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FRAGEN/042: Gespräch mit Henning Scherf - "Die Spekulation mit öffentlichen Grundstücken muss unterbunden werden" (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2019

"Die Spekulation mit öffentlichen Grundstücken muss unterbunden werden"

Klaus-Jürgen Scherer sprach mit Henning Scherf


Henning Scherf, von 1995 bis 2005 Bremer Bürgermeister, hat danach neben vielen Ehrenämtern eine Reihe von Büchern über das Älterwerden geschrieben. Seit mehr als drei Jahrzehnten wohnt er mit seiner Frau Luise und Freunden in einem Mehrgenerationenhaus in der Bremer Innenstadt. Im Gespräch mit Klaus-Jürgen Scherer äußert er sich zu den Herausforderungen heutiger Wohnungspolitik, einer gelingenden Integration von Zugewanderten und alternativen Möglichkeiten der Stadtentwicklung.


NG|FH: Stadtentwicklung und Zusammenhalt der Gesellschaft sind eng miteinander verknüpft. Welches sind die problematischsten Entwicklungen in diesem Zusammenhang, auf die die Politik Antworten finden muss?

Henning Scherf: Seit gut 20 Jahren wachsen die Städte wieder. Bis dahin sind die Menschen gerne ins Umland gezogen, weil es dort günstigere Wohnungen und Grundstücke gab. Aber der Trend hat sich umgekehrt - Stichwort Landflucht - und nun stehen die Großstädte unter Druck. Vor allem natürlich Berlin, Hamburg und München, aber auch z. B. in Bremen gibt es einen Nachfragedruck auf dem Wohnungsmarkt. Hier muss man die richtigen Antworten finden.

Die erste Antwort lautet: möglichst neu bauen. Unsere städtische Wohnungsbaugesellschaft, die früher mal Neue Heimat hieß und die wir dann rekommunalisiert haben, baut endlich wieder und zwar im großen Stil. Nach der Pleite der Neuen Heimat wurde praktisch nur noch saniert, zum Teil abgerissen, weil die großen Wohnsilos nicht mehr beherrschbar waren. Das hat sich geändert.

Auch die zweite bremische kommunale Wohnungsbaugesellschaft - die Brebau - baut wieder. Und auch der private Wohnungsmarkt zieht mit. Es gibt also überall Baustellen in der Stadt. Zudem werden Quartiere verdichtet, mit dem Anspruch, Arbeit und Wohnen zusammenzubringen und für die Kinder eine Nähe zum Kindergarten und zur Schule zu schaffen. Das kann man doch innerstädtisch viel besser lösen, als wenn man die Landschaft zersiedelt. Plötzlich gibt es wieder eine Art Renaissance der Urbanisierung, der Idee, in der Stadt zu wohnen. Das gefällt mir.

NG|FH: Hat das nicht auch eine Kehrseite?

Scherf: Ja, wenn man nicht aufpasst. Mit unseren kommunalen Wohnungsbauunternehmen sind wir sehr ambitioniert - wir sind mit Abstand Marktführer: Wir kämpfen für verträgliche Mieten und versuchen, den Mietmarkt unter Kontrolle zu halten. Man muss sich schon fantasievolle Konzepte einfallen lassen, um die Gefahr zu verringern, dass die Mietpreise durch die Decke gehen. Mietpreise müssen so gestaltet werden, dass es auch für Bezieher kleiner Einkommen noch möglich ist, in der Stadt Quartiere zu finden.

NG|FH: Neben der Frage nach der Höhe der Mieten gibt es andere problembehaftete Themen: die zunehmende Gentrifizierung, die Entwicklung von Parallelgesellschaften, das Auseinanderfallen von Quartieren, die Herausforderungen durch die Aufnahme von Flüchtlingen.

Scherf: Wir haben den Ehrgeiz, Flüchtlingsfamilien zu verteilen, also nicht an einem Platz anzusiedeln, sondern ihnen Zugang zu gewöhnlichen Nachbarschaften zu verschaffen. Das ist z. B. wichtig für die Kinder und die Schulen, damit nicht manche zu Flüchtlingsschulen werden. Die Kinder müssen ein Umfeld haben, in dem sie schnell Deutsch lernen können, wo sie schnell vertraut werden und wo dann auch die Eltern größere Chancen haben über den Erwerb der Sprache Arbeitsplätze zu finden. Das ist aber inzwischen kein Skandalthema mehr, sondern beherrschbar. Das freut mich sehr.

