht überall so ausgeprägt und idealtypisch wirksam wie in den Kernbereichen der exportorientierten Technologiebranchen, doch wird der Druck auf Löhne und Arbeitsbedingungen, der durch diesen Modus der Rationalisierung erzeugt wird, in andere Branchen weitergegeben und erzwingt auch dort den Einsatz vergleichbarer Methoden der Kostensenkung und Arbeitsumstrukturierung - mit für Beschäftigte wie KlientInnen teilweise desaströsen Folgen. Das steigert sich nicht überall bis in die Extreme der Leiharbeit, nimmt aber auch zum Beispiel in der projektförmigen Reorganisation von Arbeitszusammenhängen, in reihenweisen und von erfolgreicher Mittelakquise abhängigen befristeten Arbeitsverhältnissen oder in der Verlagerung von früher durch fest angestellte Beschäftigte übernommenen Tätigkeiten auf Honorarkräfte im Bildungsbereich spezifische Formen an. Den solcherart zur abhängigen Größe gemachten Arbeitskräften tritt diese Dynamik als Prekarisierung entgegen: Weil die Gelegenheit, die eigene Arbeitskraft zu einem existenzsichernden Preis verkaufen zu können, von durch eigenes Handeln nicht zu beeinflussenden, anonymen Marktkräften abhängig ist (oder in den Bereichen humanorientierter Dienstleistungen doch zumindest zu sein scheint), sehen sie sich gezwungen, das eigene Leben mit seinen sozialen Beziehungen, Abhängigkeiten und gegenseitigen Verpflichtungen den Zwängen einer kaum beeinflussbaren Arbeitssphäre unterzuordnen.

Die "Flexibilität", die der flexible Kapitalismus von den Einzelnen verlangt, ist damit immer zuerst einmal die Bereitschaft, sich einem solchen Regime des kleinteiligen Zugriffs auf die eigene Arbeitskraft zu unterwerfen, sich auf die undurchschaubaren Kräfte "des Marktes" als Determinanten des eigenen Lebens einzulassen und zu lernen, sich strategisch ein "Portfolio" an potentiell zukünftig verwertbaren Kompetenzen zuzulegen, die sich im Wettbewerb um künftige kurz- oder längerfristige Beschäftigungsmöglichkeiten als vorteilhaft erweisen könnten. Anders gesagt: Für Menschen, die auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen sind, läuft der flexible Kapitalismus auf ein Regime der Dividualisierung hinaus: Die Sicherung des Lebensunterhalts verlangt, sich in einzelne sub-individuelle Bestandteile zu zerlegen, die je nach Bedarf unterschiedlich wieder zusammenzusetzen sind (indem man sich selbst als strategisch zu optimierendes "Bündel von Kompetenzen" zu betrachten beginnt), und das eigene Leben durch die Unterordnung unter nicht planbare Marktanforderungen segmentieren und in raum-zeitlich diskontinuierliche Abschnitte zerlegen zu lassen. Die einzelnen Kompetenzen wieder zu einem subjektiv stimmigen Gesamtbild der eigenen Person zusammenzusetzen und die verschiedenen Tätigkeiten und Lebensbereiche so zu koordinieren, dass ihr Zusammengehen nicht nur lebbar, sondern auch als kohärente Erzählung des eigenen Lebens erfahrbar wird, liegt in der persönlichen Verantwortung derer, die diesen Kräften ausgesetzt sind.


2. Grenzen der Flexibilität und Grenzverschiebungen

Ab einer bestimmten Schwelle unterminiert die auf Wachstum ausgerichtete Steigerungs- und Flexibilisierungsdynamik ihre eigenen Reproduktionsbedingungen und zeitigt dysfunktionale Wirkungen für die sozioökonomische, politische und kulturelle Stabilität moderner kapitalistischer Gesellschaften. Dass die immer weiter reichende 'flexible' Reorganisation aller auf die kapitalistische Produktion ausgerichteten und von ihr abhängigen Bereiche nicht dauerhaft funktionieren kann, ohne dass die Flexibilisierung ihrerseits an immanente Grenzen stößt, liegt auf der Hand. Das Ganze kann allein deshalb nicht stabil so weiterlaufen, weil alle beschriebenen Flexibilisierungs-, also Verkleinteiligungsprozesse keine einmal zu erbringenden Optimierungsleistungen sind, sondern entsprechend der kapitalistischen Wettbewerbslogik stetig fortgesetzt werden müssen, wenn sich die beteiligten Unternehmen an ihren Märkten halten wollen bzw. die jeweilige Volkswirtschaft wettbewerbsfähig bleiben soll.

