Um wie viel stieg die Staatsverschuldung infolge der Vereinigung? - Ein notwendiger Rückblick
von Karl Mai, Stand: 21.5.2013
Bei der Interpretation von "Staatsschulden infolge der Deutschen Vereinigung" gibt es oft Unsicherheiten oder sogar einseitige Deutungen. Um sie zu vermeiden, ist die Rückbesinnung auf die früheren Daten und Analysen der Wirtschaftsforschung zu diesem Thema nützlich, u. a. auf die wichtigen Arbeiten des IWH-Halle hierzu aus zurück liegenden Jahren. Dies führt auch zu erweiterten Betrachtungen zum Sachkomplex zwangsläufiger "Staatsverschuldung infolge der Vereinigung". Es ist nicht nur zweckmäßig sondern sogar notwendig, die älteren IWH-Halle-Forschungen erneut zu recherchieren und auszuwerten, wie dies nachstehend versucht werden soll.
Zuerst ist zu entscheiden, ob für unser Thema eine zeitliche Abgrenzung der fiskalischen Verschuldungshöhe nach Jahren (ab 1990) sinnvoll ist, da faktisch die Transferzahlungen für Ostdeutschland gemäß dem "Solidarpakt II" voraussehbar erst zum Jahr 2020 auslaufen sollen. Hierzu vertrete ich den Standpunkt, dass es nicht auf die absolute Höhe der "Staatsverschuldung infolge der Vereinigung" ankommt, sondern auf die quantitative Relation von solchen Kenngrößen wie z. B. "Staatsverschuldung zu Brutto- oder Netto-Transfers" bzw. von "Staatsverschuldung zu Vereinigungsgewinnen oder Vereinigungslasten" bzw. direkt von "Vereinigungslasten zu Vereinigungsgewinnen". Bereits diese Relationen geben hinreichenden Aufschluss über den rückblickenden Effekt der bislang erreichten Vereinigungsökonomie. Um die noch unsicheren prognostischen Zukunftswerte auszuklammern, ist daher m. E. die Abgrenzung der Zahlenangaben zu einem Stichtag zurückliegenden Zeitpunktes sinnvoll, für welchen bereits statistisch gesicherte Daten greifbar sind. Daher wähle ich hier den Zeitraum von 1991 bis 1999 zur Grundlage der Bewertungen von Relationen vorstehend genannter quantitativer Kenngrößen.
Diese wesentliche Frage wird von der aktuellen Wirtschaftsforschung nicht mehr geprüft, da entweder die vorherrschende Meinung dieses Problem von vornherein ignoriert oder aber als statistisch nicht verifizierbar einstuft. Aber es ist von großer Bedeutung für die thematische Untersuchung im Zeitkontext.
Der Vereinigungsprozess hatte (in hier gewählter Abgrenzung bis 1999) neben den Netto-Transfers von West- nach Ostdeutschland auch einen hohen Vereinigungsgewinn für Westdeutschland gebracht, der die finanziellen Netto-Transferleistungen überstieg - was öffentlich meist ignoriert wurde. "Der Vereinigungsgewinn übersteigt die Transferleistungen, die Westdeutschland zu Gunsten Ostdeutschlands leistet. (Größenordnung 150 Milliarden DM)", ermittelte das IWH-Halle bereits 1996. (IWH, "Wirtschaft im Wandel", Heft 13/96, S. 2) Und auch: "Die deutsche Vereinigung führte damit in den alten Bundesländern infolge der Wachstumsgewinne zu erheblichen Steuermehreinnahmen und Minderausgaben, die den vereinigungsbedingten Lasten gegenzurechnen sind" , wurde bereits 1996 auch von der Bundesbank erkannt. (Deutsche Bundesbank, Research, Aktuelle Themen Nr. 28 vom 25.9.1996). Jedoch eine solche Gegenrechnung steht regierungsoffiziell immer noch aus.
