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FINANZEN/017: Die Krise im Kopf (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2009

Die Krise im Kopf

Eckhard Fuhr


Die derzeitige Finanz- und Wirtschaftskrise hat bereits historische Dimensionen erreicht. Parallelen werden gezogen zu den 30er Jahren. Dennoch herrscht noch relative Ruhe im Land.


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An einem heißen Julitag des vergangenen Jahres fuhr ich in einen entlegenen Winkel der Prignitz. Der Kulturhistoriker Wolfgang Schivelbusch hat sich dort in einer ehemaligen Schmiede sein Sommerrefugium eingerichtet. Sie ist neben New York und Berlin sein dritter Lebensort. So stellt man sich im Traum eine Intellektuellen-Existenz vor - global, mobil, metropolitan, aber mit einem Anker in ländlicher Abgeschiedenheit. Wo Pferde nicht mehr beschlagen und Landmaschinen nicht mehr repariert werden müssen, findet der Geistesmensch eine Behausung und kann in Ruhe über die Welt nachdenken.

Es war allerdings Beunruhigendes, was mich das Gespräch mit Schivelbusch suchen ließ. Gerade waren die amerikanischen Immobilienbanken Freddie Mac und Fannie Mae vom Staat mit 300 Milliarden Dollar vor dem Kollaps gerettet worden. Was geschah in dem Land, dessen Präsident George W. Bush sein Programm der globalen Verbreitung von Demokratie und liberaler Marktwirtschaft mit religiöser Inbrunst propagierte und mit blindem Eifer in die Tat umzusetzen versuchte? Bei den niedlichen Namen Fannie Mae und Freddie Mac, sagte Schivelbusch, habe er zuerst an Fred Astaire und Ginger Rogers, an Hollywood, nicht an die Wallstreet gedacht. Beides allerdings sind Orte des amerikanischen Traums.

Vor vier Jahren veröffentlichte Schivelbusch das Buch Entfernte Verwandtschaft. Er untersucht darin die kulturellen Parallelen zwischen Faschismus, Nationalsozialismus und amerikanischem New Deal in der Auseinandersetzung mit den Folgen der Weltwirtschaftskrise. Das Amerika Roosevelts verabschiedete den Liberalismus, um die Demokratie zu erneuern. Italien und Deutschland gingen den autoritären und totalitären Weg. Aber so wenig wie dieser grundsätzliche Qualitätsunterschied übersehen werden darf, so wenig darf man die Augen verschließen vor den Gemeinsamkeiten: Mobilisierung der Gesellschaft durch Propaganda, Gemeinschaftsideal, staatliche Arbeitsbeschaffungsprogramme, Idee des "nationalen Dienstes", Rückbesinnung auf den - urbar zu machenden - Boden und anderes mehr. Der kulturelle Gezeitenwechsel im Gefolge der Krise setzte sich über die politischen Systemgegensätze hinweg. Über die Frage, ob es wieder so weit sei, wollte ich mit dem Kulturhistoriker reden. Es wurde ein tastendes Gespräch über die Frage, welche schlummernden Potenziale die sich abzeichnende Bankenkrise wecken könnte, tastend auch deshalb, weil wir uns über deren Ausmaß keine Vorstellung machen konnten. Klar war nur, dass der amerikanische Traum einer Gesellschaft individualistischer Haus- und Grundbesitzer gerade dabei war zu platzen. Dass die gesamte Weltwirtschaft in die Hölle fahren könnte, daran wollte man im vergangenen Sommer noch nicht denken. Überhaupt muss man rückblickend feststellen, dass im Angesicht dieser Krise die Verfertigung der Gedanken beim Reden einem langsameren Zeittakt folgt als die Umwälzung der Wirklichkeit.

Zwei Monate später, Mitte September, brach die Investmentbank Lehman Bros. zusammen, ein Monument der globalen Finanzindustrie. Die freigesetzten Banker packten ihre Bürohabseligkeiten in Kartons. Unverdrossene kommentierten die Bilder: Das Leben geht weiter. Dass in diesem Moment die Wallstreet die historische Adresse einer im Desaster zu Ende gegangenen Epoche wurde, das ahnten manche, aussprechen wollte es kaum jemand. Allerdings fand der Kunstbetrieb dafür ein grandioses Bild. Am selben Tag, an dem Lehman Bros. unterging, feierte der britische Künstler Damien Hirst bei Sotheby's in London eine bizarre Auktions-Party. Unter Umgehung des Kunsthandels ließ er eine ganze Jahresproduktion direkt versteigern und erzielte 130 Millionen Euro. Das teuerste Stück war das "Goldene Kalb", ein in Formaldehyd konservierter Jungbulle mit Hufen aus 18-karätigem Gold. 13 Millionen Euro ließ sich das ein Sammler kosten. Ob das Sinnbild des Gier-Kapitalismus auch im ökonomischen Sinn werthaltig ist, muss sich noch erweisen. Immerhin wird das Gold der Hufe einen Absturz ins Bodenlose verhindern, wenn sich die ästhetische Aura als nicht beständig erweisen sollte. Am Ende bleibt das Stoffliche.


