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MEINUNG/033: Investitionsdefizite und Exportüberschüsse im Systemvergleich (Karl Mai)


Investitionsdefizite und Exportüberschüsse im Systemvergleich

von Karl Mai, 16. Juli 2013



Die Wirtschaftsforschung in Deutschland hat das Thema "Investitionsdefizite" für die gegenwärtige BRD entdeckt. Das DIW-Berlin veröffentlichte aufschlussreiche, teils sensationelle Analysen dazu, die jene Politiker aufrütteln sollten, die dieses Thema bisher ignorierten. Ostdeutschen Ökonomen mit originären DDR-Kenntnissen drängt sich nun ein Vergleich mit der Endzeit der DDR-Wirtschaft auf. Hier wie dort entstanden bedeutende strukturelle Investitionsschwächen, verursacht oder begleitet von hohen Exportüberschüssen im Außenhandel.

Zwei grundverschiedene Wirtschaftssysteme mit vergleichbaren oder analogen Negativeffekten bei den Investitionen?


1. Investitionsdefizite der gegenwärtigen BRD

Die vorliegenden Analysen des DIW sollen hier nur verkürzt angeführt werden. Sie betreffen den Stand bzw. die Änderungen der volkswirtschaftlichen Investitionsquote generell sowie speziell die Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur.[1]

"Die Investitionsquote war längere Zeit rückläufig und ist im internationalen Vergleich niedrig. Die Berechnungen in dieser Studie zeigen, dass Deutschland im Durchschnitt der Jahre 1999 bis 2012 eine Investitionslücke von jährlich drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts aufgewiesen hat. Das heißt, es fehlten rund 75 Milliarden Euro pro Jahr." (DIW, 13-26-2, S. 1)

Bezogen auf den Zeitraum der Berechnung (1999 bis 2012) fehlen also Investitionen von ca. 1.050 Mrd. Euro (!) - eine gigantische "Lücke", die der binnenländischen Wirtschaft zugemutet oder wirtschaftspolitisch "aufgezwungen" wurde.

Ergänzend speziell zur Verkehrsinfrastruktur: "Die Analyse zeigt, dass in der Vergangenheit jährlich knapp vier Milliarden Euro zu wenig für die Substanzerhaltung der Verkehrsinfrastruktur aufgewendet wurden. Geht man von mindestens dieser Investitionslücke für die Substanzerhaltung der Verkehrsinfrastruktur auch in den kommenden Jahren aus und berücksichtigt man darüber hinaus den aufgrund der jahrelangen Vernachlässigung aufgelaufenen Nachholbedarf, so dürfte der zusätzliche jährliche Investitionsbedarf bei mindestens 6,5 Milliarden Euro liegen. Hinzu kommen schwerer abschätzbare zusätzliche Investitionserfordernisse in Fahrzeuge sowie punktuelle Netz- und Kapazitätserweiterungen." (DIW, 13-26, S. 6)

Die direkten Ursachen hierfür sind in der bundesdeutschen Steuer- und Umverteilungspolitik in Kombination mit der extremen Export-Überschusspolitik zu finden. Diese neoliberale Wirtschaftspolitik erzeugte im Binnenmarkt jene langjährigen Lohn-Zurückhaltungen, die sich als Einschränkung der Binnenkaufkraft und damit als Potenzial für hohe Leistungsbilanz-Überschüsse auswirkten - die volkswirtschaftliche Saldenmechanik liefert hierzu eine instruktive Erklärung.

Weiter heißt es im DIW-Bericht:

"Gleichzeitig ist die gesamtwirtschaftliche Sparquote in Deutschland im internationalen Vergleich mit am höchsten. Wie sich an den enormen Leistungsbilanzüberschüssen von bis zu sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts ablesen lässt, floss das Ersparte jedoch zu großen Teilen ins Ausland, anstatt in Deutschland investiert zu werden. Insgesamt hat Deutschland damit erhebliche Wachstumschancen verpasst. Seit 1999 haben deutsche Investoren rund 400 Milliarden Euro auf ihr Auslandsvermögen verloren, was etwa 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entspricht. Allein im Zeitraum 2006 bis 2012 waren es sogar 600 Milliarden Euro beziehungsweise 22 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.(10)" (S. 6) Mir scheint, dass diese Größenordnung einen unverzeihlichen potentiellen Aderlass für die deutsche Wirtschaft darstellt.

Ferner heißt es zu den mittelbaren Ursachen im DIW-Bericht:
"Im vergangenen Jahrzehnt war das Potentialwachstum der deutschen Wirtschaft niedrig und schwächer als in anderen entwickelten Volkswirtschaften (Abbildung 16). Für die Entwicklung des Wachstumspotentials spielt die Höhe der Totalen Faktorproduktivität (TFP) eine entscheidende Rolle, also jener Teil des Wirtschaftswachstums, der nicht auf die Einsatzfaktoren Arbeit und Kapital zurückzuführen ist, sondern auf technologischen Fortschritt und Ressourcenverwertung. Auch das Wachstum der TFP ist in Deutschland seit 1999 rückläufig." (S. 13)

Auch in den Veröffentlichungen der Memorandum-Gruppe wird darauf verwiesen, dass eine Änderung der Rahmenbedingungen für die deutsche Wirtschafts- und Finanzpolitik zwecks energischer Förderung der Investitionen und des Potenzialwachstums geboten ist. (Vergleiche dazu u.a. "Memorandum 2012", S. 66 ff.)


