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MEINUNG/021: Der verfehlte Angleichungsprozess Ostdeutschlands im Spiegel der Statistik (Karl Mai)


Der verfehlte Angleichungsprozess Ostdeutschlands im Spiegel der Statistik

Von Karl Mai, 19.11.2012



In jüngster Zeit hat die professionelle Wirtschaftsforschung den verfehlten Angleichungsprozess in Ostdeutschland wiederholt sehr kritisch hinterfragt und statistisch erhellt. Einige offizielle Meinungen darüber reichen einerseits von Lob auf das inzwischen Erreichte bis zur Hoffnung auf die künftig noch vorhandenen Potenziale Ost. Manche "schwanken" andrerseits zwischen Frustration oder Pessimismus wegen des immer auffälligeren und anhaltenden "Rückstands im Osten" beim innerdeutschen Vergleich und prognostischer Resignation angesichts der projizierten "Zukunft Ost". (1) Dabei spielt offenbar die negative demografische Perspektive im Osten eine immer wichtigere bzw. zukunftsbelastende Rolle. (Hierzu die Abbildung 1 des ifo-dresden)

Quelle: Arbeitskreis VGR der Länder, Berechnungen und Darstellung des ifo Instituts [*]

Abbildung 1: Angleichung des Bruttoinlandsprodukts je Einwohner für Ostdeutschland (ohne Berlin) 1991 bis 2011 mit und ohne Bevölkerungseffekt, Westdeutschland (ohne Berlin) = 100
Quelle: Arbeitskreis VGR der Länder, Berechnungen und Darstellung des ifo Instituts [*]

Aus der von ifo-dresden gestalteten Abbildung 1 geht hervor: sobald man den statistischen Bevölkerungseffekt ausklammert, hat sich in Ostdeutschland der relative Niveau-Anteil am BIP zwischen 1995 und 2011 kaum bewegt und kam mit 55 % nicht mehr von der Stelle (Westdeutschland = 100 %).
Daraus folgt , dass Ostdeutschland über den ganzen Zeitraum von 1995 bis 2011 regional gar nicht mehr wirklich "aufgeholt" hatte und keine weitere realwirtschaftlich begründete Niveauangleichung beim BIP stattfand. Allein infolge der Schrumpfung der ostdeutschen Wohnbevölkerung ergab sich so der "Anschein" eines relativen Aufholens im Osten Deutschlands.

Die nachfolgende Tabelle 1 des ifo-dresden verdeutlicht nun für die einzelnen ostdeutschen Länder den 2011 erreichten Stand nach volkswirtschaftlichen Kriterien:

Quelle: Nach ifo-Dresden und VGR der Länder (modifiziert vom Autor (K.M.))

Tabelle 1: Veränderung verschiedener Kenngrößen 2005 bis 2011 (in %)
Quelle: Nach ifo-Dresden und VGR der Länder (modifiziert vom Autor (K.M.)).

Gegenüber dem Jahre 2005 wird demzufolge durch den Bevölkerungseffekt das regionale Wachstum in Ostdeutschland statistisch um +5,0 % höher ausgewiesen, als ohne diesen Effekt. (Spalte 5 / Spalte 3). Der Verlust an Wohnbevölkerung in Sachsen-Anhalt (-6,4%) führt sogar zu einem rein "statistischen Wachstum" von +7,9% (21,8-13,9%). Am geringsten zeigt sich der Effekt im Land Brandenburg mit +2,9% in den letzten 12 Jahren. Thüringen zeigt den zweithöchsten Bevölkerungsverlust der Ostländer.

Realwirtschaftlich bleibt Ostdeutschland im Vergleich zu Westdeutschland so um -0,6%-Punkte in den letzten 12 Jahren zurück, was den Pessimismus für die "Zukunftschancen Ost" nochmals belegt. (Spalte 3)

Das ifo-desden spricht jetzt von einem "statistischen Artefakt" als einer "künstlich hervorgerufenen" statistischen Verzerrung, wenn man den Bevölkerungseffekt nicht berücksichtigt und dies auch für die Zukunft unterlässt. Diese Sichtweise hat viel Überzeugendes für sich, basiert jedoch generell auf einer noch negativeren bzw. ernüchternderen Aufholbilanz Ost-West. Damit verschärft sich der moralischer Druck auf die Politik, in Zukunft diesen Angleichungsprozess wieder zu beleben.

Diese Wiederbelebung hat immer auch eine entscheidende finanzielle Komponente, weil oder wenn sich die Finanztransfers West-Ost insgesamt künftig weiter rasch vermindern. Nach vollständigem Auslaufen des "Solidaritätspaktes II" im Jahre 2019 reduzieren sich dann die noch verbleibenden Transfers West-Ost auf den "horizontalen Finanzausgleich" gemäß Grundgesetzänderung und auf die regional wirtschaftlich begründbaren EU-Zuweisungen (für fortgesetzte Unterentwicklung von Regionen nach EU-Statistik). Unberührt bleibt dabei der fälschlicher Weise oft genannte "Solidaritätszuschlag auf die Einkommensteuern", der steuerlich völlig anders motiviert ist und in Ost und West gleichermaßen zu zahlen ist.