Dieser Vereinigungsgewinn ergab sich u. a. aus dem damit verknüpften Realtransfer von Ost nach West, der also in umgekehrter Richtung verlief. Dahinter verbirgt sich a) der von Ost nach West erfolgende Abzug von großen Bevölkerungsanteilen. (1) Hierunter hauptsächlich deutsche Abwanderer im arbeitsfähigen Alter mit guter Berufsqualifikation, der in Westdeutschland zu einem produktiven Beschäftigungs- und Konjunktursprung führte, der über den langjährigen Trend des westdeutschen Produktionspotentials hinausführte und dort verharrte. Außerdem ergab sich ein hoher Vereinigungsgewinn b) aus dem hohen ostdeutschen Importüberschuss durch Warenlieferungen aus Westdeutschland und aus dem Ausland. Grundlage bildeten die finanziellen West-Ost-Transfers, die zu bedeutenden finanziellen Rückflüssen nach dem Westen infolge der damit verbunden Erlös-Überschüsse einschließlich der Gewinne führte, die in Ostdeutschland erzielt werden konnten. Daraus folgten naturgemäß beträchtliche fiskalische Mehreinnahmen durch Steuern und durch Sozialversicherungsbeiträge im Westen, die zeitlich an die Transfers gekoppelt waren bzw. sind.
Man kann lt. IWH-Halle also den Vereinigungsgewinn für die westdeutsche Wirtschaft mit 75,0 Mrd. Euro pro Jahr veranschlagen. Begründung des IWH-Halle: "Im Jahre 1997 wird das westdeutsche Bruttoinlandsprodukt um rund 7% über dem Wert liegen, der sich bei Fortschreibung der Trends 1979/1989 ergeben hätte." (IWH, WiW, Heft 13/96, S. 2) Diese Wertdifferenz von ca. 7% spiegelt den eindeutigen und gravierenden Vorteil der deutschen Vereinigung für Westdeutschland und seine Bundesländer.(2)
Später zeigte die Forschung hierfür klar umrissene Größenordnungen wie folgt: "In der Summe über die Jahre 1990 bis 1999 würde die errechnete Differenz zwischen der simulierten Bruttowertschöpfung und der tatsächlichen Entwicklung von 1100 Mrd. DM in etwa den geleisteten öffentlichen Nettotransfers entsprechen", konnte Gerald Müller im Ergebnis seiner Studie mitteilen. (G. Müller, in: Brümmerhoff (Hrsg.), 2000, S. 51)
Dieser Vorteil war allerdings zeitlich nicht konstant, sondern im Zusammenwirken von beiden konstituierenden Faktoren (definiert unter a und b) auch konjunkturell schwankend, von der Höhe der Verwendung der Transfers zu investiven Zwecken abhängig, sowie darüber hinaus stark unterschiedlich in den Wirtschaftssektoren und -zweigen ausgeprägt, wie durch die Simulationsmodelle der Wirtschaftsforschung nachgewiesen wurde. (3)
Die "Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik" hatte in ihrer "Bilanz der Vereinigungspolitik" im Jahre 2010 diese IWH-Argumentation übernommen. Hiernach bewirkten "die einigungsbedingten Ressourcenverschiebungen" und der "Zustrom qualifizierter Arbeitskräfte aus dem Osten in den Folgejahren für die westdeutsche Wirtschaft einen nachhaltigen Niveauschub. Der langjährige Entwicklungspfad konnte verlassen und ein signifikant höherer Pfad eingeschlagen werden [...] Dieser liegt durchschnittlich ca. 2,5 Prozentpunkte über dem bisherigen Trend (vgl. Burda/Busch 2001, S.30). Der dadurch erzielte 'Mehrwert' verkörpert den eigentlichen 'Vereinigungsgewinn' der westdeutschen Wirtschaft. Sein Umfang entspricht in etwa der Summe der nach Ostdeutschland geflossenen Nettotransfers". (Vergl. "Deutsche Zweiheit etc.", 2010, Seite 103 und Fußnote 8): Gerald Müller (IWH-Halle) "ermittelte für die Jahre 1990 bis 1999 eine kumulative Differenz zwischen einer simulierten Wertschöpfung ohne Vereinigungseffekt und der tatsächlichen Wertschöpfung in Westdeutschland von 562 Milliarden Euro (Müller 2000,S. 51) Dies entspricht ziemlich genau dem Umfang der in diesem Zeitraum geleisteten Nettotransfers (569 Milliarden Euro)." (S. 103) (Hervorhebung von mir - K.M.)
