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INTERNATIONAL/244: Die Eurasische Wirtschaftsunion (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung
Perspektive

Die Eurasische Wirtschaftsunion
Analysen und Perspektiven aus Belarus, Kasachstan und Russland

von
Felix Hett / Susanne Szkola (Hg.)
Dezember 2014



Inhalt

Vorwort
Felix Hett / Susanne Szkola

Zwischen Ökonomie und Geopolitik
Andrej Sagorskij

Erweiterung und Freihandel
Jelena Kusmina

Kasachstan: Wirtschaftsintegration ohne Souveränitätsverzicht
Dossym Satpajew

Belarus: Gedämpfte Integrationseuphorie
Arsenij Siwizkij

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• Am 1. Januar 2015 tritt das Abkommen über die Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU) in Kraft. Damit ist die nächste Etappe eines seit 2007 von Belarus, Kasachstan und Russland verfolgten Integrationsprojektes erreicht, das sich in vielem ein Vorbild an der Europäischen Union nimmt. Die Publikation versammelt vier Perspektiven aus den drei Mitgliedsstaaten der EAWU, die in ihrer Gesamtheit den Blick schärfen für die Entwicklungstendenzen und Widersprüche des eurasischen Integrationsprozesses.

• In der EAWU besteht ein Spannungsverhältnis zwischen Vertiefung und Erweiterung: Nach einer Reihe von fehlgeschlagenen Versuchen, den postsowjetischen Raum unter russischer Führung zu integrieren, stellt die EAWU den mit Abstand ernsthaftesten Ansatz dar. Die ökonomische Komponente droht aktuell aber unter die Räder einer schnellen Erweiterung im Zeichen der Geopolitik zu geraten. Damit würde die EAWU das Schicksal ihrer größtenteils nur auf dem Papier existenten Vorgänger erleiden.

• In den nach Wirtschaftskraft und Einwohnerzahl deutlich kleineren EAWU-Staaten Kasachstan und Belarus dominiert das ökonomische Kalkül. Beide Länder wollen wirtschaftliche Vorteile erlangen, aber keine Souveränität abgeben: Von russischer Seite vorgeschlagene Elemente einer politischen Integration wurden von Minsk und Astana zurückgewiesen.


Vorwort

Felix Hett / Susanne Szkola


Am 1. Januar 2015 tritt das Abkommen über die Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU) in Kraft. Damit ist die nächste Etappe eines seit 2007 von Belarus, Kasachstan und Russland verfolgten Integrationsprojektes erreicht, das sich in vielem ein Vorbild an der Europäischen Union nimmt. Mit der Bildung einer Zollunion 2010, der Einrichtung einer Eurasischen Wirtschaftskommission in Moskau 2012 und dem am 29. Mai 2014 unterzeichneten Abkommen über die EAWU sind die wesentlichen Wegmarken beschrieben.

Im Zuge des Ukraine-Konflikts, der nach Ansicht vieler Beobachter seinen Ausgangspunkt in der Integrationskonkurrenz zwischen Zollunion und EU um die Ukraine hatte, ist das Interesse an der Eurasischen Wirtschaftsunion gewachsen. Dabei dominiert in der EU eine Interpretation, der zufolge die EAWU ein im Wesentlichen von Russland und seinem Präsidenten Wladimir Putin persönlich dominiertes, geopolitisches Projekt fern jeder ökonomischen Rationalität ist.

In der vorliegenden Publikation sind vier Perspektiven aus den drei Mitgliedsstaaten der EAWU versammelt, die in ihrer Gesamtheit den Blick schärfen für die Entwicklungstendenzen des eurasischen Integrationsprozesses - und seine zahlreichen Widersprüche.

Andrej Sagorskij (Moskau) thematisiert in seinem Beitrag das Spannungsverhältnis zwischen Vertiefung und Erweiterung der EAWU: Nach einer Reihe von fehlgeschlagenen Versuchen, den postsowjetischen Raum unter russischer Führung zu integrieren, stellt die EAWU den mit Abstand ernsthaftesten und aussichtsreichsten Ansatz dar. Die ökonomische Komponente droht aktuell aber unter die Räder einer schnellen Erweiterung im Zeichen der Geopolitik zu geraten. Damit würde die EAWU das Schicksal ihrer größtenteils nur auf dem Papier existenten Vorgänger erleiden.

Deutlich positiver sieht Jelena Kusmina (Moskau) die Erweiterung der EAWU um Kirgisistan, Armenien und Tadschikistan, insbesondere aus dem Blickwinkel ihrer potenziellen ökonomischen Vorteile. Darüber hinaus diskutiert Kusmina die Möglichkeit von Freihandelsabkommen der EAWU mit Vietnam und der Türkei.

Zwei weitere Beiträge befassen sich mit der Sichtweise der nach Wirtschaftskraft und Einwohnerzahl deutlich kleineren EAWU-Mitgliedsstaaten Kasachstan und Belarus. Beiden Ländern gemein ist die strikte Beschränkung des Integrationsprojektes auf den Bereich der Wirtschaft: Von russischer Seite vorgeschlagene Elemente einer politischen Integration wurden von Minsk und Astana zurückgewiesen. Das ökonomische Kalkül dominiert.

Dossym Satpajew (Almaty) analysiert zudem das wachsende Unbehagen in der kasachischen Gesellschaft am Integrationsprojekt und den russischen Intentionen. Offen bleibt, inwiefern der eurasische Integrationskurs des Landes unter einem möglichen neuen Präsidenten beibehalten würde.

Arsenji Siwizkijs (Minsk) Perspektive auf die EAWU geht von deutlichen Interessenunterschieden bei der Ausgestaltung des EAWU-Vertrags und seiner Implementierung aus und stellt für Belarus eine ebenso skeptische Haltung wie für Kasachstan fest. Darüber hinaus beschreibt er eingängig die Haltung unterschiedlicher Akteursgruppen innerhalb des Landes zur EAWU und wie es - auch durch die Ukraine-Krise - außenpolitisch möglich wurde, nationale Interessen gegenüber Russland durchzusetzen.

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Zwischen Ökonomie und Geopolitik

Andrej Sagorskij


Die Formierung der aus Russland, Belarus und Kasachstan bestehenden Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) gehört zu den absoluten Prioritäten der russischen Politik. Die dabei innerhalb kurzer Zeit erzielten Fortschritte (die Vollendung der Zollunion 2011, die Errichtung der Eurasischen Kommission des Einheitlichen Wirtschaftsraumes 2012, die Unterzeichnung des Vertrags über die Eurasische Wirtschaftsunion im Mai 2014 sowie die Vorbereitung der Beschlüsse über die Erweiterung der Union auf andere Staaten) werden häufig als Beispiele der Effizienz und Attraktivität der postsowjetischen Integration angeführt.

In Russland wird die Errichtung der EAWU vor allen Dingen als ein geopolitisches Projekt betrachtet. Die EAWU ist dazu berufen,

• eine begehrte Alternative zur Assoziation mit der Europäischen Union zu bilden,

• zu einem zweiten (euroasiatischen neben dem euroatlantischen) Tragpfeiler der gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur zu werden und

• die Rolle Russlands als unbestrittene regionale Ordnungsmacht vor Augen zu führen.

Die Attraktivität der EAWU für ihre weiteren Mitgliedsstaaten wird vor dem Hintergrund des möglichen Profits der neuen Staaten analysiert. Neben der Abstimmung besonderer Vereinbarungen versprachen sich die Initiatoren der EAWU-Formierung einen gewaltigen Wirtschaftseffekt, der innerhalb von nur fünf Jahren eintreten sollte. Als Beweis für den »über jeden Zweifel erhabenen Nutzen« der Integration mit Russland gilt das in den Worten des Putin-Beraters Sergei Glasjew »explosive Wachstum« des gegenseitigen Handels der EAWU-Teilnehmerstaaten im Jahr 2011.

Die noch kurze Geschichte der EAWU ermöglicht noch kein vollständiges Urteil über die Erfüllung der vor wenigen Jahren gemachten Versprechen. Angesichts der schillernden Voraussagen sind jedoch die tatsächlichen wirtschaftlichen Auswirkungen bis heute äußerst bescheiden. Die Eurasische Wirtschaftsunion hat ein recht schwaches Wirtschaftsfundament, und eine beschleunigte Erweiterung der EAWU könnte selbst die bisher erzielten dürftigen Errungenschaften negieren.


Was unterscheidet die EAWU von ihren Vorgängerorganisationen?

Bei der Eurasischen Wirtschaftsunion handelt es sich nicht um das erste Integrationsprojekt im postsowjetischen Raum:

• 1993 wurde ein Vertrag über die Bildung einer Wirtschaftsunion von zwölf Teilnehmerstaaten der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) unterzeichnet.

• 1995 unterzeichneten Belarus, Kasachstan und Russland ein Abkommen über die Formierung einer Zollunion, dem sich 1996 Kirgisistan und 1999 Tadschikistan anschlossen. 2000 wurde dieses Projekt in eine Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft (EAWG) transformiert.

Beide Projekte sollten verwirklichen, was heute im Rahmen der EAWU angestrebt wird: Einsetzung einer Freihandelszone, Errichtung einer Zoll- und Zahlungsunion, eines einheitlichen Wirtschaftsraumes und in Zukunft sogar einer Währungsunion. All diese Ziele wurden jedoch nicht erreicht.

Zu den tiefgreifenden strukturellen Defiziten, die die Integration der postsowjetischen Staaten erschweren, kam eine Besonderheit beider Vertragswerke hinzu, die darin bestand, dass nicht wirklich eine Wirtschafts- beziehungsweise Zollunion angestrebt wurde. Bei diesen Verträgen handelte es sich nur um »road maps«, die lediglich die Integrationsziele und -phasen markierten. Zu deren Umsetzung sollte noch die entsprechende normative Grundlage geschaffen werden. Dieses recht komplexe Regelwerk sollte Dutzende Abkommen einschließen, die entwickelt, unterzeichnet und ratifiziert werden sollten. Aber wegen der Interessen- und Positionsunterschiede ihrer Teilnehmerstaaten waren weder die GUS-Wirtschaftsunion noch die EAWG dieser Aufgabe gewachsen.