Wachstum unter diesen Bedingungen bezieht sich daher nicht nur im engeren Sinne auf das Bruttoinlandsprodukt und somit auf Steigerung von Wertschöpfung und Produktivität, die bekanntlich auf eine ebenfalls steigende Inanspruchnahme von Energie und materiellen Ressourcen beruht, sondern zugleich auf eine Intensivierung der Nutzung nicht materieller Ressourcen, einschließlich menschlicher Kreativität und Lebenszeit, die durch Flexibilisierung in zunehmendem Umfang als Ware verfügbar gemacht werden.

Die spezifischen Grenzen des flexiblen Kapitalismus stehen dabei in einem größeren Zusammenhang mit den ökologischen, ökonomischen und sozialen Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise in globalem Maßstab, auf die schon seit dem Bericht an den Club of Rome Anfang der 70er Jahre immer wieder hingewiesen worden ist. Dabei ist der flexible Kapitalismus eben nur eines von mehreren unterschiedlichen kapitalistischen Regimes, die gleichsam arbeitsteilig die Struktur der globalen kapitalistischen Wirtschaft ausmachen. In dieser koexistiert er mit anderen, der Flexibilisierungs- und Verkleinteiligungsdynamik nicht oder nur indirekt und teilweise (etwa über globale Wertschöpfungsketten) ausgesetzten kapitalistischen Regimes, in denen sich die konkrete Form der Wachstumszwänge und -grenzen anders ausgestaltet. Besonders ist dabei am flexiblen Kapitalismus, dass seine Grenzen nicht nur solche der Ausweitung der warenförmigen Verfügbarkeit und Nutzung von (natürlichen wie sozialen) Ressourcen sind, sondern dass es sich um Grenzen der weiteren Intensivierung des Zugriffs auf Rohstoffe, Arbeitskraft, Wissen und Subjektivität handelt. Es sind nicht nur die Grenzen der Möglichkeit, immer mehr produktive Ressourcen heranzuholen, sondern auch und gerade die Grenzen des Prinzips "Making more with less": Die Grenzen der Möglichkeit von Effizienzgewinnen durch kleinteiligeren Zuschnitt der verschiedenen Produktionsinputs und schnellere und genauere Technologien zu deren Allokation.

Drei Dimensionen von Grenzen kapitalistischer Flexibilität

Das betrifft zum ersten Grenzen der Ressourcenverfügbarkeit: Neben der in einem weiterhin fossilistischen Regime bestehenden enormen Empfindlichkeit der Gesellschaft gegenüber Schwankungen des Preises oder Lücken in der Verfügbarkeit von seltener und schwieriger abbaubar werdenden fossilen Energiequellen können diese Grenzen überall dort erreicht werden, dass bestimmte in der Herstellung von Gütern benötigte Stoffe nicht dauerhaft in der verlangten Qualität zu bekommen sind oder kurzfristige Schwankungen in der Nachfrage danach nicht bedient werden können. Diese Probleme stellen sich sowohl bezüglich der Möglichkeit, Schlüsselressourcen wie Öl oder Phosphat auf eine noch wirtschaftlich und energetisch-stofflich effiziente Weise zu gewinnen, sondern hinsichtlich der Absorptions- und Regenerationskapazitäten der sogenannten Senken wie Atmosphäre, Boden, Wasser. Zum zweiten handelt es sich um Grenzen der Koordinierbarkeit und der Beschleunigung von Arbeits- und Produktionsleistungen - die weitere Verkürzung von Produktzyklen oder von Lieferzeiten bestellter Produkte, die durch jede weitere Innovation in der Produktion zu erreichen ist, geht im Laufe der Zeit gegen Null, so dass der Wettbewerb um Marktanteile nicht mehr über bessere, individueller angepasste oder schneller gelieferte Produkte geführt werden kann, sondern über den Preis ausgetragen werden muss, wodurch neben der weiteren Unterordnung des Lebens der Beschäftigten auch Bestrebungen nach Senkung ihrer Löhne zunehmen. Wenn dies zu Widerständen führt, markieren diese Grenzen der Flexibilisierbarkeit auch Grenzen der Macht, die Kosten der Arbeit zu drücken. Und zum dritten werden - gerade das ist spezifisch für den flexiblen Kapitalismus - zunehmend auch Grenzen der psycho-physischen Belastbarkeit bzw. Dividualisierbarkeit der arbeitenden Subjekte erreicht: Je kürzer die Abrufzeiten und je unregelmäßiger die Zyklen der erbrachten Arbeitsleistungen, umso schneller wird der Punkt erreicht, an dem die geforderten Koordinationsleistungen nicht mehr dauerhaft zu bewältigen sind. Chronische Überforderung, Krankheiten und die nachhaltige Beschädigung von familiären, freundschaftlichen und nachbarschaftlichen Beziehungen sind die Folge.