Diesen Effekt hatte schon die Geschichtsschreibung zur Vereinigung anerkannt: "Der durch die Transferzahlungen finanzierte Einfuhrüberschuss der neuen Bundesländer begünstigte vor allem westdeutsche, daneben natürlich auch ausländische Produzenten. " (Dieter Grosser, "Das Wagnis der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion", DVA 1998, S. 483) Und: "Bis zuletzt bewegte sich die westdeutsche Wirtschaft auf einem Wachstumspfad, der höher lag als es ohne die deutsche Einheit der Fall gewesen wäre." (IWH-Halle, "Wechselbeziehungen zwischen Transfers etc.", Sonderheft 1/1998, S. 212) Dies schließt nicht aus, dass diese strukturelle Zuwachsgröße des westdeutschen BIP sich durch konjunkturelle Schwächeintervalle auch zeitweilig verringerte, wie z. B. in der Konjunktursenke von 1993 bis 1995.
Diese Begünstigung für Westdeutschland infolge der oben genannten beiden Einflussfaktoren (unter a) und b)) bewirkte außerdem eine beispiellose Vermehrung des privaten Geldvermögens der oberen Einkommensgruppen seit 1991, das explosionsartig anwuchs und die produktiven/investiven fiskalischen Leistungen des Staates für Ostdeutschland sehr deutlich überflügelte - wie noch erkennbar wird. Das bedeutet, dass die Existenz dieser hohen Vereinigungsgewinne in Westdeutschland zu einer dramatischen Erhöhung der Umverteilung von unten nach oben wesentlich beitrug.
In einem aktuellen Dokument heißt es: "In Deutschland hatte sich die Staatsverschuldung allein infolge der Finanzierung der deutschen Einigung seit 1990 verdreifacht." (Zitat) Diese Formulierung ist zeitlich unbefristet bzw. nicht eingegrenzt. Jedoch die fiskalische Verschuldung hatte sich erwiesener Maßen im Zeitraum von 1990 bis 1999 nur "verdoppelt". Hierauf komme ich sogleich nachstehend zurück.
Die finanziellen Transfers von West nach Ost hatten zwar anerkannter Weise einen großen Einfluss auf den Schuldenanstieg des Fiskus, aber die wechselseitigen Relationen von Kenngrößen zeigten doch ein anderes Bild als das für die Öffentlichkeit bestimmte Bild von den bloßen Finanzströmen von West nach Ost. Hierzu ist eine differenzierte Betrachtung der exakten Daten sehr aufschlussreich.
Nach den Daten gemäß Tabelle 1 hatte sich die Staatsverschuldung (insgesamt) von 1990 bis 1999 von 538,8 Mrd. Euro auf 1.119, 9 Mrd. Euro erhöht, also auf 207,9 % oder das ca. Doppelte von 1990. Die Zunahme der Gesamtschulden betrug folglich in dieser Zeitspanne absolut 661,3 Mrd. Euro.
Tabelle 1: Staatsverschuldung in Euro 1991 bis 1999 in Mrd. Euro
Quelle: Sachverständigenrat für Wirtschaft, lange Reihen, Verschuldung der Bundesrepublik.