In dieser Hinsicht unterscheidet sich die EAWU von ihren Vorgängerorganisationen. Ihr auf drei Staaten beschränkter Teilnehmerkreis ermöglicht es, innerhalb kurzer Zeit ein umfassendes Regelwerk in Form von über hundert Verträgen und Abkommen zu entwickeln, die das Funktionieren der Zollunion und des Einheitlichen Wirtschaftsraumes gewährleisten sollen. Trotz aller Lücken in dem erstellten Basisregelwerk, aller Ausnahmen vom abgestimmten Verfahrensrahmen, aller zeitlich begrenzten Sonderbedingungen, trotz aller Versprechen, auf besonders akute Fragen in Zukunft wieder zu sprechen zu kommen, handelt es sich bei der EAWU um das erste Integrationsprojekt im postsowjetischen Raum, das inzwischen ein Acquis hat.

Dieser positive Unterschied erweist sich jedoch als ein ernsthafter Nachteil, sobald es um eine Erweiterung der EAWU auf andere Teilnehmerstaaten geht. Es war einfach und leicht, sich den früheren »road maps« der postsowjetischen Integrationspläne anzuschließen, weil diese niemanden zu etwas Konkretem verpflichteten. Die Ausstattung der EAWU mit einem umfangreichen Regelwerk verändert die Situation, indem sie die Latte für alle anschlussfreudigen Staaten bedeutend höher setzt. Sie müssen sich nicht bloß zu den im Gründungsvertrag festgelegten Zielen bekennen, sondern auch alle bereits gültigen Verpflichtungen in vollem Umfang übernehmen. Dabei handelt es sich aber um mehrere Dutzend Verträge und Abkommen einschließlich der für alle Mitgliedsstaaten der EAWU verbindlichen Bestimmungen des einheitlichen Zolltarifs.

Heute stellt dieser Umstand die Politik vor ein ernsthaftes Dilemma. Falls die Kandidaten für den Beitritt zur Union nicht willens oder nicht in der Lage sein sollten, die entsprechenden Verpflichtungen in vollem Umfang zu übernehmen, wäre man gut beraten, ihnen im Interesse der Integritätswahrung der EAWU den unmittelbaren Beitritt zu verweigern. Andernfalls wäre man gezwungen, sie unter Sonderbedingungen aufzunehmen, also sich mit der Tatsache abzufinden, dass die neuen Teilnehmerstaaten nicht alle, sondern lediglich die für sie akzeptierbaren Regeln des Zusammenschlusses übernehmen.

Eine solche Lösung hätte jedoch einen ausgesprochen politischen Charakter. Sie würde lediglich dem geopolitischen Ziel dienen, die Attraktivität der postsowjetischen Integration zu demonstrieren, die Konsolidierung der Nachbarstaaten mit Russland als Magnet voranzubringen und somit diesen Ländern eine alternative wirtschaftliche Assoziation mit der Europäischen Union (beziehungsweise mit China, insoweit es sich um die Staaten Zentralasiens handelt) zu verweigern. Gleichzeitig würde eine solche Lösung die Integrität des bereits existierenden »einheitlichen Wirtschaftsraumes« zersetzen und dessen ohnehin beschränkten Wirtschaftseffekt weiter abschwächen.


Der ökonomische Effekt

Der Anteil des gegenseitigen Handels zwischen den Teilnehmerstaaten der EAWU ist nicht allzu bedeutend. Der Löwenanteil des Wirtschaftsaustausches der EAWU-Mitglieder entfällt auf Drittstaaten.

In den Jahren 2010 bis 2013 entfielen lediglich zwölf Prozent des gesamten Außenhandelsumsatzes der EAWU-Staaten auf den Handel innerhalb der Union. Die Ausnahme ist Belarus, für das Russland auch vor der Gründung der EAWU der wichtigste Wirtschaftspartner war. Fast die Hälfte seines Handelsvolumens entfällt auf den EAWU-Binnenhandel. Was jedoch Russlands Außenhandel betrifft, liegt der Anteil der EAWU-Staaten zwischen sieben und 7,5 Prozent (Statistiken der Eurasischen Wirtschaftskommission für die Jahre 2010 bis 2014).

Innerhalb ihrer kurzen Existenzzeit hat das Abschaffen der Handelsschranken zwischen den EAWU-Teilnehmerstaaten nicht das erwartete Wirtschaftswunder bewirkt. Der Effekt einer »explosiven Entwicklung« des gegenseitigen Handels im EAWU-Rahmen hat sich als äußerst kurzlebig erwiesen. Er hat zwar in der Tat zwischen März und Oktober 2011, also in der Schlussphase der Vollendung der Zollunion, kräftig zugenommen, aber auf eine weitere kurze Wachstumsphase Anfang 2012 folgte dann eine relative Stagnation, die seit 2013 durch eine bis heute anhaltende Periode eines kontinuierlichen Abschwungs abgelöst wurde.

Monatliche Entwicklungsdynamik des gegenseitigen Handels zwischen EAWU-Mitgliedsstaaten 2010-2014.Quelle: Statistische Daten der Eurasischen Wirtschaftskommission 2010-2014

Innerhalb der letzten vier Jahre hat es allein Belarus geschafft, seinen Handel mit EAWU-Mitgliedsländern (in der Tat ausschließlich mit Russland) auszubauen. Im Falle Russlands lag der Warenumsatz mit den EAWU-Partnern im Jahr 2013 etwas unterhalb des Standes von 2011, während im Falle Kasachstans der Warenaustausch mit den EAWU-Teilnehmerstaaten (sprich mit Russland, weil auf Belarus nicht mehr als ein Prozent des Handelsvolumens von Kasachstan entfällt) im Jahr 2013 unter den Werten von 2010 lag. Innerhalb der ersten vier Monate im Jahr 2014 war der Handel Kasachstans mit den übrigen EAWU-Teilnehmerstaaten im Vergleich zur entsprechenden Vorjahresperiode um etwa ein weiteres Viertel geschrumpft.

Gegenseitiger Handel der Mitgliedsstaaten der EAWU 2010-2013. Quelle: Statistische Daten der Euroasiatischen Wirtschaftskommission (EWK 2010-2014)



Beitritt von Armenien und Kirgisistan

Im Mittelpunkt der Diskussion um den Beitritt neuer Mitgliedsländer zur EAWU (diese Diskussion wird, mit wechselhaftem Erfolg, seit Ende des Jahres 2011 mit Kirgisistan und seit Ende 2013 mit Armenien geführt) steht erwartungsgemäß die Frage der Beitrittsbedingungen.

Der Beitritt Kirgisistans zur EAWU könnte sich nach Schätzungen in erster Linie auf die Leicht- und Textilindustrie dieser Republik negativ auswirken, indem er den Verlust von tausenden Arbeitsplätzen zur Folge haben würde. Aus diesem Grund wurde die Frage nach der Gründung eines Sonderfonds zur Finanzierung der Entwicklung neuer arbeitskräfteintensiver Produktionsstätten in Kirgisistan zu einer der zentralen Fragen der Beitrittsverhandlungen. Im Endergebnis hat Russland Kirgisistan nach der Befürwortung der »road map« für seinen Beitritt zur EAWU im Mai 2014 1,2 Milliarden US-Dollar für die Gründung eines Sonderentwicklungsfonds und zur Hilfe bei der Umsetzung der »road map» als Anleihe zur Verfügung gestellt.

Auch in Armenien wurde die Frage des Beitritts zur EAWU mit Sonderbedingungen verknüpft, und zwar mit der Möglichkeit von Preisermäßigungen für die Lieferung russischen Erdgases und von Rohdiamanten, sowie mit der Erwartung, mit russischen Investitionen das armenische Eisenbahnnetz zu modernisieren.

Zum Hauptproblem auf dem Weg beider Staaten in die EAWU wurde jedoch die Frage von Ausnahmen von den einheitlichen Tarifen der Zollunion, die beide Länder in die Lage versetzen würden, niedrigere Einfuhrtarife anzuwenden. Begründet ist dies in der Tatsache, dass Kirgisistan wie Armenien schon vorher der Welthandelsorganisation zu Bedingungen beigetreten sind, die sich von den Tarifen der Zollunion unterschieden.

Nach recht kontroversen Diskussionen bezüglich dieser Frage haben die EAWU-Staaten, allem Anschein nach, in dieser Frage eine den Beitrittskandidaten entgegenkommende politische Entscheidung getroffen. Artikel 42.6 des im Mai 2014 unterzeichneten Vertrags über die Gründung der Eurasischen Wirtschaftsunion erlaubt es beigetretenen Staaten, nach dem Beitritt weiterhin niedrigere Einfuhrzollsätze anzuwenden als die, die durch den einheitlichen Zolltarif festgelegt sind. Allerdings untersagt der Vertrag den Re-Export von zu niedrigeren Zollsätzen eingeführten Waren in andere EAWU-Teilnehmerstaaten ohne Preisdifferenzausgleich. Es ist heute schwer zu sagen, ob und wie dieses System funktionieren wird. Es wäre jedoch durchaus möglich, dass seine Anwendung die Wiederherstellung beziehungsweise Aufrechterhaltung der wenn auch informellen Zollkontrolle an den Grenzen zwischen den Teilnehmerstaaten der EAWU zur Folge haben könnte.


Schlussbetrachtungen

Die wirtschaftliche Vorteilhaftigkeit der Eurasischen Wirtschaftsunion für ihre Mitgliedsstaaten ist noch keinesfalls erwiesen und bedarf seriöserer Belege. Gleichzeitig veranlasst die aktuelle Diskussion über eine Erweiterung des EAWU-Teilnehmerkreises, die ganz offensichtlich vor dem Hintergrund des Wettbewerbs mit der EU-Politik der Östlichen Partnerschaft geführt wird, vor allen Dingen Russland immer mehr dazu, statt wirtschaftlich begründeter Entscheidungen, die es ermöglichen würden, die Integrität des im Rahmen der EAWU entwickelten Regelwerks zu wahren, politisch motivierte Entscheidungen zu treffen. Dies konfrontiert die EAWU mit der Gefahr, dass ihre in den letzten Jahren erstellte Plattform aufgeweicht wird. Letzteres könnte dazu führen, dass die EAWU das Schicksal ihrer Vorgängerorganisationen erleiden würde, die bei der Umsetzung anvisierter Integrationspläne letztendlich durch ähnliche, wirtschaftliche Rationalität entbehrende politische Entscheidungen gelähmt worden waren.