In allen drei der genannten Dimensionen handelt es sich weniger um absolute Grenzen, gegen die die wir stoßen werden, als eher um Schwellen, oberhalb derer (aus kapitalistischer Sicht) Investitionen immer schwerer profitabel werden können, weil (aus Sicht der Menschen und der Natur) die bereits ausgeübte Belastung durch Ausbeutung nicht weiter gesteigert werden kann. Die Rede von Grenzen des Wachstums kündigt somit nicht das Ende des Wachstums schlechthin an, sondern das Ende des 'einfachen' Wachstums und des daran gekoppelten Versprechens von Wohlstandssteigerung und stetiger Verbesserung der Lebensqualität für eine Mehrheit der Bevölkerung. Jenseits dieses Punkts wird weiteres Wachstum immer schwieriger und geht nur mit immer gravierenderen Folgen einher: Es kommt zu Grenzverschiebungen und Verlagerung der Konsequenzen 'nach außen' in die Länder des globalen Südens und 'im Innern' auf marginalisierte Bevölkerungsteile und in den 'privaten' Bereich familiärer Sorgeanforderungen hinein. Dies gilt es bei Überlegungen zu den Voraussetzungen eines guten Lebens für alle stets mitzudenken, auch wenn wir zunächst bei den Lebensverhältnissen unter flexibel-kapitalistischen Bedingungen hierzulande ansetzen.


3. Perspektiven: Gutes Leben im und gegen den flexiblen Kapitalismus

Viele WachstumskritikerInnen weisen aus den genannten Gründen darauf hin, dass weiteres dauerhaftes Wirtschaftswachstum auf lange Sicht weder möglich noch wünschbar ist und dass ökonomische Schrumpfung zukünftig unvermeidbar sein wird. Wenn eine in ihren wirtschaftlichen, politischen und mentalen Strukturen auf Wachstum ausgerichtete Gesellschaft aber plötzlich aufhört zu wachsen, gestaltet sich diese Schrumpfung notwendigerweise als krisenhafte, von den Menschen als Katastrophe erlebte Rezession aus. Unter gleichbleibenden Rahmenbedingungen impliziert Schrumpfung zunehmende Verelendung breiter Schichten der Bevölkerung, steigende Ungleichheit auf nationaler wie globaler Ebene und eine Dramatisierung sozialer Konflikte - hierfür sind nicht zuletzt auch die gegenwärtigen massenhaften Migrationsbewegungen ein deutliches Anzeichen. Der Wandel muss also, so die im wachstumskritischen Lager einhellig geteilte Schlussfolgerung, aktiv gestaltet werden, damit es nicht zu einem solchen Katastrophenszenario kommt.