Noch herrscht Ruhe im Land

Die Lehman-Pleite markiert den Punkt, von dem an die Bankenkrise als Weltwirtschaftskrise wahrnehmbar wurde. Der "amerikanische Virus" (Rainer Hank) machte vor keiner Grenze Halt. Es schlug die große Stunde der Politik. Der Staat, als zentrale Schutz- und Ordnungsmacht in den westlichen Demokratien schon weitgehend abgeschrieben, erlebte ein triumphales Comeback. Man konnte regelrecht sehen, wie Minister, Kanzler und Präsidenten sich verwundert die Augen gerieben hatten, bevor sie in den vertrauten medialen Kulissen Revolutionäres verkündeten: Schutzschirme für die bedrohte Finanzwirtschaft und Konjunkturprogramme zur lebensrettenden Stimulation der Realwirtschaft in unvorstellbaren Größenordnungen. Staatsskepsis gibt es ja in allen großen politischen Strömungen: im Liberalismus, der das eigenverantwortlich wirtschaftende Individuum in den Mittelpunkt stellt; im Konservatismus, der gewachsene Strukturen gegen die modernisierende Zurichtung durch den Staat verteidigt; im grün-alternativen Milieu, wo man antiinstitutionell auf zivilgesellschaftliche Netzwerke setzt; und auch in einer weichgespülten Sozialdemokratie, die immer noch ihre Big-Government-Wunden leckt.

Die durchaus unterschiedliche politisch-kulturelle Einfärbung dieser Staatsskepsis schliff sich jedoch ab in dem, was man die "Generation McKinsey" nennen könnte, also in jener in Wirtschaft, Politik und Medien nach oben steigenden Elite der 40- und 50-Jährigen. Es ist die erste Generation, die nicht mehr von den ideologischen Frontverläufen des 20. Jahrhunderts geprägt ist. Und entsprechend begründete sie den freihändigen Umschwung von der Marktwirtschaft zum Staatskapitalismus rein "pragmatisch". Das seien vorübergehende Maßnahmen. Keinesfalls könne von einem "ordnungspolitischen Sündenfall" gesprochen werden. Nur: In dem geheimnisvollen Musterbuch der Ordnungspolitik ist der Fall eines kompletten Vertrauensverlustes in die Werthaltigkeit ökonomischer Transaktionen nicht vorgesehen. Die historische Erfahrung lehrt, dass solche Krisen außerökonomisch "bewältigt" werden durch Hyperinflation, durch Krieg, durch Revolution. Wie lange wird die stets perfekte Frisur des neuen Wirtschaftsministers, wie lange wird die teflonartige Indifferenz der Bundeskanzlerin die Bürger vom Nachdenken darüber abhalten, was diese Weltenwende bedeutet? Und wie lange kann die Sozialdemokratie, die angstvoll spürt, dass eigentlich jetzt ihre Stunde schlägt, in Deckung bleiben?

Noch herrscht relative Ruhe im Land. Das kann einerseits damit zusammenhängen, dass Deutschland sich in den vergangenen Jahren gegenüber der Peitsche der Privatisierer und Deregulierer renitenter gezeigt hat als andere europäische Länder. Es hat seine industriellen Kerne nicht wie Großbritannien und die Adepten des "angelsächsischen Modells" bis auf kümmerliche Reste eingeschmolzen und die Standards der sozialen Sicherung nicht unter die Lächerlichkeitsgrenze gedrückt. Es ist zwar behauptet worden, das besiegele den Abstieg des Superstars. Doch das angebliche Schlusslicht Deutschland erweist sich in seinem "halbherzigen" Verharren zwischen industriegesellschaftlicher Tradition und postmoderner Laptop-Ökonomie als vergleichsweise kräftig. Trotzdem: Auch hier bleiben die Optionen der Krisenbewältigung ohne expliziten Systembruch begrenzt.

Andererseits also muss man die Ruhe im Land auch als Ausdruck tiefgreifender Rat- und Hilflosigkeit verstehen. Es wäre frivol, das Bild von den Schafen zu bemühen, die zur Schlachtbank geführt werden. Dazu sind die Bürger zu mündig, zu aufgeklärt und zu besonnen. Sie wissen, dass es den Ausweg des "Aufstandes" nicht gibt. Nur der Glaube an die Nachhaltigkeit politischer Aufklärung erlaubt es, im Angesicht dieser Krise das 21. Jahrhundert nicht als Reprise des 20. zu begreifen. Mit jedem Tag aber, an dem die Verwüstungen sichtbar werden, die der globale Finanzkapitalismus hinterlassen hat, wird die Frage nach einer neuen Ordnung dringlicher. Man sollte hier nicht dem Krisenkult der angeblich schöpferischen Zerstörung huldigen. Neue Ordnungen, die aus Panik und Auflösung erwachsen, müssen wir uns ersparen.


Eckhard Fuhr (* 1954) ist Chef des Feuilletons der Zeitungen Die Welt, Welt am Sonntag und Berliner Morgenpost. Zuletzt erschien im Berliner Taschenbuch-Verlag: Wie wir uns finden. Die Republik als Vaterland.
eckhard.fuhr@welt.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2009, S. 37-39
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Juli 2009