Staatsverschuldung in Euro 1991 bis 1999 in Mrd. Euro
|
|||||
---|---|---|---|---|---|
|
Deutschland
|
Bund
|
Länder
|
Gemeinden
|
% BIP
|
1990
1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 |
538.641
598.702 686.405 770.226 848.556 1.019.248 1.087.170 1.132.974 1.165.834 1.199.987 1.211.455 1.223.966 1.277.667 1.358.137 1.430.582 1.489.029 1.533.697 1.540.381 1.564.590 1.657.842 1.731.561 1.752.064 |
306.315
334.049 362.891 409.658 424.228 449.006 489.600 521.042 547.887 770.343 774.850 760.199 784.653 826.543 869.372 901.621 933.467 940.088 966.197 1.033.017 1.075.415 1.081.304 |
168.106
180.152 198.959 221.819 240.666 261.621 285.478 304.459 318.827 327.407 338.143 364.559 392.172 423.737 448.672 471.375 481.850 484.373 483.875 505.359 527.669 537.061 |
64.219
70.454 77.645 86.991 94.901 99.242 101.026 101.670 101.662 102.237 98.462 99.209 100.842 107.857 112.538 116.033 118.380 115.920 114.518 119.466 128.477 133.699 |
40,4
40,4 42,9 46,9 49,3 55,6 58,5 59,8 60,5 61,3 60,2 59,1 60,7 64,4 66,3 68,6 68,1 65,2 66,7 74,4 83,0 81,2 |
Davon entfielen als Zunahme zwischen 1990 und 1999 auf ausländische Gläubiger des gesamtdeutschen Fiskus - gleichsam als neue fiskalische Auslandsschulden - 313,8 Mrd. Euro, d.h. 48 % der Schuldenzunahme des Fiskus wurde durch das Ausland als Kredit bereitgestellt. 4 (Siehe: Deutsche Bundesbank, Auslandsverschuldung des Fiskus, Statistik-Reihe BQ 171. Hiervon völlig unabhängig gewährten deutsche Banken gleichzeitig fortgesetzt hohe Kredite an Ausländer.)
Die Verschuldung des Bundes stieg von 306 auf 770 Mrd. Euro, oder um 464 Mrd. Euro auf 251,5%, die der Länder von 168,1 auf 327,4 Mrd. Euro oder auf 194,7% und die der Gemeinden von 64,2 auf 102,2 Mrd. Euro oder auf 159,2%. Die Gesamt-Schulden stiegen 1991 bis 1999 dadurch von 40,4 % des BIP auf 61,3 % des BIP an. Demgegenüber beliefen sich die gesamten fiskalischen Transferleistungen:
Tabelle 2: Öffentliche Leistungen für Ostdeutschland 1991 bis 1999, in Euro
Quelle: IWH-Sonderheft 2/2000, S. 14 , Tabelle 2.1; umgerechnet aus Angaben in DM;
Öffentliche Leistungen für Ostdeutschland 1991 bis 1999, in Euro | ||||||||||
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
|
1991
|
1992
|
1993
|
1994
|
1995
|
1996
|
1997
|
1998
|
1999
|
1991-1999
|
Leistungsarten
Brutto-L: (*) Netto-L. " %West-BIP |
71,1 54,6 4,1 |
85,9 66,4 4,7 |
95,8 75,1 5,3 |
97,0 74,4 5,0 |
93,3 69,8 4,6 |
94,2 70,0 4,5 |
92,1 68,2 4,3 |
91,2 66,8 4,0 |
97,8 72,5 4,4 |
818,25
617,85 - |
Erläuterung zur Tabelle:
(*) Die Bruttoleistungen enthalten für den Zeitraum 1991-1999 Ausgaben des Bundes in Höhe von 536,7 Mrd. Euro, der Länder/Gemeinden West von 45,7 Mrd. Euro, Fonds Deutsche Einheit (ohne Zuschüsse Bund/Länder) von 37,5 Mrd. Euro, Sozialversicherung (netto) von 136,3 Mrd. Euro, EU-Förderung von 27,5 Mrd. Euro, THA-Ausgaben von 34,6 Mrd. Euro. Vermindert um die Steuer-Einnahmen des Bundes aus Ostdeutschland von 200,4 Mrd. Euro in diesem ganzen Zeitraum 1991-1999 ergeben sich dann die ausgewiesenen Nettoleistungen von 617,85 Mrd. Euro
Diese vorstehenden Angaben (Tabelle 2) enthalten in der Summe von 818,25 Mrd. Euro die folgenden Ausgaben-Positionen: für Wirtschaftliche Infrastruktur, Wirtschaftsförderung, Ungebundene Zuweisungen, Nicht zuzuordnende Leistungen und für Sozialleistungen. Die Sozialleistungen betrugen zwischen 1991 und 1999 insgesamt 417,7 Mrd. Euro und damit 50,7 % aller Brutto-Transfers. Sie beruhen in der Regel auf gesamtdeutschen gesetzlichen bzw. rechtlichen Bestimmungen.