NG|FH: Bremen hat eine wunderschöne, sanierte Altstadt.

Scherf: In den attraktiven Quartieren gehen die Preise natürlich nach oben. Man muss aufpassen, dass sich keine segregierte Stadtkultur entwickelt. Wir wollen keine No-go-Areas, keine gettoähnlichen, nur von Gegengesellschaften dominierten Quartiere, sondern dass die von uns gewünschte Zuwanderung angenommen wird und dass Integrations- oder auch Inklusionskonzepte entwickelt werden, so dass die hier zugewanderten Menschen möglichst schnell, nicht erst in der dritten, vierten Generation, mit ihren Kindern Wurzeln schlagen und zu Bürgern dieser Stadt werden. Ich spüre, dass die Bereitschaft dazu groß ist. Wir kümmern uns z.B. seit vier Jahren um eine Flüchtlingsfrau aus Nigeria, die mit drei Kindern aber ohne Mann hierhergekommen ist. Das gesamte Quartier freut sich mit ihnen: Die Mutter beginnt jetzt eine Ausbildung als Altenpflegerin, nachdem sie ihre Sprachprüfung geschafft hat. Die beiden größeren Kinder sind inzwischen auf dem Gymnasium und richtig gute Schüler. Beide Schulen, auf die sie gehen, sind Schulen gegen Rassismus. Es macht mich sehr glücklich, zu erleben, dass diese Familie hier angekommen ist.

Auch für die Bremer Kinder und Nachbarschaften ist das eine wunderbare Herausforderung, sich auf eine Gesellschaft einstellen zu können, die bunt ist. Voraussetzung ist aber immer, dass es einigermaßen beherrschbar bleibt und dass die Möglichkeit besteht, die Zugewanderten zu verteilen. Die Wohnbaugesellschaften und Nachbarschaften sollen an der Verteilung teilhaben, denn wir haben dezentralisierte Verwaltungen und die Ortsämter haben lokal die entsprechenden Adressen. Der Bürgermeister und der Ortsamtsleiter sind ganz nah an den Menschen dran, gehen zu ihnen in die Wohnung und bieten an, was in dem jeweiligen Quartier möglich ist, woran sie teilnehmen können.

Da ist mittlerweile eine wunderbare Szene entstanden, die mir sehr große Freude bereitet und mir wie die Renaissance der freien Reichsstadt erscheint. Die freien Reichsstädte waren im Mittelalter Zufluchtsorte für Flüchtlinge. Die Landesfürsten haben die Intellektuellen und die Minderheiten gejagt und die freien Reichsstädte haben ihnen die Türen geöffnet und sie geschützt. Das hat die Reichsstädte stark gemacht.

Bremen hat eine jahrhundertealte Tradition, die auf die Integration - oder besser noch Inklusion - der Flüchtlinge zielt und die gelungen ist. Hauptursache dafür ist, dass diese Stadt ein Gesicht hat, dass sie lebt, international und weltoffen ist.

NG|FH: In Berlin werden zwei Dinge gerade besonders diskutiert. Zum einen der alte Vorschlag von Hans-Jochen Vogel, dass man an den Bodenpreisen ansetzen muss, also die unberechtigte Spekulation mit Bodenland unterbindet. Das andere Thema ist die Diskussion um Enteignungen.

Scherf: Ich finde die Initiative von Hans-Jochen Vogel, die ich schon damals begrüßt habe, sehr aktuell, sehr wichtig und ich wäre froh, wenn sie aufgegriffen und umgesetzt würde. Beim Thema Enteignung muss man ganz genau überlegen. Die Entschädigungen kosten eine Menge Geld. Wenn das möglich ist, bin ich immer dafür.

Ich rate zu einem dritten Weg: Öffentliche Grundstücke sollten nicht an den Meistbietenden des Immobilienmarktes vergeben werden, sondern es sollte Festpreise geben. Die Spekulation muss unterbunden werden. Nur so entstehen Chancen für Baugemeinschaften, für Genossenschaften, für kleine dezentralisierte Genossenschaftsprojekte.