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Erweiterung und Freihandel

Jelena Kusmina

Der Vertrag über die Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU) sieht Möglichkeiten vor, den Kreis der Teilnehmerstaaten zu erweitern. Derzeit sind zwei Varianten des Zusammenwirkens von Einzelstaaten mit der EAWU möglich: entweder eine vollwertige EAWU-Mitgliedschaft (Kirgisistan, Armenien, Tadschikistan) oder die Bildung einer Freihandelszone (Vietnam, Türkei) mit der EAWU. Für beide Varianten gibt es gegenwärtig Interessenten.


Die EAWU-Beitrittskandidaten und ihre Beitrittsvorbereitungen: Kirgisistan und Armenien

Sowohl Kirgisistan als auch Armenien haben ihre Absicht bekundet, der EAWU beizutreten. Obwohl während des Gipfeltreffens im Mai 2014 in Astana der EAWU-Beitritt Armeniens für den Juli 2014 und der EAWU-Beitritt Kirgisistan für den Januar 2015 angekündigt wurden, sind beide Länder aufgrund ihrer Wirtschaftsprobleme außerstande, sofort der EAWU beizutreten. Für ihren Beitritt bedarf es entweder einer Übergangsperiode oder einer assoziierten Mitgliedschaft. Jedes Land hat seine eigene wirtschaftliche Ausgangssituation, weshalb es unmöglich erscheint, von einem einheitlichen Zeit- und Rechtsrahmen für die Integration beider Länder zu reden.

Kirgisistan ersuchte in den Verhandlungen materielle Hilfe und die Gewährung einer Präferenzperiode für seine Märkte »Dordoj« und »Kara-Suu«. Bezüglich dieser Fragen gehen die Meinungen der Mitgliedsstaaten der Zollunion auseinander. Besonders wichtig ist deren Lösung für Russland, weil gerade dieses Land im Verlängerungsfall der für die Regelung chinesischer Re-Exporte via Kirgisistan festgelegten Fristen am stärksten in Mitleidenschaft gezogen werden würde. Astana und Minsk sind vorerst nicht willens, Moskau entgegenzukommen. Gerade Russland würde als Hauptsponsor des eurasischen Projekts gezwungen sein, sich zu Zugeständnissen und Übernahme zusätzlicher Kosten bereit zu erklären. Inzwischen hat Moskau Bischkek 1,2 Milliarden US-Dollar zwecks Aufbaus einer für den Beitritt zur Zollunion notwendigen Phytosanitär- und Zoll-Infrastruktur bereitgestellt.[1]

Für Jerewan schafft Armeniens Integration in die EAWU neue Möglichkeiten in den Bereichen Wirtschaftsentwicklung und Sozialstandard-Verbesserung. Dazu gehören nicht nur die schnell wirkenden positiven Effekte einer Gaspreisreduzierung (etwa 140 Millionen US-Dollar jährlich) sowie die Zolltariferhöhungen, die Abschaffung der Exportzölle bei unbearbeiteten Diamanten und eventuelle Investitionen in Erdölraffinerien, sondern auch längerfristige Effekte wie die Perspektive Armeniens, sich in einen Verkehrs-, Transport- und Transit-Knotenpunkt zu verwandeln, oder auch der Wiederaufbau von Industrieanlagen mit den sich daraus ergebenden Folgen für die Sozialentwicklung.

Daneben existieren jedoch eine ganze Reihe objektiver Umstände, die Armeniens Beitritt zur Union bremsen. Dabei handelt es sich größtenteils um Fragen politischer Dimension, und zwar um die alles andere als eindeutig zu bezeichnenden Beziehungen zwischen Russland und Georgien sowie um die Frage von Berg-Karabach.


Vorbereitungen in Tadschikistan

Wenn Experten und Politiker über die Unionserweiterung reden, erwähnen sie auch Tadschikistan, das bis heute immer noch nicht entschieden hat, ob es der Eurasischen Wirtschaftsunion beitreten will. Zu dieser Frage werden in Tadschikistan mit Regelmäßigkeit Expertenbesprechungen durchgeführt. Der Beitritt zur EAWU würde für die Republik eine ganze Reihe positiver Folgen nach sich ziehen: Zum einen den Erhalt und die Erweiterung des Exportvolumens, zum anderen die rechtliche Absicherung von Fragen der Arbeitskräftemigration (mit einer Erhöhung der Migranten-Arbeitslöhne um schätzungsweise neun bis 28 Prozent und einem Zuwachs von Geldüberweisungen um schätzungsweise 15 bis 25 Prozent) sowie die Lösung des Kapital- und Know-how-Mangels. Tadschikistans Zolltarife unterscheiden sich nicht allzu sehr von den Tarifen der Zollunion. Ein Beitritt zur EAWU könnte also zügig erfolgen und hätte keine wesentliche Umorientierung seines Handels zur Folge. In der Anfangsperiode würde jedoch, folgt man den Schätzungen der Eurasischen Entwicklungsbank, der positive Wirtschaftseffekt des Beitritts Tadschikistans zur Zollunion aufgrund der hohen Transportkosten in diesen Wirtschaftsraum gering ausfallen. Hinzu kommt, dass es unter den herrschenden Eliten immer noch keine einheitliche Meinung über die Zweckmäßigkeit des Beitritts zur Union gibt. Hier spielen vor allem die Dynamik der nicht allzu gutnachbarlichen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu Usbekistan sowie die Regelung der Grenzstreitigkeiten mit Kirgisistan eine Rolle - Probleme, die in den letzten Jahren nur zugenommen haben.


Differenzierte Aufnahmebedingungen als Problemquelle

Schwierigkeiten bei der Aufnahme neuer Mitglieder entstehen auch dadurch, dass einheitliche Bedingungen und Kriterien für beitrittswillige Länder fehlen. Dies erlaubt den Mitgliedsstaaten, bei den Verhandlungen über eine Erweiterung der EAWU für sich selbst neue Privilegien auszuhandeln. So widersetzte sich zum Beispiel Kasachstan recht lange dem Beitritt von Kirgisistan zur Zollunion. Im Falle einer Zollunion-Grenzerweiterung verlöre Kasachstan nämlich einen Teil seiner Zolleinnahmen vor allem für Waren, die aus China durch das Hoheitsgebiet von Kirgisistan in die EAWU eingeführt würden .Erst nach der Verlagerung zahlreicher Handelsstellen vom kirgisischen Markt »Durdoj« ins kasachische Grenzgebiet-Handelszentrum »Chorgos« hat Astana seinen Widerstand gegen den Beitritt des kirgisischen Nachbarn aufgegeben.

Obwohl der Präsident von Belarus, Alexander Lukaschenko, durch den Beitritt Armeniens und Kirgisistans keine Nachteile für die eigene Volkswirtschaft zu befürchten hat, begründet er die Verlängerung der Beitrittsfristen mit der Notwendigkeit, die Union auf einem hochwertigen Niveau zu errichten. In Wirklichkeit aber versucht er Russlands Wunsch, die beiden EAWU-Anwärter mit einer vollwertigen Mitgliedschaft zu integrieren, für eigene Vorteile in den bilateralen Wirtschaftsbeziehungen mit Moskau auszunutzen. Wie Astana möchte auch Minsk eine Schmälerung seiner Zolleinnahmen nach Möglichkeit vermeiden.


Freihandelsabkommen mit der EAWU

Vietnam

Bei der Erwähnung des Wunsches mehrerer Länder, ein Freihandelszonen-Abkommen mit der Zollunion zu unterzeichnen, sollte unterstrichen werden, dass gegenwärtig nur mit Vietnam offiziell darüber verhandelt wird.

Einer Erklärung des stellvertretenden Wirtschaftsministers von Vietnam, Tran Quoc Khanh, zufolge hätten die Partner alle Fragen des Investitions- und Dienstleistungsaustausches bereits abgestimmt. Das Dokument selbst könnte, nach der Meinung des stellvertretenden Ministers für Wirtschaftsentwicklung der Russischen Föderation, Alexej Lichatschov, bis Ende 2014 unterzeichnet werden.

Man darf nicht vergessen, dass die Verhandlungen mit ASEAN-Genehmigung geführt werden, weil gemäß der ASEAN-Satzung kein Mitgliedsstaat eine Freihandelszone mit einem anderen Staat errichten darf, ohne vorher die Genehmigung seitens der übrigen Teilnehmerstaaten dieses Blocks sowie seitens der Leitungsspitze der Assoziation einzuholen. Der russische Partner geht davon aus, dass die Einrichtung einer Freihandelszone mit Vietnam nicht nur einen wesentlichen Ausbau der beiderseitigen Investitionsvolumen und der bilateralen Handelsbeziehungen (2013 belief sich der Handelsumsatz zwischen beiden Ländern lediglich auf knappe vier Milliarden US-Dollar) zur Folge haben würde, sondern auch eine »Brückenfunktion« im Sinne einer aktiveren Weiterentwicklung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Mitgliedsländern der Zollunion und den übrigen ASEAN-Teilnehmerstaaten haben könnte. Dem vietnamesischen Partner käme ferner eine Modernisierung seines Hafen- und Eisenbahnnetzes sowie die Verlegung einer neuen großangelegten Eisenbahnstrecke zwischen Vietnam und Laos sehr gelegen. Eine keinesfalls zu unterschätzende Rolle spielen im Rahmen dieser Verhandlungen auch Überlegungen geopolitischer Art. Vietnam fühlt sich zwischen China und den USA samt deren Verbündeten (Japan, Südkorea, Taiwan) »eingeklemmt«. In dem Versuch, sich weder der einen noch der anderen Seite anzuschließen, ist Vietnam bestrebt, seine Zusammenarbeit mit Drittmächten auszubauen. Russland und anderen Mitgliedsländern der Eurasischen Wirtschaftsunion käme ihrerseits die Erweiterung der eigenen Warenströme nach Ostasien sehr gelegen.


Türkei

Auch der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat im November 2013 den Wunsch seines Landes verlautbart, der Zollunion beizutreten. Allem Anschein nach soll das Interesse an einem Beitritt der Türkei auf Seiten der Zollunion-Teilnehmerstaaten ebenfalls recht groß sein. Wirtschaftlich im Vordergrund steht hier die Möglichkeit, durch den Beitritt der Türkei einen Teil der russischen und kasachischen Kohlenwasserstoffe durch türkisches Gebiet in die Europäische Union zu transportieren. Indessen fließt der Hauptstrom dieser Kohlenwasserstoffe nach China, wobei er infolge der in den Jahren 2013 bis 2014 abgeschlossenen Verträge mit der Volksrepublik China in Zukunft weiter zunehmen wird. Nur Russland könnte seine Gastransporte nach Europa via Türkei erweitern.