Konservative versus emanzipatorische Wachstumskritik

Wie aber diese notwendige Gestaltung aussehen kann, darüber besteht Uneinigkeit - und es ist diese Frage, an der sich die konservative Strömung der Postwachstumsdebatte klar von ihren emanzipatorischen Varianten unterscheidet. Die konservative Richtung, wie sie in Deutschland insbesondere Meinhard Miegel vertritt, fokussiert auf die Anpassung der Subjekte an die neuen Bedingungen der ökonomischen Schrumpfung, die durch einen geforderten Bewusstseinswandel erreicht werden soll. Weil Schrumpfung zurückgehende Steuereinnahmen bedeute und der Sozialstaat in seiner bisherigen Form nicht mehr zu finanzieren sei, fordert Miegel die Privatisierung der personenbezogenen Dienstleistungen (Erziehung und Pflege), die vor allem von einer traditionellen Familienstruktur wieder aufgefangen werden müssten. Die in einer schrumpfenden Wirtschaft notwendige Reduzierung der Arbeitszeit werde zudem dazu führen, dass Menschen mehrere Jobs ausüben müssten, um ihren Lebensunterhalt zu garantieren. Durch einen kulturellen Wandel hin zu nicht-materiellen Werten und eine Anpassung der Bedürfnisse und Glücksvorstellungen an die veränderten Zwänge, die nun Austerität und Sozialkahlschlag heißen, könne - so Miegel - die Anpassung ohne große Verluste gelingen, weil sich der von Verarmung und Arbeitszeitreduzierung bedingte Wohlstandsverlust in einen Gewinn durch die Wiederentdeckung von sinnstiftender Muße, kultureller und spiritueller Werte verwandeln könne.

Im Lichte der weiter oben gemachten Ausführungen wird deutlich, dass eine solche "Wachstumskritik" damit nicht auf einen Bruch mit den zentralen Strukturmerkmalen des flexiblen Kapitalismus hinausläuft, sondern im Gegenteil darauf, die für das Leben der Menschen zerstörerische Dynamik der Zerlegung und Verkleinteiligung auch dann noch weiter fortsetzen zu können, wenn sie nicht nur das Wohlstandsversprechen, sondern selbst das Versprechen auf Wachstum überhaupt nicht mehr einlösen kann. Unter diesen Bedingungen klingt "Postwachstum" nach einem Refeudalisierungsprogramm, in dem eine relative Fixiertheit der sozialen Rollen mit extrem hoher Ungleichheit und traditionellen Formen von Diskriminierung einhergeht - offenkundig ist etwa, dass die Refamilialisierung sozialer Tätigkeiten implizit vor allem als erneute verstärkte Indienstnahme von Frauen für diese gesellschaftlichen Aufgaben gedacht ist. Ohne gesellschaftlich gewährleistete Dienstleistungen und massive Umverteilung wirkt der von Miegel anvisierte Bewusstseinswandel nur für diejenigen befreiend, die sich den entstrukturierenden Wirkungen der Flexibilisierungsdynamik auf ihre Lebenszusammenhänge und ihre Persönlichkeit entziehen können, weil sie ausreichend Bildung, Zeit und wenige existentielle Sorgen haben. Anders die Situation derjenigen, die ihren Lebensunterhalt durch die Kombination mehrerer Tätigkeiten zwischen Lohn-, selbstständiger Arbeit und Selbstversorgung sichern und in der sonstigen Zeit noch Fürsorge von Familienangehörigen gewährleisten müssen. Für sie bedeutet die neue Wohlstandsverheißung ohne Wachstum Elend in materieller und geistiger Sicht.