Einer Schätzung des IWH zufolge entfielen im Zeitraum von 1991 bis1999 "etwa 'ein Sechstel der erfassten Ausgaben' auf investive und mehr als zwei Drittel auf konsumtive Zwecke. Der Rest ist nicht zuordenbar ...". (U. Busch, Am Tropf, 2002, trafo Verlag, S. 266) Hieraus folgt, dass die mit ein Sechstel benannten Anteile für investive/produktive Zwecke die Größenordnung von insgesamt ca. 68 Mrd. Euro für die Jahre bis 1999 nicht überschritt.
Ferner zeigten die Analysen der Wirtschaftsforscher, dass es keinen direkten, eindeutigen oder zwingenden Zusammenhang von allen Komponenten der innerdeutschen Netto-Transferleistungen mit dem Anstieg der gesamten deutschen fiskalischen Staatsverschuldung im Zeitraum der unmittelbaren Vereinigungsfolgen von 1991 bis 1999 gab. Einzelne, auch bedeutende Komponenten der Ausgaben waren vielmehr als Folge der größeren räumlichen Ausdehnung des Staatsgebiets zu erklären und nicht als "ostspezifische" Aufwendungen. Solche waren als originäre Staatsausgaben zu interpretieren, obwohl sie unter den Transferleistungen abgerechnet wurden, z. B. die erheblichen im ostregionalen Sektor lokalisierten Verteidigungsausgaben in Höhe von 17,3 Mrd. Euro (1991 - 1999). (Siehe hierzu die sehr detaillierte Tabelle 3.51 bei U. Busch, Am Tropf, 2002, trafo-Verlag, S. 274)
Der IWH-Forscher Joachim Ragnitz untersuchte die "Sonderleistungen des Bundes" für Ostdeutschland, die sich nach seiner kritischen Analyse auf insgesamt 30,7 Mrd. DM oder 15,35 Mrd. Euro für den Zeitraum 1991-1998 belaufen und nur 3,33 % der gesamten West-Ost-Bruttotransferleistungen des Bundes betrugen. (Siehe in: Brümmerhoff (Hrsg.), S. 21)
Den vermehrten fiskalischen Staatschulden (Zeitraum 1991-1999) von 661,3 Mrd. Euro stehen fiskalische Netto-Transfers von 617,85 Mrd. Euro im gleichen Zeitraum gegenüber. Es würde zumindest problematisch erscheinen, hierfür einen reflexiven Zusammenhang zu unterstellen. Die Steuerpolitik und die Kredit- und Zinspolitik des Bankensystems nach der Vereinigung hatten ebenfalls ihre Folgen für die Verschuldungshöhe des Fiskus: Durch eine abgestufte Erhöhung der Steuerlast sowie eine weniger restriktive Zinspolitik der Bundesbank wäre ein geringerer Anstieg der fiskalischen Verschuldung möglich gewesen - bei größerer Einsicht der Politik in die objektiven Erfordernisse.