Ferner wird seitens der Türkei in letzter Zeit ein nicht minder großes Interesse am Ausbau der beiderseitigen Kooperation auf dem Gebiet der Atomenergiewirtschaft bekundet. So ist der Bau des ersten türkischen Kernkraftwerkes in der Provinz Mersin bereits vereinbart worden. Hauptauftragnehmer ist Russland, das mit einem Investitionsvolumen in Höhe von 22 Milliarden US-Dollar zugleich auch der Hauptinvestor bei diesem großangelegten Bauvorhaben ist.

Das türkische Interesse erscheint auch aus geopolitischer Sicht durchaus begründet. Es könnte nämlich als türkische Antwort auf die Weigerung der Europäischen Union verstanden werden, die Türkei als gleichberechtigten Partner zu betrachten. Die Positionen Ankaras hinsichtlich vieler Fragen der Welt- und Regionalpolitik stimmen mit den entsprechenden Positionen der heutigen Zollunion-Mitgliedsländer überein. Falls Moskau ein klares Kooperationsprogramm unter Ausnutzung des Potenzials der Eurasischen Wirtschaftsunion anbieten sollte, könnte die Türkei mit dem Prozess der Schaffung einer Freihandelszone und möglicherweise auch einer umfangreicheren beiderseitigen Kooperation beginnen. Die schmerzvollsten neuralgischen Punkte könnten dabei erstens die armenisch-türkischen Beziehungen und zweitens die Konfrontation zwischen den westlichen Ländern und Russland in der ukrainischen Frage bilden.


Fazit

Es wäre wohl noch viel zu früh, weitere Länder (wie zum Beispiel Indien, Israel, Ägypten oder Neuseeland), die ebenfalls ihre Absicht bekundet haben, einen Vertrag über die Schaffung einer Freihandelszone mit der Zollunion zu unterzeichnen, ernsthaft in Betracht zu ziehen. Hier erschweren weniger Wirtschaftsinteressen als politische, oftmals konfrontationsgeprägte Fragen wie zum Beispiel das ukrainische Problem, die Nahostfragen usw., ein Zusammenkommen.

Ungeachtet aller Schwierigkeiten wirtschaftlicher oder politischer Art, die auf dem Weg von Anwärterstaaten zum Eintritt in die Zollunion und/oder in die EAWU auftreten beziehungsweise bei der Verhandlung von Abkommen über gemeinsame Freihandelszonen entstehen, zieht die Erweiterung der eurasischen Integration für die darüber verhandelnden Parteien mehr positive als negative Folgen nach sich. Die positiven Effekte, die sich für die Mitgliedsländer der EAWU und/oder der Zollunion selbst ergeben, liegen klar auf der Hand. Dabei handelt es sich in erster Linie um die Festigung der gegenseitigen Handelsbeziehungen, um die Erweiterung von Absatzmärkten, um die Regelung von Fragen der Transport- und Verkehrsstabilität und um die Legalisierung eines beachtlichen Teils der vorher im Schattenbereich befindlichen Arbeitskräftemigration. Auch die Frage eines im Rahmen des Möglichen herbeizuführenden Ausgleichs in der gesamten Region Eurasien mit der chinesischen Wirtschaftsexpansion könnte zu einer wichtigen Folge des eurasischen Integrationsprozesses gehören.

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Kasachstan: Wirtschaftsintegration ohne Souveränitätsverzicht [2]

Dossym Satpajew

Von den drei Gründungsmitgliedern der EAWU hat sich besonders Kasachstans Präsident Nursultan Nasarbajew als der Vater des Integrationsprojektes positioniert. Nasarbajew hatte bei einer Rede an der Moskauer Universität am 29. März 1994 erstmals die Idee einer »Eurasischen Union« formuliert. Er hat vor diesem Hintergrund ein emotionales Verhältnis zur EAWU und sieht sie als seinen persönlichen Triumph. Allerdings rief dieser Vorschlag damals in den meisten ehemaligen Sowjetrepubliken kein Interesse hervor.

Die Situation änderte sich nach dem Amtsantritt von Wladimir Putin, der den postsowjetischen Raum als eine Sphäre lebenswichtiger geopolitischer und geoökonomischer Interessen Russlands betrachtete. Nasarbajew erklärte im Februar 2007 in seiner jährlichen Ansprache an das Volk von Kasachstan erneut die Notwendigkeit der Schaffung einer Eurasischen Wirtschaftsunion. Bereits im Oktober 2007 unterzeichneten dann Kasachstan, Russland und Belarus ein Abkommen über die Gründung eines einheitlichen Zollgebiets und die Bildung einer Zollunion (ZU). Am 1. Juli 2010 wurde ein einheitlicher Zollkodex auf dem Territorium Kasachstans und Russlands eingeführt und am 6. Juli 2010 auf das gesamte Territorium der Zollunion ausgedehnt. 2011 unterzeichneten die Präsidenten der drei Länder eine Erklärung zur Eurasischen Wirtschaftsintegration, die im Januar 2012 basierend auf 17 internationalen Verträgen, die die Grundlage des Gemeinsamen Wirtschaftsraums (GWR) bildeten, in Kraft trat. Im Rahmen dieser Integrationsprojekte wurde im Februar 2012 als erste supranationale Struktur die Eurasische Wirtschaftskommission, die - formell - nicht den an der ZU und dem GWR teilnehmenden Regierungen untergeordnet ist, eingerichtet.


Institutionelle und funktionale Besonderheiten

Nach Meinung der kasachischen Führung ist die EAWU nach der Schaffung einer Freihandelszone innerhalb der GUS, der Bildung der Zollunion und des Gemeinsamen Wirtschaftsraums die nächste, engere Stufe der wirtschaftlichen Integration.

Im EAWU-Vertrag ist festgelegt, dass alle Entscheidungen auf den höchsten Ebenen der EAWU nur durch Konsens auf der Grundlage der Regel »Ein Land - eine Stimme« getroffen werden können. Das bedeutet, dass wenn auch nur ein Staat durch seine Vertreter in den supranationalen Gremien gegen eine Entscheidung votiert, diese nicht angenommen wird. Dabei geht es um das Funktionieren solcher Verwaltungsorgane der EAWU wie den Obersten Eurasischen Wirtschaftsrat. Ihm gehören die Staatsoberhäupter und der Wirtschaftsrat der drei Regierungen an, an dem wiederum die Premierminister und der Rat der Eurasischen Wirtschaftskommission teilnehmen. Der Rat der Eurasischen Wirtschaftskommission besteht aus den stellvertretenden Ministerpräsidenten. Die Gremien der EAWU werden durch anteilige Beiträge der Mitgliedsstaaten finanziert. Russland zahlt einen Beitrag in Höhe von 87,97 Prozent des Gesamtbudgets, Kasachstan 7,33 Prozent und Belarus 4,7 Prozent. Derzeit beträgt das Gesamtbudget der EAWU 6,6 Milliarden Rubel (139,6 Millionen Euro, Juni 2014).

Ungeachtet der diplomatischen Demonstration von Übereinstimmung in vielen Fragen der Konstituierung der EAWU besteht zwischen den drei Parteien gleichzeitig ein großes Problem, das die Aktivität der Eurasischen Wirtschaftsunion hemmen könnte: Von Beginn ihrer gemeinsamen Aktivitäten an hatten sich Russland, Kasachstan und Belarus unterschiedliche Ziele für ihre Beteiligung an diesem Integrationsprojekt gesetzt.


Eine Union, verschiedene Ziele

Eine berühmte Fabel des russischen Schriftstellers Iwan Krylow erzählt die Geschichte von einem Schwan, einem Krebs und einem Hecht, die gemeinsam versuchen ein Fuhrwerk zu schleppen, was ihnen nicht gelingt, weil jeder die Last in eine andere Richtung zieht. Eine ähnliche Situation konnte man zu Beginn der Zollunion und des Gemeinsamen Wirtschaftsraums beobachten. Allem Anschein nach könnte nun auch die EAWU mit einem solchen Problem konfrontiert werden.

Für Russland ist die Schaffung der EAWU nicht so sehr ein ökonomisches, sondern eher ein geopolitisches Projekt, das seine Rolle als Führungsmacht konsolidieren soll. Moskau sorgt sich um die Stärkung seiner Position im postsowjetischen Raum, in dem die Umverteilung der Einflusssphären in eine aktivere Phase tritt. An dieser Umverteilung sind vier Länder beteiligt: Russland, die Türkei, China und die USA. Hierbei will Russland seine Position in zwei regionalen Blöcken stärken: der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) und der EAWU, die nicht so sehr als Gegengewicht zu den USA, sondern vielmehr zur Türkei und China agieren soll. Ankara setzt sich für eine Beschleunigung des Zusammenschlusses der turksprachigen Welt ein und versucht gleichzeitig, seine Rolle als eines der neuen muslimischen Zentren für die Modernisierung des Islams zu festigen. Darüber hinaus erklärte der Generalsekretär des Rates der turksprachigen Länder, Halil Akinci, Ende 2010, dass diese Länder eine Zollunion gründen könnten. Im Hinblick auf China ist die Gründung der EAWU für Russland ein Instrument, um die wirtschaftlichen Aktivitäten Chinas in Zentralasien einzudämmen. Es überrascht nicht, dass Moskau zurzeit aktiven Druck auf Bischkek ausübt und die Beschleunigung des Beitritts Kirgisistans in das eurasische Projekt fordert. Der nächste Kandidat könnte Tadschikistan sein.

Folglich ist für Russland, im Gegensatz zu Kasachstan, die Beteiligung an der Gründung der EAWU weniger ein Versuch, die Sowjetunion wiederherzustellen, sondern vielmehr das Bemühen, einen regionalen Block zu bilden, in dem Moskau in Zukunft die erste Geige spielen wird. Dafür spricht auch die Tatsache, dass Russland seit der Bildung der Zollunion und des Gemeinsamen Wirtschaftsraums sowie in der Vorbereitung des Vertrags zur Gründung der EAWU hartnäckig versucht hatte, zwischen den drei Staaten den Prozess der Bildung einer politischen Allianz zu beschleunigen.