Ganz anders ist aber die Perspektive, wenn man an die Vision einer Postwachstumsgesellschaft denkt, an der die internationale Degrowth-Bewegung seit Jahren arbeitet. Ihr geht es nicht um eine Anpassung an Krisenszenarien, sondern um die Erarbeitung radikaler Alternativen für eine Gesellschaft, die nicht mehr auf Wachstum ausgerichtet ist. Statt einer weiteren Zementierung der kleinteiligen Logik des flexiblen Kapitalismus durch ihre Stabilisierung in eine Periode wirtschaftlicher Schrumpfung hinein geht es ihr um die Infragestellung dieser Logik selbst und um das Beharren auf der Möglichkeit selbst gewählter und gemeinsam demokratisch gestalteter Alternativen. Anders als in der konservativen Vision, die über die grundlegende Organisation des Wirtschaftens nicht reden will und das 'Private' in mehrfacher Hinsicht als dem demokratischen politischen Gemeinwesen gegenüber 'exterritorial' behandelt und die flexible Logik des Gegenwartskapitalismus damit aus ihrer Problemdiagnose ausklammert, wird in der Degrowth-Diskussion anerkannt, dass die flexibel-kapitalistischen Gesellschaften des globalen Nordens mit den Grenzen des Wachstums in doppelter Weise konfrontiert sind: Zum einen mit den Grenzen des quantitativen Wachstums, die auf globaler Ebene eine Reduktion von Ressourcenverbrauch und Emissionen verlangen, und zum anderen mit den Grenzen der Flexibilisierbarkeit. Auf beides müssen Entwürfe für ein gutes Leben ohne Wachstum Antworten geben können.

Woran misst sich die Qualität guten Lebens?

Ein gutes Leben ist demnach nicht nur eines, das insgesamt mit Weniger auskommt, sondern auch eines, dessen Qualität sich daran bemisst, dass Menschen gemeinsam selbst über die Ausgestaltung ihrer Lebenszusammenhänge bestimmen können, anstatt alle Aktivitäten und sozialen Bezüge an den Bedarfen "der Wirtschaft" oder "der Arbeitswelt" ausrichten und diesen ggf. unterordnen zu müssen. Wie jede Wachstumsgesellschaft legitimiert der flexible Kapitalismus seine alltäglichen Zumutungen durch die Behauptung, das 'Mehr', das durch die Bedienung dieser Zumutungen erarbeitet werden soll, bedeute einen Zugewinn an Lebensqualität für alle. Ob die nur noch graduellen Wohlstandsgewinne durch die weitere Flexibilisierung die negativen Folgen der Zerstückelung der Lebenszusammenhänge, der Fragmentierung der Lebenszeit und des Zwangs zur ständigen Selbstüberprüfung und -optimierung für die Lebensqualität aufwiegen können, kann aber nicht pauschal im Voraus beantwortet werden, sondern nur konkret von denen, die diesen Zwängen ausgesetzt sind. Damit ist gutes Leben unter flexibilisierten Bedingungen auch und gerade ein sehr weitreichendes Demokratisierungsprojekt: Es steht für den Anspruch, dass demokratische Entscheidungsfindung sich nicht nur auf den 'öffentlichen' Bereich allgemeiner Regeln des Zusammenlebens beziehen kann, sondern die 'privaten' Zusammenhänge, aus denen die Flexibilisierungszwänge erwachsen, erfassen muss. Anders gesagt: Was ansteht, ist eine Neubestimmung der Grenzen zwischen privatem und öffentlich-politischem Bereich. Fragen des "Was" und des "Wie" gesellschaftlichen Produzierens und Konsumierens können nicht länger als unpolitische "Privatsache" behandelt werden.

Neue Formen des Wirtschaftens als Alternative

Für viele WachstumskritikerInnen mündet diese Einsicht in eine intensive Beschäftigung mit alternativen, selbstorganisierten und demokratisch gesteuerten Formen des Wirtschaftens, die sie in vielfältigen praktischen Projekten erproben, die eine Zukunft ohne Wachstumsdiktat vorbereiten. Dazu gehören u.a. nicht profit- sondern bedürfnisorientierte Formen der Produktion und der solidarischen Bereitstellung von Dienstleistungen, wie zum Beispiel die katalonische 'integrale Kooperative'. Die CIC (Cooperativa Integral Catalana) ist ein internet- und commons-basiertes Netzwerk verschiedener Selbstverwaltungs- und Selbstversorgungsprojekte, Tauschringe und kleiner lokaler genossenschaftlicher Produktionswerkstätten, die das ehrgeizige Ziel verfolgt, einen signifikanten Beitrag zur Deckung der Grundbedürfnisse für die Menschen in der Region zu leisten und mehrere tausende Mitglieder allein in Katalonien zählt (http://cooperativa.cat/de/). Sie verbindet antagonistische Aktionen mit präfigurativen sozialen Experimenten, in denen Entwürfe einer alternativen Gesellschaft antizipiert und gelebt werden. In Kooperation mit der Stiftung P2P (Peer-to-Peer) arbeitet die Kooperative derzeit an der Entwicklung offener und commons-basierter Prozesse der Produktion und Wissensgenerierung.