Ferner zeigen die Daten der Tabelle 2, dass sich die Belastung Westdeutschlands durch die Nettotransfers in einer Größenordnung von 4,1 bis 5,0 Prozent des jeweiligen West-BIP bewegten, was nicht für eine Überforderung der Westwirtschaft infolge der deutschen Einheit spricht, wenn man die Vereinigungsgewinne gegenrechnet.
Hartnäckig halten sich auch die Anschuldigungen gegen die Höhe der von der Ex-DDR in die Vereinigung eingebrachten eigenen (Alt-)Schulden, die als gravierend hingestellt werden.
Man erinnere sich: Beide deutschen Teilstaaten, aber insbesondere Westdeutschland, hatten vor 1990 jeweils große Summen an fiskalischer innerer und äußerer Staatsverschuldung angesammelt, die nach der Vereinigung von allen Bürgern mitgetragen werden mussten.
Die DDR endete mit einer überprüften Außenhandelsverschuldung gegenüber den westlichen Devisenländern von -19,887 Mrd. Valutamark oder -9,94 Mrd. Euro. Gegenüber den Ländern des Sozialistischen Wirtschaftsgebiets bestand 1989 die Kapitalbilanz im minus-Saldo von -1,83 Mrd. Valutamerk oder -0,92 Mrd. Euro, dagegen die Handelsbilanz im plus-Saldo von +1,9 Mrd. Valutamark oder +0,95 Mrd. Euro. (Bundesbank, "Die Zahlungsbilanz der ehemaligen DDR 1975 bis 1989", August 1999, S. 60 bzw. S. 32/33)
Von einer katastrophalen Außenverschuldung der DDR konnte 1989 mit -10,9 Mrd. Euro (einschl. Kapitalbilanzsaldo, insgesamt) also keine Rede sein. (Vergl. hierzu die Analyse von Siegfried Wenzel, "Was war die DDR wert?", Verlag Das Neue Berlin, 2000, S. 28/29) Zu den inneren Schulden der DDR kommt die kritische Analyse Wenzels zum Ergebnis, dass hierfür nur "die Verbindlichkeiten des Staatshaushalts gegenüber den Spareinlagen der Bevölkerung, soweit sie als Kredite des Staatshaushalts, z. B. für die Finanzierung des Wohnungsbaus in Anspruch genommen wurden". in Frage stehen, d.h. 38 Mrd. DM oder 19 Mrd. Euro. Das ergibt als Gesamtschuldenstand der DDR insgesamt -29,9 Mrd. Euro, die für die Zeit nach 1990 zu Buche standen. (Wenzel, a.a.O., S. 29/30)
Die BRD endete 1990 mit einer fiskalischen Gesamtverschuldung von 538,6 Mrd. Euro. (Tabelle 1). Darunter waren an ausländische Gläubiger mit 220,6 Mrd. Euro fiskalische Verpflichtungen aus Krediten der Bundesbank begründet, d. h. 41 % des Schuldenstandes des Fiskus.(Siehe: Bundesbank, Lange Reihen Statistik, BQ 171.)
Der Historiker Gerhard A. Ritter benannte das Anwachsen der vereinigungsbedingten Staatsverschuldung "von 1989 bis 1995 auf mehr als das Doppelte". (Ritter in: Henke, (Hrsg.), "Revolution und Vereinigung 1989/90", 2009, dtv, S. 544) Dies ist kongruent mit unseren hier zuvor angeführten Daten für einen Zeitraum 1991-1999. Damit wird eine sachgerechte Aussage getroffen, die u.a. mit der Größenordnung des hier aufgezeigten Vereinigungsgewinns von ca. 675 Mrd. Euro (von 1991-1999), aber auch mit den finanziellen fiskalischen Netto-Transferleistungen West-Ost von ca. 618 Mrd. Euro (von 1991 bis 1999) in korrekter wechselseitiger Relation steht.