Der Vorsitzende der russischen Staatsduma, Sergei Naryschkin, sprach sich. anfangs für die Schaffung eines Eurasischen Parlaments auf der Grundlage direkter demokratischer Wahlen aus. Aber weder in Astana noch in Minsk fand diese Idee Unterstützung. Dann warf der Präsident Kasachstans am 24. Oktober 2013 bei einem Treffen des Obersten Eurasischen Wirtschaftsrats in Minsk Russland zum ersten Mal vor, dass eine Politisierung der Eurasischen Wirtschaftskommission zu beobachten sei. Diese Vorwürfe basieren auf der zahlenmäßigen Dominanz der russischen Mitglieder in der Kommission und darauf, dass diese regelmäßig an den Sitzungen der russischen Regierung teilnehmen, obwohl sie diesem Organ der Exekutivgewalt nicht untergeordnet sein sollen.

Interessant ist, dass kurz vor der Unterzeichnung des Vertrags über die Gründung der Eurasischen Union in Astana einige kasachische Beamte noch einmal bestätigten, dass in den ersten Versionen des Vertrags zur Gründung der EAWU Vorschläge politischen Charakters enthalten waren, die auf Drängen der kasachischen Seite entfernt wurden.


Ziele Kasachstans

Die Führung Kasachstans betonte von Anfang an, dass die zukünftige Eurasische Union nur eine wirtschaftliche Orientierung ohne Beeinträchtigung der politischen Souveränität haben würde. Präsident Nursultan Nasarbajew unterstrich dies ganz besonders in seinem Artikel »Die Eurasische Union: Von der Idee zu der Geschichte der Zukunft«, der 2011 in der russischen Zeitung Iswestija erschien, nachdem ein ähnlicher Artikel des russischen Präsidenten Wladimir Putin veröffentlicht worden war. In diesem Artikel betonte der kasachische Präsident die Integrationsabsicht auf Basis von wirtschaftlichem Pragmatismus sowie deren Freiwilligkeit wie auch eine Vereinigung auf Basis von Gleichberechtigung, Nichteinmischung und der Achtung der staatlichen Souveränität wie Staatsgrenzen. Darüber hinaus solle keine Übertragung von politischer Souveränität stattfinden. Dies wurde von ihm während der Unterzeichnung des Vertrags über die Eurasische Wirtschaftsunion am 29. Mai 2014 in Astana erneut bekräftigt. Auf Initiative Kasachstans wurde unter den Funktionsprinzipien der EAWU auch ein Punkt über die Achtung der Besonderheiten der politischen Systeme der Mitgliedsstaaten aufgeführt, so dass eine engere Integration nicht die Notwendigkeit der Änderung der politischen Systeme nach sich zieht. Die Führung Kasachstans ist der Auffassung, dass die Bildung der EAWU dem Land helfen soll, unter den Bedingungen eines verschärften globalen Wettbewerbs seine Position zwischen den regionalen Blöcken und multinationalen Unternehmen zu stärken. Deshalb gilt die Bildung der Eurasischen Wirtschaftsunion offiziell als eine Möglichkeit, um die folgenden wirtschaftlichen Ziele zu erreichen:

• Öffnung eines Zugangs der kasachischen Wirtschaft zu den Märkten der EAWU mit einer Bevölkerung von 170 Millionen Menschen.

• Aktivierung des grenzüberschreitenden Handels mit Russland. (In den zwölf an Kasachstan angrenzenden Gebieten Russlands leben etwa 27 Millionen Menschen.)

• Für kasachische Unternehmen eröffnen sich Märkte für Staatsaufträge in Russland und Belarus, die auf jährlich 198 Milliarden US-Dollar geschätzt werden.

• Schaffung von nicht nur regionalen, sondern globalen Transport- und Logistikrouten, die die Handelsströme Europas und Asiens über Kasachstan miteinander verbinden, sowie geringere Transportkosten, da kasachischen Spediteuren gleichberechtigter Zugang zu der Eisenbahninfrastruktur in Russland und Belarus eingeräumt wird.

• Schaffung eines einheitlichen Raums für den freien Verkehr von Kapital, Dienstleistungen und Arbeit. Vereinfachung der Verfahren für die Aufnahme einer Beschäftigung in den Ländern der EAWU.

• Einrichtung eines einheitlichen Finanzmarktes bis 2025.

• Sicherstellung des Zugangs zu der Energieinfrastruktur sowie den Transportsystemen für Gas, Öl und Ölprodukte bis 2025 auf der Basis eines einheitlichen Öl- und Gasmarktes.


Politische Risiken für Kasachstan

Kasachstans Innen- und Außenpolitik sind extrem personalisiert. Für Präsident Nursultan Nasarbajew ist die EAWU Teil der Verwirklichung seiner politischen Ambitionen. Aber wird sein Nachfolger diese Ambitionen teilen? Und vor allem: Wie wird sich Russland gegenüber dem kasachischen Politiker, der Nursultan Nasarbajew ablösen wird, verhalten? Wird dies eine Beziehung unter Gleichen sein, oder wird Moskau versuchen, auf die Führung Kasachstans Einfluss zu nehmen, wie es dies manchmal gegenüber Aleksandr Lukaschenko getan hat?

Es kann sich in Kasachstan immer die Situation ergeben, dass mittelfristig politische Kräfte an die Macht kommen, die plötzlich die Spielregeln ändern wollen. Zum Beispiel kann der Austritt aus der EAWU erklärt oder die Mitgliedschaft in der OVKS beendet werden, wie im Falle Usbekistans. Formell kann Kasachstan natürlich aus der Eurasischen Wirtschaftsunion austreten. Artikel 118 des Vertrags über die Gründung der EAWU besagt, dass jeder Mitgliedsstaat das Recht hat, sich aus dieser regionalen Organisation zurückzuziehen. Die Ereignisse in der Ukraine - die nebenbei bemerkt auch in die Zollunion eingeladen war - haben die ganz reelle Gefahr des Drucks auf Staaten gezeigt, die Russland als Zonen seiner wichtigen geopolitischen Interessen ansieht. Zu diesen zählt auch Kasachstan als ein an Russland angrenzender Staat mit einem hohen Prozentsatz russischsprachiger Bevölkerung. Darüber hinaus könnten sich Probleme durch die Anwesenheit Russlands im Raumfahrtzentrum Baikonur oder den gepachteten militärischen Versuchsgeländen in Kasachstan ergeben.

Nach offiziellen Angaben ist die Zahl der Einwohner Kasachstans in den letzten Jahren auf mehr als 17 Millionen angewachsen. Den größten Anteil an der Bevölkerung stellen die Kasachen mit mehr als 64 Prozent. Der Anstieg der Zahl der Kasachen in den letzten zehn Jahren ist auf natürliches Wachstum sowie die Migrationsströme der Oralmanen (ethnische Kasachen, die im Ausland leben) auf das Territorium der Republik zurückzuführen. Wenn die Anzahl der Kasachen, einschließlich der kasachischsprachigen Jugend, zunimmt, reduziert sich im Gegenzug die Anzahl der Angehörigen der ethnischen Minderheiten. Wenn sich dieser Trend eines wachsenden Anteils kasachischer Bevölkerung fortsetzt, dann wird sich die Haltung der Mehrheit der Bürger Kasachstans gegenüber den Integrationsprojekten mit Russland in der Zukunft möglicherweise verschlechtern.

All dies schafft eine soziale politische Basis für nationalpatriotische Gefühle, von denen einige bereits jetzt eindeutig antirussischen Charakter haben. Kasachstan ist das einzige Land im Rahmen der EAWU, in dem eine recht hitzige Diskussion zwischen Befürwortern und Gegnern der Integration mit Russland stattfindet. Optimisten, darunter viele Angehörige ethnischer Minderheiten, vor allem Russen, die in Kasachstan leben, sind der Ansicht, dass es notwendig ist, an den Integrationsprozessen mit Russland teilzuhaben, um nicht nur im harten Wettbewerbskampf mit anderen Ländern, sondern auch mit transnationalen Firmen zu überleben. Auch gemäßigte Experten glauben, dass Kasachstan angesichts des harten globalen Wettbewerbs mit Nachbarn im vormals sowjetischen Raum wirtschaftlich zusammenarbeiten muss. Sie sind jedoch gegen jegliche politische Unionen.

Die Skeptiker teilen sich ihrerseits in zwei Gruppen: die Politiker und die Ökonomen. Erstere sprechen sich mit den folgenden Argumenten gegen die Schaffung einer Eurasischen Union aus: Die Eurasische Integration sei ein russisches imperiales Projekt und ein Versuch, die Sowjetunion wiederaufleben zu lassen, mit dem Ergebnis, dass Kasachstan seine Unabhängigkeit verlieren wird. Es gibt auch Bedenken, dass die Beteiligung Kasachstans an der EAWU ein Schlag gegen die multivektorale Außenpolitik sein könnte. Die Ereignisse in der Ukraine waren ein alarmierender Indikator, der gezeigt hat, dass der diplomatische Handlungsspielraum Kasachstans wirklich schrumpfen könnte. Viele hatten von Astana größere Flexibilität in der Krim-Frage erwartet: Nachdem es 2008 nicht die Unabhängigkeit Südossetiens und Abchasiens anerkannt hatte, hatte sich Kasachstan in der Abstimmung zur Resolution der UN-Vollversammlung über die Ungültigkeit des Referendums auf der Krim enthalten. Astana akzeptierte das Referendum auf der Krim als »freie Willensäußerung der Bevölkerung« und drückte »Verständnis für die Entscheidung Russlands« aus. Es ist durchaus möglich, dass der entscheidende Unterschied zwischen 2008 und 2014 darin besteht, dass Kasachstan vor sechs Jahren noch nicht der Zollunion angehörte. Deshalb wird im Land darüber diskutiert, wie sich die traditionelle Multivektorenpolitik, die lange Zeit ein bestimmtes Gleichgewicht zwischen den geopolitischen Kräften herstellte, mit den Integrationsprozessen der EAWU vereinbaren lässt.

Die Ökonomen unter den Skeptikern sind der Auffassung, dass das optimale Modell für Kasachstans Außenpolitik nicht die wirtschaftliche Integration mit einzelnen Staaten ist, sondern die Kooperation mit verschiedenen Staaten in unterschiedlichen Richtungen im Rahmen einer »distanzierten Partnerschaft«. Für die Bereiche Wasser und Energie beispielsweise mit Zentralasien und China, für Transport und Logistik mit Russland und China, oder für Innovationen auch mit der EU und den USA.