Die globale Commons-Bewegung steht nicht nur für die gemeinschaftliche Nutzung von Gemeingütern, die - wenn sie gut koordiniert ist - durchaus eine viel effizientere und auf Dauer ausgerichtete Form der Ressourcennutzung ermöglicht. Commons bedeutet auch eine andere Form der Relationen, die unsere moderne, digitale Welt im Prinzip ermöglicht hat. Die neue Commons-Bewegung nutzt das Beste der technologischen und anthropologischen Entwicklung der letzten zwei Jahrhunderte, um eine neue Ära kooperativer, dezentraler und vernetzter Innovationen einzuleiten jenseits von Massenproduktion und Massenkonsum. Neue Technologien, Dienstleistungen und Produkte können heute technisch vollständig lokal, dezentralisiert, in geschlossenen Kreisläufen und gleichzeitig global durch Vernetzung, Austausch und gemeinsame Entwicklung erstellt werden. In der Commons-Bewegung wird diese Chance im Sinne von Selbstverwaltung und solidarischer Kooperation umgesetzt, statt als kapitalistische Ausbeutung der Kreativität der Subjekte zu fungieren.

Die Vision einer Postwachstumsgesellschaft reduziert sich aber nicht auf die zahlreiche Initiativen, die in mehr oder weniger nischenhaften Kontexten Alternativen experimentieren. Projekte wie zum Beispiel die der "bedingungslosen Autonomie-Grundausstattung" (Dotation Inconditionnelle d'Autonomie - DIA), die eine Gruppe französischer AktivistInnen rund um die Degrowth-Bewegung entworfen hat, dienen als Visionen einer radikalen gesellschaftlicher Transformation. Die DIA kombiniert zwar ein bedingungsloses Grundeinkommen mit einem maximalen Einkommenssockel, der steuerlich reguliert ist. Aber sie geht weit über die bloße Verteilung von Geld an alle Gesellschaftsmitglieder hinaus und umfasst eine Reihe von wesentlichen Dienstleistungs- und Nutzungsrechten, die als fundamentale Grundrechte aller gelten, darunter das Recht auf eine bestimmte Wohnfläche, das Recht auf Bildung, das Recht auf Mobilität. Allen Gesellschaftsmitgliedern soll der Zugang zu dieser minimalen Grundausstattung kostenlos zustehen.

Postwachstum ist ein Kampfwort, das die Widersprüche der Wachstumslogik aufdeckt und die traditionellen Legitimationsformen von Wachstumsgesellschaften unterminiert, indem sowohl die tradierte Wirtschaftsstruktur als auch die damit verbundene kulturelle Infrastruktur radikal in Frage gestellt wird. Postwachstum kann somit zu einer Leitidee werden, die antagonistische Formen von Kritik und Widerstand mit neuen sozialen Experimenten verbindet, in denen schon jetzt und heute alternative Formen des Zusammenlebens nicht nur entworfen, sondern durch kollektive Praktiken auch erlebt werden können. In dieser Hinsicht ist es durchaus richtig, dass gutes Leben im flexiblen Kapitalismus beginnen kann - es muss aber zwangsläufig über diesen hinausweisen, und die bei der Suche danach entwickelten neuen sozialen Strukturen müssen sich notwendig gegen die Zwänge des flexiblen Kapitalismus richten.


Dr. Dennis Eversberg ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der DFG-KollegforscherInnengruppe "Postwachstumsgesellschaften" am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Dr. Barbara Muraca ist Assistant Professor an der School of History, Philosophy, and Religion an der Oregon State University in Corvallis, Oregon, USA.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 5/2015, Heft 210, Seite 25-33
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. November 2015

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