IWH-Forscher Gerald Müller stellte nach gründlicher Untersuchung der Trendentwicklungen im Vergleich zur empirischen Datenlage im Jahre 2000 als Fazit fest: "Der Nachfrageimpuls durch die Wiedervereinigung führte in Westdeutschland zur Ausdehnung der Produktion sowie der Beschäftigung. Seither liegt die Bruttowertschöpfung in Westdeutschland deutlich über dem vom IWH-Modell ohne Wiedervereinigung für Westdeutschland simulierten Niveau. In der Summe entspricht die Differenz in etwa den von West- nach Ostdeutschland geleisteten Nettotransfers." (Siehe: G. Müller in: Brümmerhoff, (Hrsg.), Seite 58)
Quelle: Sachverständigenrat für Wirtschaft, lange Reihen, Verschuldung der Bundesrepublik.
(1) Von 1990 bis 1994 verminderte sich durch Ost-West-Wanderungen die ostdeutsche Wohnbevölkerung um ca. 700 Tsd. Personen. (DIW-Vierteljahreshefte, Heft 3/95, S. 496). Bis 2007 erreichte die Ost-West-Wanderung dann 1, 8 Millionen Menschen. (IWH-Halle, Sonderheft 1/2009, S: 70)
(2) Im Jahre 2000 stellte das DIW-Berlin gleichlautend fest: "Im Durchschnitt dieser Jahre hatte die westdeutsche Wirtschaft in Höhe von 180 Mrd. DM (= 90 Mrd. Euro) aus dem Handel mit Ostdeutschland profitiert, d.h. ohne diese Lieferungen wäre das westdeutsche Sozialprodukt ceteris paribus jedes Jahr um 6 bis 7 % niedriger gewesen." Die bleibende Steigerung des westdeutschen Produktionspotentials durch den jährlichen Zugewinn von produktiven Arbeitskräften aus Ostdeutschland ist hier noch nicht eingerechnet. (Siehe: DIW-Vierteljahreshefte, Heft 2/2000, S. 202)
(3) Vergl. Bei G. Müller, in: Brümmerhoff (Hrsg.), 2000, Seite 48 ff.
(4) Ob diese hohen Auslandsschulden des Fiskus ein Gefahrenpotential für Deutschland darstellen können, wie derzeit in der Wirkung der Auslandsschuldenhöhe (einschließlich der Soll-Zinslasten) auf die Staatsverschuldung der EWU-Staaten Zypern, Portugal, Spanien und Italien erkennbar ist, bleibt allerdings umstritten.
Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, "Deutsche Zweiheit - Oder: Wie viel Unterschied verträgt die Einheit? - Bilanz der Vereinigungspolitik"; PapyRossa, 2010
Brümmerhoff, Dieter (Hrsg.), "Nutzen und Kosten der Wiedervereinigung", Nomos Verlagsgesellschaft, 2000, Schriften zur Verwaltung und öffentlichen Wirtschaft, Bd. 167
Burda, Michael/Busch, Ulrich, "West-Ost-Transfers im Gefolge der deutschen Vereinigung", in : Konjunkturpolitik, Heft 1/2001, S. 1-38
Busch, Ulrich, "Am Tropf - Die ostdeutsche Transfergesellschaft", trafo Verlag 2002
IWH-Halle, "Simulationsrechnungen zu den Auswirkungen einer Kürzung der Transferleistungen für die neuen Bundesländer", Sonderheft 2/2000
IWH-Halle, "Wechselbeziehungen zwischen Transfers, Wirtschaftsstruktur und Wachstum in den neuen Bundesländern", Sonderheft 1/1998
Karl Mai, "Zur Höhe der Staatsverschuldung infolge der deutschen Vereinigung", in: Busch/Mai/Steinitz (Hrsg.), "Ostdeutschland zwischen Währungsunion und Solidarpakt II", trafo Verlag , 2006, Reihe GWF Band 36
*
Quelle:
© 2013 by Karl Mai
Mit freundlicher Genehmigung des Autors
veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Juni 2013