Unser Projekt ist privat finanziert. Wir wollten keine Unterstützung, sondern selber machen. Ich kenne Leute, die so ähnlich wie wir zusammenziehen wollen, aber große Mühe haben, ein geeignetes Grundstück zu finden. Dabei sind diese Projekte für unser kommunales Leben und unsere Nachbarschaft hoch attraktiv, denn sie sind eine richtige Antwort auf den Pflegenotstand. In Wohngemeinschaften wie unserer, wo wir nun seit über 30 Jahren leben, kann man das alles alternativ und kostenlos organisieren. Das ist attraktiv für die Stadt, den Ort, die Gemeinde. Dann rate ich den Bürgermeistern: Macht keinen Bogen um die alten Leute, sondern verbündet euch mit ihnen und überlegt, wie ihr Leerstand oder nicht genutzte kommunale Flächen mit ihnen so attraktiv umgestaltet, dass die Stadt einen Vorteil davon hat.

Im Bremer Ostertorviertel gibt es seit 20 Jahren ein Wohnprojekt in der Schmidtstraße, das "Haus im Viertel". Es liegt direkt neben der Helenenstraße, in der es Prostitution gibt und die jahrzehntelang eine Katastrophenecke war. 95 kleine Arbeiterhäuser gehören inzwischen dazu, die alle ziemlich heruntergewirtschaftet waren. Niemand wollte dort investieren. Jetzt blüht das mit den älteren Bewohnerinnen und Bewohnern wieder auf. Man kann ohne Anmeldung dahin gehen und in der alten Fundamtsliegenschaft essen. Man kann Kulturprogramme wahrnehmen, es gibt Kindergärten, Wohngemeinschaften und eine Demenz-WG mittendrin. Plötzlich lebt das Viertel wieder auf und die übrige Stadt entdeckt, was wir da für ein schönes Projekt haben. Mittlerweile gibt es Wartezeiten von fünf Jahren. Solche positiven Beispiele möchte ich gerne kommunalpolitisch an die große Glocke hängen.

NG|FH: Was kann man vonseiten der Politik machen, um die genossenschaftlichen Gründungen zu erleichtern?

Scherf: Das kann man nicht alles der Bundesregierung anhängen. Das muss vor Ort passieren mit einer Kommunalverwaltung, die merkt, dass die Dorf- oder Stadtgesellschaft älter wird und die diese Menschen nicht vertreiben, sondern ihnen dort eine Lebensperspektive geben will, wo sie sich auskennen, wo sie bekannt sind und eine Lebensgeschichte erlebt haben. Wenn das klappt, dann gibt es in der Kommunalpolitik eine Chance zur neuen, vitalisierenden, altersstrukturell gemischten Zusammensetzung der Quartiere.

Mit meinen Büchern reise ich durch die ganze Republik und halte Vorträge, in Stadthallen und Kirchengemeinden. Dabei habe ich gespürt, dass es eine große, erreichbare Nachfrage nach solchen Projekten gibt. Der Bürgermeister, der darauf eingeht, ist klug beraten. Schmuddelecken können aufgemöbelt und wieder für die Stadt erschlossen werden, Dienstleistungs- und Selbsthilfestruktur können zusammengebracht werden und ermöglichen, dass die Alten, auch wenn sie nun mit dem Rollator unterwegs sind, selbstständig bleiben.

NG|FH: Möglicherweise nimmt damit auch der Pendel- und der Autoverkehr insgesamt ab und die Vorurteile, Entheimatungs- und Überfremdungsgefühle, die den Rechtspopulismus befördern, dürften dann auch nicht mehr in dem bekannten Ausmaß entstehen, oder?

Scherf: Nach der Wende hat man gerade in den neuen Bundesländern außerhalb der Ortschaften große Märkte oder Einkaufszentren gebaut. Die sind für Alte in der Regel gar nicht erreichbar. Sie sind nicht kommunikativ und man trennt sich von den Gruppen mit Behinderungen und den nicht mehr so mobilen Milieus.

