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FRAGEN/003: Interview mit dem Wachstumskritiker Professor Jacques Grinevald (DER RABE RALF)


DER RABE RALF
Nr. 153 - Dezember 2009 / Januar 2010
Die Berliner Umweltzeitung

WIRTSCHAFT
"Die Ökonomen fürchten diese Wahrheit"
Interview mit dem Wachstumskritiker Professor Jacques Grinevald

Von Ernst Schmitter


Jacques Grinevald unterrichtet in Genf. Er arbeitet vor allem in den Themenbereichen nachhaltige Entwicklung und ökologische Ökonomie. 2008 hat er erfolgreich die Gründung eines Netzwerks für Wachstumsverweigerung in der französischsprachigen Schweiz angeregt.

Herr Grinevald, können Sie kurz Ihren Werdegang als Fachmann im Bereich der Wachstumsrücknahme beschreiben?

1974 arbeitete ich im Pressedienst der Universität Genf. Ich bekam den Auftrag, einen Vortrag von Nicholas Georgescu-Roegen zu organisieren, dessen Werke ich zum Teil kannte. Nach seinem Genfer Vortrag entwickelte sich zwischen ihm und mir eine dauerhafte Freundschaft. Georgescu-Roegen betrachtete mich als seinen ersten Schüler in Europa. Ich habe viele seiner Texte ins Französische übersetzt und publiziert. Unter der Leserschaft dieser Publikationen hat sich eine Art Netzwerk gebildet, lange bevor die heutige Décroissance-Bewegung entstand.

Georgescu-Roegen ist seit Jahrzehnten ein Geheimtipp. Warum ist er so wichtig?

Er hat die Bedeutung des Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik für die Wirtschaft erkannt und den Begriff der Entropie in die Wirtschaftswissenschaft eingeführt. Der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik besagt, dass die vollständige Umwandlung von Arbeit in Wärme nicht umkehrbar ist. Das hat zur Folge, dass die Ökonomen sich vom mechanistischen Weltbild verabschieden müssen, das bis heute ihr Paradigma geblieben ist. Die Wirtschaft ist nicht wie ein Pendel, bei dem es egal ist, ob es hin oder zurück schwingt. Das Wirtschaftsgeschehen hat eine Zeitachse mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Nichts lässt sich ungeschehen machen. Unser Wirtschaften spielt sich in einer ständig sich verschlechternden Ressourcenlage ab. Die Schäden, die die Wirtschaft jetzt dem Klima zufügt, kann sie nicht reparieren. Die neoklassischen Ökonomen fürchten diese Wahrheit, wie die katholische Kirche Galileis Erkenntnisse fürchtete, weil sie den irrationalen Charakter ihrer Lehre entlarvte. Deshalb ist Georgescu-Roegen bis heute ein Geheimtipp geblieben.

Kann man die Wirtschaft von ihrem zerstörerischen Wachstumszwang abbringen?

Die Frage ist nicht, ob man kann. Man muss! Es gibt keine andere Lösung. Vielleicht finden wir den Weg leichter, wenn wir bedenken, dass es nicht nur um die Überwindung des Kapitalismus geht. Es geht um die Überwindung eines Machtstrebens, das untrennbar zum ökonomischen Denken gehört. Die Ökonomen wollen nicht nur Wachstum, sie wollen Wachstum des Wachstums, im Zweifelsfall lieber eine Explosion als Stillstand oder Rückschritt. Sie wollen Eroberung. Ihr Fach ist von einer kriegerischen Mentalität geprägt. Es geht aber gerade darum, dass wir lernen, Gewaltfreiheit zu einem Grundprinzip unseres Handelns, auch unseres wirtschaftlichen Handelns, zu machen. Unsere gesamte gesellschaftliche Wirklichkeit ist heute von Gewalt und Gewaltdenken beherrscht. Das gilt es zu überwinden.


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Literatur zur Wachstumsverweigerung

Hans-Peter Gensichen (* 1943): Armut wird uns retten. Geteilter Wohlstand in einer Gesellschaft des Weniger. Publik-Forum Edition, Oberursel 2009.
Gensichen war eine der bekanntesten Persönlichkeiten der unabhängigen kirchlichen Umweltbewegung in der DDR.

André Gorz (1923-2007): Auswege aus dem Kapitalismus, Beiträge zur politischen Ökologie, Rotpunktverlag, Zürich 2009.
Enthält Texte aus den Jahren 1975-2007.

Marcel Hänggi (* 1969): Wir Schwätzer im Treibhaus. Warum die Klimapolitik versagt, Rotpunktverlag, Zürich 2009.
Das Buch erklärt den Rebound-Effekt, der Effizienzsteigerungen wieder auffrisst.

Ivan Illich (1926-2002): Selbstbegrenzung, eine politische Kritik der Technik, Rowohlt, Reinbek 1980.
Illich zeigt, dass Fortschritt in Teilbereichen unserer Gesellschaft eine Eigendynamik entwickeln kann, die ihn kontraproduktiv werden lässt. Dem stellt er das Bild einer Gesellschaft gegenüber, die sich von Wachstumszwang und Produktivismus befreit.

Hans Jonas (1903-1993): Das Prinzip Verantwortung. Insel, Frankfurt/M. 1979/Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt/M. 1984.
Von Jonas stammt der Satz: "Der schlechten Prognose den Vorrang zu geben gegenüber der guten, ist verantwortungsbewusstes Handeln im Hinblick auf zukünftige Generationen."


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Quelle:
DER RABE RALF - 20. Jahrgang, Nr. 153, Dezember 2009/Januar 2010, S. 9
Herausgeber:
GRÜNE LIGA Berlin e.V. - Netzwerk ökologischer Bewegungen
Prenzlauer Allee 230, 10405 Berlin-Prenzlauer Berg
Redaktion DER RABE RALF:
Tel.: 030/44 33 91-47, Fax: 030/44 33 91-33
E-mail: raberalf@grueneliga.de
Internet: www.raberalf.grueneliga-berlin.de

Erscheinen: zu Beginn gerader Monate
Abonnement: 10 Euro/halbes Jahr


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Februar 2010