Seitens der offiziellen Wirtschaftsforschung (z. B. des IWH-Halle) wurde daher schon vorsorglich darauf hin gewiesen, künftig wieder einen wirksameren zusätzlichen Anreiz für die Belebung des Umschichtungsprozesses zu etablieren. Dazu hat das IWH-Halle die Unterstützung der Öffentlichkeit im Oktober 2012 durch eine spezielle Fachtagung in Halle eingeworfen, deren Argumente/Analysen und Ergebnisse noch zur Kenntnis gebracht werden, aber insgesamt auf dem Forschungsbericht vom Mai 2011 gründen. (Siehe: Literaturverzeichnis, Pkt. 3).

Am 7.10.2012 ging das "Herbstgutachten der 6 Forschungsinstitute" pessimistisch auf die Lage Ostdeutschlands ein: "Der Konvergenzprozess zwischen Ost- und Westdeutschland wird auch im Prognosezeitraum wie in den Vorjahren keine Fortschritte machen." (Gemeinschaftsdiagnose Herbst 2012, Sonderdruck, S. 40) Damit wird der Streit um den verfehlten Angleichungsprozess Ost eher abgewertet und verdrängt als angeheizt.

Das private Roland Berger Institut brachte eine Studie im Auftrag des Landes Thüringen heraus, in welcher die Bedingungen für eine Wiederangleichung der Wirtschaft Ost an das westdeutsche Niveau im Detail dargelegt werden. Dort heißt es zusammengefasst und abschließend:

"Um das Ziel zu erreichen, die Kapitallücke zum Westen zu schließen, sind bis 2030 Investitionen von über 1.000 Mrd. Euro in den Neuen Ländern nötig, wovon etwa 200 Mrd. auf den Prozess des Aufholens und Aufschließens entfallen, der Rest auf Erhaltung und die 'normale' Weiterentwicklung der Infrastruktur, die auch im Westen stattfindet Lebensverhältnisse nicht zu erreichen. Es wird eine wesentliche Anforderung an den zukünftigen Finanzausgleich sein, diese Voraussetzungen zu schaffen. Dabei wird auch die besondere Situation strukturschwacher Regionen, etwa der demografische Wandel, zu berücksichtigen sein." Und als Motivation für die gesamtdeutsche Politik wird herausgestellt:
"Die neuen Länder sollten nicht zögern, Unterstützung für strukturschwache Regionen einzufordern - sie haben nicht nur das Grundgesetz auf ihrer Seite... So hätte schon eine Halbierung der Einkommenskluft zwischen Ost und West eine Absenkung der jährlichen Transfers von knapp 3 auf 1 Milliarde (ohne Berlin) zur Folge, vom Rückgang der Transfers in den Sozialsystemen ganz zu schweigen.
Eine Überwindung der Kluft in der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zwischen Ost und West liegt daher im wohlverstanden Interesse aller Bundesländer... dann ist es realistisch, dass 40 Jahre nach der deutschen Einheit - im Jahre 2030 - der Aufholprozess abgeschlossen sein kann." (S. 32) (Hervorhebung von K.M.)

In dieser Sichtweise offenbart sich (vielleicht unbeabsichtigt) eine Position, die m. E. an die Standpunkte in der "Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik" erinnert. Allerdings kommt sie von einer ideologisch motivierten anderen Seite!

Gilt es nun, den deutlichen Impuls zur Veränderung der Politik der Bundesregierung aufzugreifen, die praktische Politik umzuorientieren und den bisher verfehlten Angleichungsprozess bis 2030 zum Abschluss zu bringen? Die Geschichte bestraft jene, die ihre Chancen nicht nutzen.


Literatur:

1. ifo-dresden, Bericht 5/2012, Aktueller Kommentar, S. 5

2. Roland Berger Institut,"Zukunft Ost", Auftrags-Studie 2012, 33 Seiten

3. (Hrsg.) IWH-Halle, "Wirtschaftlicher Stand und Perspektiven für Ostdeutschland", Auftrags-Studie von 6 Forschungsinstituten, 23.5.2011, 164 Seiten, erstveröffentlicht im Mai 2012 (Internetfassung)

Und zur Ergänzung:

4. IWH-Halle, "Ostdeutschlands Transformation seit 1990 im Spiegel wirtschaftlicher und sozialer Indikatoren", 2. aktualisierte und verbesserte Auflage, Juli 2010, 208 Seiten

5. Holtmann/Ragnitz/Völkl, "Ostdeutschland 2020. Die Zukunft des 'Aufbau Ost'", Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, 2010, 178 Seiten


Endnote:

(1) So hatte z. B. Joachim Ragnitz schon im Jahre 2000, damals noch im IWH-Halle, nüchtern vorausschauend ausgesagt: "Das aber heißt, dass die Unterschiede in den Einkommen, in den Lebensbedingungen und in der Ausstattung der öffentlichen Einrichtungen im vereinten Deutschland wohl für längere Zeit, wenn nicht gar auf Dauer größer sein werden als es in Westdeutschland vor 1989 der Fall war." J. Ragnitz, Artikel "Die Wirtschaft in Deutschland Ost und in Deutschland West" in: "Der Bürger im Staat", Heft 4/2000, S. 241.

[*] ifo Pressemitteilung
Wirtschaftliche Angleichung zwischen Ost und West?
Dresden, im Juli 2012

*

Quelle:
© 2012 by Karl Mai
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Dezember 2012