Infolge der neuen Nachfrage werden Angebote im Ort revitalisiert. Neue Geschäfte, Gaststätten und Bäckereien eröffnen. Es ist natürlich wunderbar, wenn ein Ort wieder so etwas wie eine Mitte erhält, wo Begegnung möglich ist. Dazu gehören Einzelhändler, Handwerker, aber auch ambulante Pflegedienste, die dann nicht mehr gefühlt die Hälfte ihrer Zeit im Auto verbringen müssen. In Wohngemeinschaften hat der Pflegedienst ein Dutzend Kunden an einem Platz, und kann von einer Wohnung zur anderen gehen. So bleibt mehr Zeit für die Alten, alles ist fußläufig erreichbar und kann besser organisiert werden.

Manche Kirchengemeinden überlegen, ob sie ihre Kirche verkaufen sollen, damit dort ein Getränkemarkt oder ähnliches einziehen kann. Dazu sage ich: Baut doch Eure Liegenschaft um und macht daraus ein attraktives Wohnquartier mit Cafés, in denen es Begegnungsangebote gibt, in denen Musik gemacht und Kultur angeboten wird. So etwas müssen wir fördern.

NG|FH: Die Grundidee, die hinter diesen Beispielen steckt, ist ja die, dass Solidarität als Grundwert gelebt werden muss und gelebt werden kann. Ist die Wiederherstellung von Gemeinschaft der zentrale programmatische Satz?

Scherf: Ich mache diese Erfahrung ja nun selbst seit gut 30 Jahren und mir geht es dabei sehr gut. Ich bin jetzt über 80 Jahre alt und habe das Gefühl, mitten im Leben zu sein, also nicht irgendwo am Ende meiner Biografie. Durch diese Art Zusammenleben beherrschen wir unsere Alltagsnöte viel besser. Wir haben keine Probleme mit Einsamkeit oder Depressionen. Viele Alte werden depressiv, weil sie nicht angesprochen werden, weil sie keine Struktur mehr in ihren Tag hineinbekommen und ihnen die Decke auf den Kopf fällt. Bei uns gibt es auch mehrere Generationen. Das ist enorm hilfreich.

Vor gut zwei Jahren ist ein Mitbewohner gestorben. Nach einiger Zeit haben wir überlegt, wer da einziehen könnte und dann haben wir einen alten Freund, einen pensionierten Pastor, einen Sozialdemokraten, der alleine in seinem Haus lebte, gefragt. Er kam nicht aus seiner Trauer heraus; mit jedem Buch, jedem Bild, jedem Möbelstück verband er seine verstorbene Frau. Es hat Monate gedauert, aber dann hat er sein Haus verkauft und ist bei uns eingezogen. Und man kann an seiner Wohnung sehen, dass er sich wohlfühlt. Er musste sich natürlich reduzieren, aber er ist angekommen und blüht richtig auf. Er hat einen neuen Platz gefunden und seine Biografie ist noch mal spannend und attraktiv geworden, mit 80! Das geht. Es ist also eine Chance, mit anderen, mit denen man sich verträgt und die man schätzt, zusammenzuleben.

NG|FH: Wenn ein Partner pflegebedürftig ist, wenn alles an einem anderen schon älteren Menschen hängen bleibt, führt das oft zur Überforderung. Allein die größere Zahl der in einem solchen Verhältnis solidarisch Zusammenlebenden führt zu einer Entlastung.

Scherf: In den 90er Jahren haben wir bei uns im Haus zwei langjährige Pflegeerfahrungen mit Sterbebegleitung gemacht. Erst die Mutter, dann der erwachsene Sohn. Die Mutter haben wir zwei Jahre lang nie allein gelassen, auch nachts nicht, bei dem Sohn ging das knapp fünf Jahre. Das hat den beiden und uns gut getan. Wir haben z. B. die Erfahrung bei dem Sohn gemacht, dass wir freiwillige Hilfe von dessen gleichaltrigen Freunden bekamen. Darüber habe ich auch ein Buch mit dem Titel Letztes Tabu geschrieben. Es ist ein Versuch, zu beschreiben, dass auch beim Abschiednehmen positive Erfahrungen gesammelt werden können: Sterbebegleitung mit Freunden im gleichen Haus, Tür an Tür. Das ist für beide Seiten großartig. Und die Hausgemeinschaft hat das eng zusammengeschweißt.

NG|FH: Wie muss man sich dieses Zusammenleben eigentlich genau vorstellen?