Innerhalb der Zollunion konnte Kasachstan im Gegensatz zu Russland und Belarus seine Exporte nicht steigern. Es zeigt sich, dass Kasachstan, das schon Rohstoffanhängsel der Weltwirtschaft ist, auch zu einem Rohstoffanhängsel der Zollunion geworden ist. Darüber hinaus ist bisher unklar, wie die Schaffung der EAWU mit Kasachstans forciertem industriell-innovativem Entwicklungsprogramm zusammenpasst, bei dem der Schwerpunkt nicht so sehr auf der Wiederherstellung alter Wirtschaftsbeziehungen mit Russland und Belarus liegt, die durch den Zusammenbruch der Sowjetunion zerstört wurden, sondern auf der Entwicklung neuer und innovativer Richtungen, die ausländische Investoren anlocken könnten. Auch wenn man die ersten Schritte aufeinander zugeht, sollte bedacht werden, dass die wirtschaftliche Integration nicht automatisch zu BIP-Wachstum führt oder den Lebensstandard der Bevölkerung erhöht, da vieles weitgehend von der Effektivität der Wirtschaftspolitik innerhalb jedes einzelnen Landes der Region abhängig ist. Zur gleichen Zeit entsteht durch die wirtschaftlichen Disproportionen in der Entwicklung der verschiedenen Länder automatisch die Gefahr, dass ein stärkerer Spieler zum Geldgeber für die schwächeren Mitgliedsstaaten wird.

*

Belarus: Gedämpfte Integrationseuphorie

Arsenij Siwizkij

Einleitung

Die Endfassung des Abkommens über die Eurasische Wirtschaftsunion vom 29. Mai 2014 unterscheidet sich wesentlich von seinen ursprünglichen Entwürfen: Im Zuge der Verhandlungen haben die Parteien alle Streitfragen ausgeklammert. So wird im Abkommen lediglich das Bestreben der Parteien festgehalten, den freien Waren-, Leistungs-, Kapital- und Arbeitskräfteverkehr sicherzustellen sowie eine koordinierte, abgestimmte und einheitliche Politik in bestimmten Wirtschaftssektoren zu verfolgen. Alle Versuche Russlands, der eurasischen wirtschaftlichen Integration eine politische Dimension zu verleihen, wurden von Belarus und Kasachstan blockiert. So wurden aus dem Abkommen alle Bereiche ausgeklammert, die nicht mit einer wirtschaftlichen Integration zusammenhingen - wie etwa der Grenzschutz, eine gemeinsame Staatsangehörigkeit oder die Koordinierung der Außen- und Sicherheitspolitik.

Darüber hinaus trug auch die Ukraine-Krise zu Korrekturen bei: Russland war gezwungen, auf die Forderungen seiner Vertragspartner einzugehen. Dabei konnte Belarus seine nationalen Interessen erfolgreich durchsetzen und von Russland sogar eine Reihe von Wirtschaftspräferenzen wie zum Beispiel eine sukzessive Abschaffung von Erdöl-Exportzöllen erlangen. Die Bereitschaft und die Möglichkeiten der Parteien, ihren Verpflichtungen aus dem EAWU-Abkommen und den weiteren bilateralen Abkommen über die eurasische Integration in vollem Umfang nachzukommen, bleiben jedoch fraglich.


Gemeinsame Interessen, divergierende Strategien

Die in der Präambel des EAWU-Abkommens erklärten Bestrebungen entsprechen im Großen und Ganzen gemeinsamen Interessen. Die wichtigsten Ziele der EAWU sind:

• Eine stabile Entwicklung der Volkswirtschaften der Mitgliedsstaaten und die Erhöhung des Lebensstandards.

• Die Bildung eines einheitlichen Marktes für Waren, Leistungen, Kapital und Arbeitskräfte.

• Eine umfassende Modernisierung und Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaften in einer globalisierten Weltwirtschaft.

Trotz dieser logischen und nachvollziehbaren gemeinsamen Interessen unterscheidet sich jedoch die jeweilige Motivation einzelner Akteure am eurasischen Projekt. Es liegt klar auf der Hand, dass die EAWU für Russland ein geopolitisches Projekt ist. Russland tritt als Hauptinitiator und Motor der eurasischen Integrationsprozesse auf und hat den größten Wirtschaftsanteil unter den Integrationsteilnehmern. Für Kasachstan und besonders für Belarus ist die russische Wirtschaft als Absatzmarkt von großer Bedeutung ist, hingegen spielt der Markt dieser beiden Länder für Russland keine große Rolle. Der Kreml ist aber bereit, gemeinsame Projekte zu finanzieren und wesentliche Kredithilfe zu leisten sowie den Ländern, die der EAWU beitreten wollen, ermäßigte Energiepreise zu gewähren. Die geplante Integration Armeniens, Kirgisistans und Tadschikistans in die EAWU kann zusätzliche soziale und wirtschaftliche Probleme (verstärkter Zufluss billiger Arbeitskräfte) und eine Reihe von Risiken im Sicherheitsbereich (Drogenschmuggel, illegale Migration, terroristische Gefahren) innerhalb von Russland verursachen. Ungeachtet dessen tätigt Russland beträchtliche Ausgaben, was davon zeugt, dass die geopolitische Motivation die wirtschaftlichen Argumente überwiegt.

Die Teilnahme Belarus' an den eurasischen Integrationsprozessen hängt in erster Linie mit der breiten Wirtschaftskooperation zusammen und wird durch gegenseitige Abhängigkeit von Russland und Belarus bedingt. Russland ist nicht nur Lieferant billiger Energie (167 US-Dollar für 1.000 m³ Erdgas, zollfreie Erdöllieferungen für den Inlandsverbrauch), sondern auch der wichtigste Absatzmarkt, auf dem ca. 90 Prozent der belarussischen Nahrungsmittel und 70 Prozent aller Industrieprodukte verkauft werden. Mit der Unterzeichnung der Zollunion mit Russland im Jahre 2010 erhielt Belarus nicht nur einen ermäßigten Gaspreis, sondern auch einen Kredit in Höhe von zehn Milliarden US-Dollar für den Bau des belarussischen Atomkraftwerks. Im Weiteren wurde dieses Paket um Vorschläge zur Vertiefung der Industriekooperation zwischen belarussischen und russischen Unternehmen ergänzt, die durch einen russischen Kredit in Höhe von zwei Milliarden US-Dollar für ihre Umsetzung untermauert wurden.

Kurz vor der Unterzeichnung des EAWU-Abkommens setzte Belarus zudem die Abschaffung der Erdöl-Exportzölle zwischen Russland und Belarus durch. (Ab 2017 werden stattdessen Exportzölle in Höhe von ca. 3,5 Milliarden US-Dollar im Staatshaushalt Belarus' verbucht). So bestehen die wesentlichen Ziele Belarus' im Zugang zum erweiterten Gesamtmarkt und im Erhalt der von Russland gewährten Energiepräferenzen. Diese Ziele hat Belarus im Prozess der EAWU-Gründung erfolgreich erreicht. Die wichtigste Frage ist, ob der Kreml zukünftig seinen Verpflichtungen weiterhin nachkommt, während die russische Wirtschaft durch westliche Sanktionen im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise negativ beeinflusst wird.


Schwan, Krebs und Hecht?[3] Wirtschaftliche und politische Unterschiede der Mitgliedsstaaten

Unterschiedliche soziale und wirtschaftliche Entwicklungen der Mitgliedsstaaten des Einheitlichen Wirtschaftsraums sowie unterschiedliche marktwirtschaftliche Transformationen der Volkswirtschaften stellen ein ernsthaftes Hindernis für die erfolgreiche Umsetzung des EAWU-Projektes dar. Russland und Kasachstan, die international als Marktwirtschaften anerkannt sind, liegen im Vergleich zu Belarus, dessen Wirtschaft durch den Staat dominiert wird, weit vorne. Die Volkswirtschaften von Russland und Kasachstan haben eine ausgeprägte Rohstofforientierung. Belarus hat eine entwickelte verarbeitende Industrie von der Sowjetunion geerbt. Das Unternehmens- und Investitionsklima unterscheidet sich ebenfalls. In der Ratingliste »Doing Business 2014« liegt Belarus unter 189 Ländern auf Platz 63, Kasachstan auf Platz 50 und Russland auf Rang 92. In der eurasischen Troika ist nur Russland seit 2012 Mitglied in der Welthandelsorganisation (WTO) und öffnet damit für Drittländer den Zugang nicht nur zu seinem Binnenmarkt, sondern auch zum Gesamtmarkt des Einheitlichen Wirtschaftsraums. In Zukunft kann dies zur Verdrängung belarussischer Waren vom russischen Markt und teilweise zur Reduzierung des Exportvolumens führen.


Gefahren für die Unabhängigkeit von Belarus?

Gleich nach dem Beschluss der Gründung der Eurasischen Wirtschaftsunion begannen russische Regierungsvertreter und Experten aktiv die These zu verbreiten, dass die Hauptgefahr für die Eurasische Union in der fehlenden stabilen Integrationsgrundlage liegt, von dem politischen Willen der amtierenden drei Staatschefs abgesehen. Daher bestünde ein hohes Risiko: Sobald sie die politische Szene verlassen, begänne das eurasische Projekt möglicherweise auseinanderzufallen. Russland machte daher Vorschläge zur Bildung eines Eurasischen Parlaments und zur Einführung des Amtes eines EAWU-Generalsekretärs. Das sollte offenbar zur Förderung der gemeinsamen eurasischen politischen Identität unter den Eliten der drei Länder, insbesondere von Belarus und Kasachstan, und damit zur Stabilität des Projektes beitragen.

Dieser Argumentationslogik folgt auch die Annahme, jede wirtschaftliche Integration ziehe im Endeffekt immer die politische Integration nach sich - analog zum Beispiel der EU. Belarus und Kasachstan bestehen jedoch konsequent auf der Unzulässigkeit der EAWU-Politisierung und blockieren die Vorschläge Russlands zur Bildung eines Eurasischen Parlaments, da sie darin eine direkte Gefahr für ihre nationale Souveränität sehen.