2. Investitionsdefizite der Endphase der DDR

Kaum öffentlich bekannt ist, dass die DDR in ihrer Endphase ab 1982 nicht nur verringertes Wachstum bei den Bruttoinvestitionen hinnehmen musste, sondern auch hohe Exportüberschüsse leistete. Beide bedingten einander auch weitgehend.

Nach den Forschungsergebnissen von Gerhard Heske [2] stiegen die gesamten Bruttoinvestitionen von 1982 zu 1989 von 37,0 Mrd. Euro (Preisbasis 1995) auf 47,1. Mrd. Euro; bei rechnerischer Einbeziehung des Außenwirtschaftsbeitrags stieg die summarische Leistung jedoch von 39,7 Mrd. Euro auf 53,0 Mrd. Euro.

Letzterer Anstieg auf 133,5 % gegenüber 1982 spiegelt die Zwangslage der DDR-Wirtschaftsleistung unter den Bedingungen des West- und Ostaußenhandels in der Endphase der DDR: der Exportüberschuss erreichte 1982 bis 1989 die Gesamthöhe von 49,9 Mrd. Euro (Preisbasis 1995) oder fast 100 Mrd. D-Mark. (Heske, S. 230)

Hierbei ist jedoch auch zu beachten, dass die Netto-Investitionsquote im produzierenden Bereich der DDR zwischen 1980 und 1985 von 12,4 % auf 8,1 % zurückging, um erst danach wieder bis 1989 auf 10,1 % zu steigen - vor allem infolge der zeitweilig hohen Tilgungen von West-Devisenkrediten durch Exportüberschüsse in dieser Periode.[3]

Allerdings gelang es der DDR bis zuletzt nicht, das verheerende "Erbe" der ersten 15 Nachkriegsjahre (1945-1960) in der hohen "Unterreproduktion" ihrer Kapitalanlagen zu überwinden. "1989 sind 21 Prozent der Ausrüstungen der DDR-Industrie älter als 20 Jahre gewesen, dagegen in der BRD nur sechs Prozent." (vergl. hierzu Fußnote [4])

Der Verschleißanteil des gesamten Kapitalstocks der DDR betrug zuletzt ca. 46 Prozent, bei den Ausrüstungen sogar 55 Prozent der buchmäßigen Brutto-Werte. Der Rückstand gegenüber internationalen Referenzwerten erreichte 10 % und betrug allein bei den Ausrüstungen ca. 125 % der letzten Jahresinvestitionen in die Ausrüstungen der DDR.[5]

Besonders ungünstig war die Lage im Straßenbau der DDR: Hier sank der Anteil an den "Investitionen des nichtproduzierenden Bereiches" von 6,0 % auf nur 2,4 % zwischen 1976/80 und 1986/88, also in der Endphase der DDR.[6] "18 % des Straßennetzes, das sind 22.000 Kilometer, haben die Zustandsstufe IV, womit sie in die Kategorie 'kaum noch befahrbar' eingestuft sind."[7]

Im Streckennetz der Deutschen Reichsbahn gab es 1180 Langsamfahrstellen mit über 1700 km Länge. "Bei 3660 Brücken war die Tragfähigkeit verringert, und auf 224 Brücken musste die Geschwindigkeit eingeschränkt werden."[8]

Damit ist erkennbar, dass die DDR ab 1982 ihre hohen, politisch erzwungenen Exportüberschüsse nur mit einer fortschreitenden Politik der Unterlassung notwendiger Instandhaltungen und üblicher Ersatzinvestitionen im Industriesektor sowie im Verkehrswesen erreichen konnte.


3. Fazit

Die vorstehende Vergleichsbetrachtung zeigt, dass bei einer mehrjährigen Forcierung des Exportüberschusses zu Lasten der Binnenwirtschaft eine zwangsläufige "Unterreproduktion" der Kapitalanlagen infolge von Investitionsverknappungen auftritt, die sich letztlich fatal auf die Leistungsfähigkeit einer Wirtschaft auswirken müssen. Die Lehren des Niedergangs der DDR-Wirtschaft sind eine Warnung, die - trotz der systemischen Unterschiede zur heutigen BRD - von der Politik nicht ignoriert werden sollte. Dabei ist unübersehbar, dass die gegenwärtige Lage der BRD hinsichtlich der Mobilisierung der Reserven für das Wirtschaftswachstum über alle notwendigen inneren Chancen verfügt, sobald man von der Beschränktheit der neoliberalen Wirtschaftspolitik abrückt.


Anmerkungen:

[1] DIW-Wochenbericht 13-26, Arttikel-2 und 13-26, Artikel-6

[2] Gerhard Heske, "Bruttoinlandsprodukt, Verbrauch und Erwerbstätigkeit in Ostdeutschland 1970 - 2000", Zentrum für Historische Sozialforschung, Köln 2005, Beiheft Nr. 17

[3] "Die wirtschaftliche und ökologische Situation der DDR in den achtziger Jahren", Leske und Budrich, 1996, S. 11; Buchreihe "Am Ende des realen Sozialismus", Bd. 2

[4] Kusch u.a. , "Schlussbilanz - DDR", Duncker & Humblot, Berlin 1991, S. 56, Grafik

[5] Kusch u.a., S. 55

[6] Kusch u.a., S. 32

[7] Kusch u.a., S. 61

[8] Kusch u.a., S. 61

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Quelle:
© 2013 by Karl Mai
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Juli 2013