Scherf: Als wir anfingen, waren wir zehn: drei Ehepaare und vier Singles. Nach langen Diskussionen haben wir das alte Haus so aufgeteilt, dass jeder seinen eigenen Bereich hat. Wenn man will, kann man die Tür abschließen und hat seine Ruhe. In der Regel stehen die Türen aber offen.

NG|FH: Gibt es auch Treffen, bei denen man gemeinsam diskutiert?

Scherf: Wir haben seit 32 Jahren einen festen Termin in der Woche, das ist das Frühstück am Sonnabend. Da wird verhandelt, was so ansteht. Alle anderen Sachen wie Geburtstage werden jedes Mal neu angesagt. Wir machen zusammen Urlaub, gehen zusammen ins Konzert oder ins Theater; einige von uns sind auch kirchlich engagiert, gehen zusammen in die Kirche.

Es ist immer spannend, aber es ist nicht so, dass alle um sechs Uhr aus den Betten müssen und um sieben Uhr ist Frühstück. Nein, jeder macht so, wie er will, wir sind ja auch sehr unterschiedlich.

Gegenüber unserem Haus ist ein altes Stift aus dem 13. Jahrhundert. Jeden Montag habe ich z.B. da einen Vorlesetermin. Ich suche dafür immer ganz anspruchsvolle Texte aus.

NG|FH: Welches Publikum kommt denn da?

Scherf: Da kommen Leute, die in der Stiftsanlage wohnen, die sind zwar noch relativ selbstständig, aber auch schon betagt. Und dann kommen einige aus dem Pflegeheim, das in der Stiftsanlage liegt. Beide sind nicht auf Rendite und Gewinn ausgerichtet. Die Menschen leben da zu sehr günstigen Bedingungen. Das kleine Café, in dem ich lese, wird von einer türkischen Frau betrieben, die ich in mein Herz geschlossen habe.

Aber ich lese nicht nur, wir erzählen uns dann auch unsere Geschichten. Da gibt es eine ganze Reihe von Flüchtlingen, die aus dem Osten geflüchtet sind, aus Tilsit, eine ist aus Czernowitz gekommen. Dann ist da noch Elisabeth. Sie kann kaum noch sehen, aber reden kann sie wie ein Weltmeister.

Mit unserem Projekt sind wir nicht nur akzeptiert, wir tragen mit unserer Art dazu bei, dass sich diese Gegend, dieses Quartier im Bahnhofsviertel mit ziemlich schrägen Adressen, mit Drogenberatung, Discomeile und Rockerbanden ein Stück weit zivilisiert, friedlicher wird. Und das wird von allen honoriert. Ich fühle mich zwar nicht wie ein Schutzengel, ich bin ja selber einer, der beschützt werden will. Aber ich glaube, weil mich alle kennen, ist meine Rolle die, dass die Menschen sagen: Solange der hier wohnt und wir uns auf der Straße treffen, kann es nicht so schlimm sein.

NG|FH: Man merkt Ihnen an, wie aus gelebter Solidarität Lebensfreude entstehen kann.

Scherf: Es tut mir gut, dass ich mittendrin bin und dass ich Menschen treffe, die sich freuen, dass ich da bin. Heute Nachmittag muss ich mit meinem Rad in die Vahr fahren, das sind 15 Kilometer hin und 15 Kilometer zurück. Die Vahr war in den 50er Jahren das größte Wohnungsbauprojekt Europas, eine richtige Neustadt. Da werden die Menschen jetzt auch alt und nun lese ich dort vor. Die Arbeiterwohlfahrt hatte hier früher eine schöne Altentagesstätte, die leider dicht gemacht wurde. Daraufhin haben die Alten gesagt: Dann machen wir das selber. Sie haben einen eigenen Verein gegründet, "Aktive Menschen in Bremen", und haben die von der AWO aufgegebene Altentagesstätte übernommen. Die unterstütze ich, weil ich gut finde, dass sie sich nicht einfach zurückgezogen haben. Die Menschen sind aufgeschlossen und ich habe das Gefühl, auch noch etwas bewirken zu können. Es ist kein Millionenpublikum, aber die, die ich erreiche, finden es okay, dass so ein alter Politiker mit ihnen zusammen den Alltag bewältigt.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2019, S. 30 - 36
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. September 2019

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