Alle Mitgliedsstaaten der Zollunion, des Einheitlichen Wirtschaftsraums und der künftigen Eurasischen Wirtschaftsunion sollen einen Teil ihrer wirtschaftlichen Souveränität an die supranationale Ebene abtreten. Hierzu wurde 2012 die Eurasische Wirtschaftskommission (EWK) gebildet. Bei der Abstimmung hat jedes Mitglied des Kollegiums der EWK jeweils eine Stimme; es gibt insgesamt neun Mitglieder, wobei jedes Mitgliedsland drei entsendet. Beschlüsse des Kollegiums werden mit mindestens Zweidrittelmehrheit angenommen. Zu den wichtigen Zuständigkeiten der EWK gehören die Anrechnung und Verteilung von Einfuhrzöllen; die Festlegung von Handelsverfahren mit Drittländern und die Wettbewerbspolitik. Die durch die EWK verabschiedeten Beschlüsse gelten auf dem Territorium der EAWU-Mitgliedsstaaten als verbindliche Rechtsakte. Trotz des - formal gesehen - gleichberechtigten Arbeitsprinzips der EWK werden die Interessen von Belarus und Kasachstan in der EWK durch Russland beeinträchtigt, was auf die Organisations- und Personalstruktur der EWK entlang von an der Bevölkerungsgröße orientierten Quoten zurückzuführen ist. Im EWK-Apparat dominieren heute Vertreter Russlands, die 84 Prozent der Gesamtzahl der Mitarbeiter ausmachen; auf Kasachstan und Belarus entfallen zehn und sechs Prozent. Unter diesen Umständen leidet Belarus unter einem immensen Mangel an finanziellen, organisatorischen, intellektuellen und sonstigen Ressourcen, um sich vollwertig an den Integrationsprozessen zu beteiligen, eigene Interessen durchzusetzen sowie die Aufgaben zu erfüllen, die es wahrzunehmen hat. Die Quotenverteilung im EWK-Apparat ist ungeeignet, nationale Interessen qualitativ und effektiv durchzusetzen, liegt aber in der Natur der Sache, wenn man sich bei der Stellenverteilung auf das proportionale Prinzip stützt.

Bei der Vorbereitung des EAWU-Abkommens konnte Belarus alle wichtigen Positionen durchsetzen, um seine nationale Souveränität zu wahren (keine gemeinsame Währung und kein gemeinsames Parlament). Die russische Organisations- und Personaldominanz in der EWK lässt jedoch befürchten, dass diese Struktur in der Praxis vor allem die Interessen Russlands bedienen wird. Vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise hat Russland die Frage über die politische EAWU-Integration zurückgestellt, um seine Verbündeten nicht abzuschrecken, die auf die Ereignisse in der Region ohnehin empfindlich reagierten. Früher oder später wird aber die Krise in der Ukraine vorbei sein. Dann wird der Kreml die Idee der Notwendigkeit einer politischen Integration im Rahmen der Eurasischen Wirtschaftsunion wieder aufnehmen.


Die Krise in der Ukraine: Folgen für Belarus

Die Positionen in Minsk, Moskau und Astana bezüglich der Anerkennung des Krim-Referendums stimmten von Beginn der Ukraine-Krise an nicht überein. Die Meinungsunterschiede über die Handlungen in Bezug auf die Ukraine blieben bis jetzt bestehen. Die ukrainische Krise wirkte sich auf die Entwicklung der eurasischen Integrationsprozesse auf zweierlei Arten aus.

Einerseits legte sie ein ernsthaftes Vertrauensdefizit zwischen Moskau, Minsk und Astana offen. Dabei sollte man nicht vergessen, dass Belarus und Russland auch Mitglieder eines »Unionsstaates« sind, eine koordinierte Außen- und Sicherheitspolitik betreiben, eine gemeinsame regionale Truppeneinteilung haben und (wie auch Kasachstan) Mitglieder in der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit sind. Die Aufnahme der Krim in die Russische Föderation (und folglich in die Staaten- und Zollunion) wurde jedoch vom Kreml allein beschlossen. Die darauf folgenden Konsultationen im Rahmen der Unionsstrukturen und der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit hatten einen formalen Charakter und konnten nichts bewirken. Diese Tatsache demonstriert mangelndes Vertrauen zwischen den Integrationspartnern (vorherige Konsultationen wurden wegen möglicher Informationslecks auf Seiten der Verbündeten nicht durchgeführt) und weist darauf hin, dass Moskau es nicht für nötig hält, die Position seiner Verbündeten zu beachten. Unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen und militär-politischen wechselseitigen Abhängigkeit von Russland und den sonstigen postsowjetischen Staaten - insbesondere im Kontext der eurasischen Integrationsprozesse -, kann dieses Verhalten für das Integrationsprojekt eher schädlich als förderlich sein. Dass Belarus und Kasachstan mittelfristig dazu bereit sein werden, nach der Krim-Ukraine-Krise einen Teil ihrer politischen Souveränität an einen hypothetischen eurasischen supranationalen Überbau abzutreten, erscheint jetzt als sehr unwahrscheinlich. Denn klar ist: Wenn die EAWU schon heute eine politische Allianz wäre, würden die Sanktionen für alle Integrationspartner gelten.

Andererseits wurde die Position von Belarus und Kasachstan bei den EAWU-Verhandlungen durch die Krim-Ukraine-Krise gestärkt. Unter den komplizierten außenpolitischen Bedingungen, die nach der Krim-Annexion aufgetreten sind, konnte sich Russland nicht leisten, die Unterzeichnung des EAWU-Abkommens scheitern zu lassen und musste sich daher mit vielen Forderungen Belarus' und Kasachstans einverstanden geben. Mit der Beilegung der ukrainischen Krise wird der Kreml jedoch politische Fragestellungen wieder auf die Tagesordnung der eurasischen Integration setzen. Wegen des nicht vollständig loyalen Verhaltens von Minsk gegenüber Moskau im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise könnte die finanzielle Unterstützung des Kremls reduziert werden, zumal sich die wirtschaftliche Lage Russlands wegen des zunehmenden Sanktionsdrucks des Westens ohnehin verschlechtern wird. Nach dem vollständigen EAWU-Beitritt Belarus' und der Ratifizierung des eurasischen Abkommens wird der Austritt aus dieser Integrationsgemeinschaft praktisch unmöglich sein. Gemäß dem EAWU-Abkommen bedarf dieser Schritt der Zustimmung anderer Mitgliedsstaaten nach der Formel »Konsens minus Stimme des Staates, der aus der EAWU austreten will«. Sollte Belarus die im Rahmen der EAWU übernommenen Integrationsverpflichtungen nicht erfüllen wollen, läuft die wirtschaftliche und politische Situation in Belarus Gefahr, infolge des Drucks aus Russland destabilisiert zu werden, ähnlich wie im Falle der Ukraine.

Unter diesen Bedingungen wird Belarus offensichtlich seine Schaukelpolitik zwischen West und Ost fortsetzen, um die politische und wirtschaftliche Abhängigkeit vom Kreml zu mindern. Man wird dies aber bedächtiger als in der Vergangenheit angehen müssen.


Imageprojekt oder langfristige Vorteile?

Trotz der Vorsicht, mit der politische Eliten Belarus' und Kasachstans auf weitere Integration im Rahmen der EAWU eingehen, genießt das eurasische Projekt in diesen Ländern eine hohe gesellschaftliche Unterstützung. Gemäß der Studie »Integrationsbarometer 2013« der Eurasischen Bank für Entwicklung beträgt die gesellschaftliche Unterstützung der Zollunion und des Einheitlichen Wirtschaftsraums in Belarus 65, in Kasachstan 73 und in Russland 67 Prozent. Dies trägt zur Standfestigkeit und Stabilität des eurasischen Projektes auch bei einem Präsidentenwechsel bei. Dazu kommt auch die Unterstützung der eurasischen Integration durch wesentliche Teile der politischen Eliten in Belarus und Kasachstan.

Laut einer Umfrage des Unabhängigen Instituts für sozio-ökonomische und politische Studien in Litauen im Juni 2014 haben in der belarussischen Gesellschaft die pro-europäische Stimmungen nachgelassen. Dagegen nahmen pro-russische Stimmungen sogar im Kontext der Ukraine-Krise zu. Bei einem hypothetischen Referendum über die Wahl zwischen der Union mit Russland und dem EU-Beitritt würden sich 46,9 Prozent der Befragten für die erste Variante, 33,1 Prozent für die zweite Variante aussprechen.

Die Unterstützung der Integration mit Russland ist also in der belarussischen Gesellschaft relativ hoch. Sollte es in Belarus zu einem Machtwechsel kommen, haben pro-russisch und pro-eurasisch orientierte politische Kräfte eine stabile soziale Basis. Dies wird den Aufbau einer neuen politischen Landschaft Belarus' in jedem Fall beeinflussen. Der pro-eurasische außenpolitische Kurs Belarus' wird jedenfalls mittelfristig weiterhin dem proeuropäischen überlegen bleiben.


Gegner und Anhänger der EAWU: Porträts und Argumente

Die Anhänger der eurasischen Integration sind in Belarus neben der Staatsmacht vorwiegend zivilgesellschaftliche Organisationen, die mit der russischen Föderalagentur Rossostrudnitschestwo verbunden sind. 2012 versuchten diese Kräfte, eine »Eurasische Volksunion« (EVU) als eine angegliederte Struktur der pro-putinschen Bewegung »Gesamtrussische Nationale Front« (GNF) zu bilden. Die Mission der GNF ist es, die »besondere Verantwortung Russlands für die Freiheit und Würde aller im Ausland lebenden Bürger Russlands unabhängig von ihrer politischen und nationalen Zugehörigkeit wahrzunehmen«. Die EVU wurde aber nicht offiziell registriert und nimmt heute am gesellschaftlichen und politischen Leben Belarus' nicht teil.

Unter den politischen Parteien treten für die eurasische Integration von Belarus die formal oppositionelle Liberal-Demokratische Partei, die Republikanische Arbeits- und Gerechtigkeitspartei und die Kommunistische Partei ein (die zwei letzten sind im Parlament vertreten). Zu ihren wichtigsten Argumenten gehören in erster Linie wirtschaftliche Vorteile der EAWU-Mitgliedschaft: ermäßigte Energiepreise, gemeinsame Infrastruktur- und Industrieprojekte, Erschließung des russischen und kasachischen Marktes, Steigerung des Wohlstandes der Bevölkerung. Politisch gesehen konnten die EAWU-Mitgliedsstaaten - aus der Sicht der Anhänger der eurasischen Integration - ihr eigenes Gewicht in der internationalen Arena gegenüber dem Westen erhöhen, sich zusätzlichen Schutz gegen den außenpolitischen und wirtschaftlichen Druck seitens der westlichen Staaten sichern und die nationale Sicherheit und innenpolitische Stabilität im Gegensatz zu möglichen "farbigen Revolutionen" stärken. Mithilfe der eurasischen Integration stärkt Belarus, so diese Argumentation, auch seine kulturell-zivilisatorischen Beziehungen zu Russland.

