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MEINUNG/065: Der Preis der Exportprofite (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 2. März 2018
german-foreign-policy.com

Der Preis der Exportprofite


BERLIN - Eine neue Untersuchung über den Mindestlohn in Deutschland und die jüngsten Tarifabschlüsse in der Metallindustrie legen den Schluss nahe: Die deutschen Eliten setzen weiterhin auf Sozialdumping und lohnpolitische Zurückhaltung, um die Profite der deutschen Industrie mittels anhaltend exzessiver Exporte zu maximieren. Diese Strategie geht einerseits zu Lasten anderer Staaten der Eurozone, die immer stärker durch sozioökonomische Ungleichgewichte geprägt ist. Andererseits führt sie zu einer massiven sozialen Spaltung in der Bundesrepublik. So ist in Deutschland nicht nur der Mindestlohn in Relation zum Durchschnittseinkommen viel niedriger als in anderen EU-Staaten und sinkt seit seiner Einführung im Jahr 2015 real. Wegen des Abbaus des Sozialstaates ist in der Bundesrepublik auch das Risiko, bei Arbeitsplatzverlust in dauerhafter Armut zu versinken, höher als in jedem anderen Land der Union. Die Bundesregierung setzt ihre Politik der Exportförderung per Sozialdumping schon seit Jahren gegen teils heftige Kritik aus dem Ausland durch.

Schlusslicht beim Mindestlohn

Deutschlands Funktionseliten sind weiterhin nicht gewillt, ihre Politik des Sozialdumpings aufzugeben, die mittels innerer Abwertung maßgeblich zum anhaltenden deutschen Exportboom und zur Ausbildung der extremen Ungleichgewichte in den Handelsbilanzen der Eurozone beigetragen hat. Dies belegt der jüngst publizierte Mindestlohnbericht der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, der Deutschland als eines der Schlusslichter in der EU bei der Entwicklung der Mindestlöhne benennt. Demnach sind die gesetzlich vorgeschriebenen Mindestvergütungen im vergangenen Jahr im EU-Durchschnitt um 4,4 Prozent gestiegen; im Vorjahr waren es bereits rund fünf Prozent. In drei EU-Staaten sind sie hingegen nicht erhöht worden: in Luxemburg, Griechenland und Deutschland.[1] Aufgrund der anziehenden Inflation in der Eurozone hätten die Mindestlohnbezieher dort de facto sogar Lohneinbußen hinnehmen müssen, schreibt die Stiftung. Der Mindestlohn von 8,84 Euro in Deutschland, einem der produktivsten Länder der Eurozone, bleibe "hinter anderen EU-Staaten zurück", konstatieren Beobachter.[2] Inzwischen übertreffe der Mindestlohn nicht nur in Luxemburg mit 11,55 Euro sein deutsches Äquivalent, sondern auch in Frankreich (9,88 Euro), den Niederlanden (9,68 Euro), Irland (9,55 Euro) und Belgien (9,47 Euro). Der deutsche Mindestlohn ist zudem in Relation zur durchschnittlichen Arbeitsvergütung im europäischen Vergleich relativ niedrig: Er beträgt gerade einmal 47 Prozent des Medianlohnes in der Bundesrepublik.[3] In Frankreich sind es hingegen rund 60 Prozent, in Portugal und Slowenien 58 Prozent.

Gewerkschaftliche Lohnzurückhaltung

Ein entschiedenes Eintreten für eine deutliche Anhebung des deutschen Lohnniveaus ist auch von den deutschen Gewerkschaften nicht zu erwarten: Sie verfolgten jahrelang eine inoffizielle Politik der Lohnzurückhaltung, mit der die Exportfixierung der deutschen Industrie flankiert wurde. Auch der aktuelle Abschluss der Tarifverhandlungen in der deutschen Metallindustrie, ausgehandelt von der IG Metall in Baden-Württemberg, bringt letztendlich keine nennenswerten Reallohnsteigerungen für die 3,9 Millionen Beschäftigten in der exportorientierten Branche. Er sieht zwar einen Lohnanstieg von 4,3 Prozent in diesem Jahr vor, doch hat der Abschluss eine sehr lange Gesamtlaufzeit von 27 Monaten.[4] Damit bleibt sogar fraglich, ob er die wieder stärker anziehende Inflation in dem langen Zeitraum von mehr als zwei Jahren überhaupt ausgleichen wird. Hinzu kommen eine Erhöhung des Urlaubsgeldes und ein Pauschalbetrag von 400,- Euro.

Beggar Thy Neighbor

Damit scheint eine echte Belebung der deutschen Binnennachfrage, mit der die extremen deutschen Handelsüberschüsse gesenkt werden könnten, in weite Ferne zu rücken. Durch extreme Handelsüberschüsse von bis zu sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), die bis zum Ausbruch der Eurokrise vornehmlich gegenüber anderen Staaten der Eurozone verzeichnet wurden, konnte Deutschland im Rahmen einer klassischen Beggar-Thy-Neighbor-Politik massiven Schuldenexport betreiben und die Deindustrialisierung der Konkurrenz im Euroraum forcieren - denn die Einheitswährung machte es unmöglich, mit Währungsabwertungen auf die deutschen Exportoffensiven zu reagieren. Seit dem Beginn der Eurokrise haben zahlreiche EU-Staaten Berlin wiederholt aufgefordert, das deutsche Lohnniveau anzuheben und mittels stärkerer öffentlicher Investitionstätigkeit die Ungleichgewichte in den Handels- und Leistungsbilanzen zu mildern. Französische Politiker bezeichneten die deutschen Exportüberschüsse, die auch auf zu geringe Lohnerhöhungen zurückgeführt wurden, noch vor wenigen Jahren mitunter als "unhaltbar".[5]

Großgehungert

Empirisch evident zeigt sich diese mit der rot-grünen Agenda 2010 in Reaktion auf die Einführung des Euro eingeschlagene deutsche Strategie, sich mittels Lohn- und Sozialdumping auf Kosten der europäischen Konkurrenz "großzuhungern", in der langfristigen Entwicklung der Lohnstückkosten, also des Anteils der Löhne an den Kosten einer Ware.[6] Zwischen der Euroeinführung und dem Ausbruch der Eurokrise im Jahr 2008 stagnierten die Lohnstückkosten in der Bundesrepublik dank Agenda 2010 und Harz IV, während sie im Eurozonen-Durchschnitt um rund 20 Prozent zulegten. Selbst nach Beginn der Krise und der langjährigen Austeritätspolitik in vielen EU-Krisenländern, die zu einem massiven Einbruch der dortigen Lohnniveaus führte, stellt die Bundesrepublik bei den Lohnstückkosten eines der europäischen Schlusslichter dar: Diese sind in Deutschland seit der Einführung des Euro um 17 Prozent gestiegen, im EU-Durchschnitt hingegen um 28 Prozent - trotz des austeritätsbedingten Einbruchs ab 2009.

"Bewusste politische Entscheidungen"

Dem entspricht, dass die Sozialstruktur des langjährigen "Exportweltmeisters" Deutschland durch eine massive Spaltung zwischen Arm und Reich und ein sehr hohes Armutsrisiko geprägt ist. So ist beispielsweise das Risiko, aufgrund eines Arbeitsplatzverlustes dauerhaft in Armut zu versinken, hierzulande europaweit am höchsten. Es beträgt laut jüngsten Zahlen der Europäischen Union rund 70 Prozent, womit die Bundesrepublik weit vor osteuropäischen Länder wie Litauen (60 Prozent) und Lettland (55 Prozent) lag. Relativ am geringsten ist das Armutsrisiko bei Arbeitslosigkeit - mit weniger als 40 Prozent - hingegen in Frankreich und Finnland.[7] Das hohe Armutsrisiko sei eine unmittelbare Folge des Abbaus des deutschen Sozialstaats und der Hartz-IV Reformen, mit denen Lohnabhängige de facto zur Annahme schlecht bezahlter Arbeit "gezwungen" worden seien, urteilen Kritiker. Bei den erwähnten Maßnahmen habe es sich um "bewusste politische Entscheidungen" der damaligen rot-grünen Koalition gehandelt.

Massive soziale Spaltung

Inzwischen hat die soziale Spaltung in der Bundesrepublik Ausmaße erreicht, die denjenigen in den Vereinten Staaten ähneln. So verfügt das reichste Zehntel der deutschen Gesellschaft über mehr als die Hälfte des gesamten Nettovermögens, während die untere Hälfte der Einkommenspyramide so gut wie mittellos ist - die unteren 50 Prozent verfügen nur über ein Prozent des Gesamtvermögens.[8] Die Bezieher niedriger Einkommen verdienten im Jahr 2015 real weniger als Mitte der 1990er Jahre. Zugleich weist die deutsche Sozialstruktur immer höhere Schranken gegenüber sozialer Mobilität auf, die an eine Ständegesellschaft erinnern: So haben rund zwei Drittel der vermögenden Bundesbürger ihren Reichtum nicht "erarbeitet", sondern geerbt; zugleich sind die Einkommens- und Bildungschancen in der Bundesrepublik in sehr hohem Ausmaß von der sozialen Herkunft abhängig - rund 70 Prozent der Kinder von Akademikern können in Deutschland die Universität besuchen, bei Arbeiterkindern sind es nur 20 Prozent.[9] Unter den Industriestaaten ist dieser Zusammenhang nur noch in den USA ähnlich stark ausgeprägt. Zusätzlich hat der Rückzug des deutschen Staates aus dem sozialen Wohnungsbau - in Wechselwirkung mit dem Immobilienboom der vergangenen Jahre - zu einem massiven Anstieg der Obdachlosigkeit geführt: Inzwischen sind rund 860.000 Menschen in der Bundesrepublik ohne Wohnung. Die Anzahl der Obdachlosen in Deutschland ist seit 2014 um 150 Prozent regelrecht explodiert.[10]


Anmerkungen:

[1] Dominik Reintjes: Europas Mindestlöhne steigen - der deutsche nicht. spiegel.de 28.02.2018.

[2] Mindestlohn in Deutschland bleibt hinter anderen EU-Staaten zurück. zeit.de 28.02.2018.

[3] David Zajonz: Mindestlohn - noch Luft nach oben? tagesschau.de 28.02.2018.

[4] Leopold Stefan: Deutsche Metaller setzten Lohnspirale in Gang. derstandard.de 06.02.2018.

[5] Rainer Hank: Druck auf den Musterschüler Deutschland. faz.net 20.03.2010.

[6] Till van Treeck: Löhne und Lohnstückkosten im Euroraum. bpb.de 09.06.2017.

[7] Ben Knight: Unemployed in Germany have greatest risk of poverty in the EU. dw.com 27.02.2018.

[8] Regierung warnt vor Folgen einer sozialen Spaltung in Deutschland. stern.de 23.03.2017.

[9] Marcel Fratzscher: Sozialer Sprengstoff. zeit.de 29.09.2017.

[10] Germany: 150 percent rise in number of homeless since 2014. dw.com 14.11.2017.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. März 2018

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