Das Lager der Gegner der eurasischen Integration besteht in der Regel aus den zivilgesellschaftlichen Organisationen und politischen Parteien oppositionellen Charakters,[4] die traditionell die europäische Integration Belarus' als den prioritären außenpolitischen Kurs betrachten. So hat die Belarussische Nationale Plattform des Zivilgesellschaftlichen Forums der Östlichen Partnerschaft, die über 90 verschiedene zivilgesellschaftliche Organisationen und Initiativen vereint, eine Sondererklärung abgegeben, in der sie die Unterzeichnung des EAWU-Abkommens durch Aleksandr Lukaschenko ablehnte. Aus ihrer Sicht schadet die EAWU den nationalen Interessen Belarus' und bringt es um eine Reihe von geopolitischen und zivilisatorischen Auswahlmöglichkeiten, insbesondere in Bezug auf eine engere und perspektivische Kooperation mit der EU und das Potenzial der Östlichen Partnerschaft. Zudem sei die EAWU eine Allianz der »Outsider« und könne kein echtes Gegengewicht zur EU - weder wirtschaftlich, noch institutionell oder politisch - bilden. Die Teilnahme an den Integrationsprozessen mit Russland während dessen faktischer Militäraggression gegen die Ukraine schade dem Ruf und den Interessen Belarus' in seinen Beziehungen zum südlichen Nachbarn.

Die oben aufgeführten Anhänger und Gegner der eurasischen Integration sind aufgrund ihrer beschränkten Möglichkeiten, auf politische Entscheidungsfindungen in Belarus Einfluss zu nehmen, relativ marginalisiert. Daher erscheint die Analyse der Wahrnehmung eurasischer Integrationsprozesse durch die belarussische Nomenklatura hier plausibler: Ein absoluter Anhänger der eurasischen Integration ist die Führung des belarussischen Treibstoff- und Energiekomplexes, deren Wohlstand von den gemeinsamen Projekten im Bereich der Erdölverarbeitung mit Russland abhängt. Zu den Anhängern dieser Integration zählen ein Teil des Ministerrates von Belarus, der politische Unterstützung vom Kreml genießt, die Führung der Präsidialverwaltung und der liberale Regierungsflügel, vor allem das Wirtschaftsministerium, das die Integration als Instrument zur Modernisierung der belarussischen Wirtschaft betrachtet.

Eine widersprüchliche Position vertreten Führungspersönlichkeiten des belarussischen Maschinenbaus (Industrieministerium) und des militärisch-industriellen Komplexes, da sie in der Integration eine Gefahr der Übernahme ihrer Aktiva durch russische Investoren sehen. Der belarussische Maschinenbau ist jedoch ohne den russischen Markt nicht überlebensfähig. Dass Direktoren von staatseigenen Betrieben die eurasische Integration befürworten, hängt in der Regel mit den Interessen an einer Markterweiterung oder mit der möglichen Beteiligung an der Privatisierung dieser Betriebe durch russisches Kapital zusammen.

Für die Zügelung der Integration setzen sich Akteure des IT-Sektors ein, die auf internationalen Märkten erfolgreich tätig und an der Einbeziehung des russischen Kapitals samt Konkurrenten nicht interessiert sind. Transport- und Logistikunternehmen sind an der Zunahme der Konkurrenz ebenso wenig interessiert. Eine skeptische Einstellung zu den Integrationsprozessen zeigen auch ein Teil des politischen Establishments aus der Präsidialverwaltung, der mit polittechnologischen Aufgaben betraut ist, das Informationsministerium, die Vorsitzenden der beiden Parlamentskammern, die Führung des Außenministeriums und ein Teil der Gouverneure. Diesem Lager gehören auch große Unternehmer an, die die Expansion des russischen Kapitals als Gefahr für das bestehende politische System Belarus' - die Erfolgsgarantie ihres Business - betrachten. Eine ähnliche Position vertritt auch Aleksandr Lukaschenko selbst, der die Erweiterung der Integration auf die politische Ebene vermeiden will und den Einfluss des russischen Kapitals durch andere Akteure auszugleichen sucht.


Potenziale und Perspektiven aus der Sicht Belarus'

Im Vorfeld der Unterzeichnung des EAWU-Abkommens in Astana erklärte Lukaschenko, dass es nicht das Abkommen sei, mit dem Belarus gerechnet habe und das ursprünglich von den Integrationspartnern, vor allem von Russland, deklariert wurde. Die belarussische Position bestand darin, die EAWU ab 2015 ohne Ausnahmen und jegliche Einschränkungen des gegenseitigen Handels zu starten. Die sensibelste Position für die belarussische Seite sind dabei die Ausnahmen in Bezug auf Erdöl und Erdölprodukte (Erdöl-Exportzölle). Minsk weist Russlands Haushalt jährlich Exportzölle für Erdöl in Höhe von 3,5 bis vier Milliarden US-Dollar zu. Trotz einer gewissen Unzufriedenheit mit dem Text des EAWU-Abkommens ist es Belarus gelungen, das Abkommen mit der Abschaffung dieser Zölle auf bilateraler Grundlage (mit Russland) in Verbindung zu bringen.

Weiteres Potenzial der EAWU liegt aus belarussischer Sicht in der Umsetzung von gemeinsamen Infrastruktur- und Industrieprojekten, der Einbeziehung von Auslandsinvestitionen zur Gründung von Produktionsbetrieben auf dem Territorium Belarus' und der Erschließung des Marktes mit 170 Millionen Menschen.

Belarus betrachtet seine Teilnahme an den eurasischen Integrationsprojekten als Ressource für die Modernisierung und Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit, vor allem durch die Gründung von transnationalen Firmen. Zurzeit setzt Belarus in Kooperation mit Russland das Projekt zum Bau eines Atomkraftwerks um, dessen Produktivität 2400 Megawatt (Projektwert zehn Milliarden US-Dollar) betragen wird. Unter der Ägide des verbündeten Staates wurde ein Fahrplan zur Umsetzung von fünf Projekten im Bereich der industriellen Kooperation erstellt, der die Gründung von gemeinsamen Holdings auf der Grundlage von »MAZ« und »KamAZ«, »Grodnoazot« und WEurochim«, »Peleng« und »Roskosmos«, »Integral« und »Roselektronik«, »MSKT« und »Rostechnologien« vorsieht. Für diese Zwecke stellte Russland 2013 einen Kredit in Höhe von zwei Milliarden US-Dollar zur Verfügung. Im Großen und Ganzen will Russland Kooperationsbeziehungen mit Belarus in Sektoren wie Maschinenbau, militärisch-industrieller Komplex, Luftund Raumfahrtindustrie und Telekommunikationen ausbauen, was sich auf die belarussische Wirtschaft zweifellos positiv auswirken kann. Aber diese Absichten sind momentan noch rein deklaratorischer Natur. Verzögerungen bei der Umsetzung von Integrationsprojekten im Industriebereich einerseits sowie die gezielte Politik der Staatsführung Russlands zur Lokalisierung der Montageproduktion ausländischer Hersteller auf russischem Territorium andererseits beinhalten Risiken für die mittelfristige Industrieentwicklung Belarus'. Für Belarus kann dies zum Verlust von wirtschaftlichen Aktiva, einem wesentlichen Abbau von Arbeitsplätzen und zur Verschlechterung der allgemeinen sozio-ökonomischen Lage der Bevölkerung führen. Vor diesem Hintergrund versucht Belarus ähnliche Kooperationsformate mit anderen Staaten zu entwickeln. So wird in der Region Minsk das Projekt zur Errichtung eines chinesisch-belarussischen Industrieparks umgesetzt.


Anmerkungen

[1] Kirgisistan genießt ohnehin schon Präferenzen im Rahmen der freien Wirtschaftszone der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten und bezieht von Russland Mineralölprodukte zum ermäßigten Preis als Gegenleistung für die Erfüllung seiner Verpflichtungen hinsichtlich des Abzugs des US-Militärstützpunktes »Manas«.

[2] Dies ist eine Kurzfassung von: Satpajew, Dossym (2014): Die Eurasische Wirtschaftsunion als geopolitisches Instrument und Wirtschaftsraum. Eine Analyse aus Kasachstan, FES Perspektive;
http://library.fes.de/pdf-files/id-moe/10810.pdf

[3] Die bereits im vorhergehenden Artikel angesprochene russische Fabel erzählt von diesen drei Tieren, die ihr Ziel nicht erreichen, weil sie sich nicht einigen können.

[4] So z.B. die Belarussische Volksfront (BNF), Partei der Christlichen Demokraten (BHD), Vereinigte Bürgerpartei (OGP), Konservativ-Christliche Partei BNF, Belarussische Sozialdemokratische Gramada (BSDG) u.a.


Über die Herausgeber und die Autor_innen

Felix Hett ist Referent für Belarus, die Russische Föderation und die Ukraine im Referat Mittel- und Osteuropa der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin.

Susanne Szkola ist Praktikantin im Referat Mittel- und Osteuropa der FES.

Andrej Sagorskij ist Abteilungsleiter für Abrüstung und Konfliktregelung im Zentrum für Internationale Sicherheit des Instituts für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen der Russischen Akademie der Wissenschaften (IMEMO RAN) sowie Professor am Moskauer Staatsinstitut für Internationale Beziehungen (MGIMO-Universität).

Jelena Kusmina ist Politikwissenschaftlerin und Leiterin des Sektors Wirtschaftsentwicklung postsowjetischer Staaten im Institut für Ökonomie der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau.

Dossym Satpajew ist Direktor der Risks Assessment Group, Gründer der Allianz Analytischer Organisationen Kasachstans und analytischer Beobachter für www.forbes.kz.

Arsenij Siwizkij ist Leiter des Zentrums für strategische und außenpolitische Studien in Minsk.

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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Januar 2015


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