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INTERNATIONAL/073: Mexiko - Streit über Menschenrechtsprozesse an Militärgerichten, Reform in Sicht (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 17. August 2012

Mexiko: Streit über Menschenrechtsprozesse an Militärgerichten - Reform in Sicht

von Carol L. Biron


Verwandte von 'Verschwundenen' bei einer Kundgebung in Mexiko-Stadt - Bild: © Daniela Pastrana/IPS

Verwandte von 'Verschwundenen' bei einer Kundgebung in Mexiko-Stadt
Bild: © Daniela Pastrana/IPS

Washington, 17. August (IPS) - Nach zwei bahnbrechenden Urteilen des Obersten Gerichtshofs Mexikos rechnen Aktivisten damit, dass den Militärgerichten des lateinamerikanischen Landes bald die Zuständigkeit für Prozesse wegen Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit dem Anti-Drogenkampf entzogen wird.

In den vergangenen Tagen hat der Oberste Gerichtshof wichtige Entscheidungen getroffen. Er ordnete an, Fälle mutmaßlicher Menschenrechtsverstöße durch die Streitkräfte an normale Gerichte zu verweisen. "Das ist ein Durchbruch. Eine Reform ist somit wahrscheinlicher als noch vor zwei oder drei Monaten", meinte Alejandro Anaya, der das Zentrum für Wirtschaftsforschung und -lehre im mexikanischen Aguacalientes leitet."

Nach mexikanischem Recht muss das oberste Gericht in fünf vergleichbaren Fällen entschieden haben, bevor ein Präzedenzfall geschaffen ist. Regierung und Staat könnten sich nicht gegen die Menschenrechte stellen, sagte der Richter Arturo Zaldívar Lelo de Larrea dem US-Fernsehsender CNN.

Das Tribunal hatte Staatspräsident Felipe Calderon bereits Mitte vergangenen Jahres die Zusage abgerungen, alle anhängigen Fälle mutmaßlicher Übergriffe des Militärs gegen Zivilisten an zivile Gerichte zu verweisen. Tatsächlich ist aber noch nichts in diese Richtung geschehen.

Zurzeit sind am Obersten Gericht rund 30 Verfahren bezüglich der Zuständigkeit von Militärgerichten in Menschenrechtsverfahren anhängig. Beobachter wie Santiago A. Canton, ehemals Exekutivsekretär der Interamerikanischen Menschenrechtskommission und inzwischen Direktor der Organisation 'RFK Partners for Human Rights', sind zuversichtlich, dass in Kürze ein juristischer Präzedenzfall geschaffen sein wird.


Anti-Drogenkampf hat Menschenrechtslage verschärft

Die Menschenrechtsverfahren vor Militärgerichten empöre] Aktivisten im In- und Ausland seit mehreren Jahren. 2006 erklärte Präsident Felipe Calderón den Kampf gegen Drogenkartelle und andere kriminelle Banden zu einer der dringlichsten Aufgaben seiner Regierung. Er entsandte dazu zehntausende Soldaten in alle Landesteile.

Zahlreiche Menschen wurden bei Gefechten zwischen Regierungstruppen und Drogenkartellen getötet. Wie viele unbeteiligte Zivilisten im Kreuzfeuer starben, steht nicht fest. Nach Angaben von 'Human Rights Watch' schnellte die allgemeine Mordrate in Mexiko zwischen 2007 und 2010 um 260 Prozent in die Höhe, während sie in den beiden vorangegangenen Jahrzehnten zurückgegangen war.

Die unabhängige Gruppe 'Karawane für Frieden mit Gerechtigkeit und Würde', die derzeit unter Führung des Lyrikers Javier Sicilia durch die USA zieht, beziffert die Zahl der Mordopfer seit 2006 mit rund 60.000. Außerdem seien etwa 10.000 Menschen verschleppt worden.

Die mexikanische Menschenrechtskommission hat dokumentiert, dass sich die Zahl der Beschwerden gegen das Militär und die Bundespolizei seit 2006 verfünffacht hat. Die Streitkräfte bestanden jedoch bisher darauf, diese Fälle allein zu untersuchen und die Urheber zur Rechenschaft zu ziehen.

Wie Canton erklärt, hat die Machtstellung der Militärgerichte in dem Land eine lange Tradition. Bereits die spanische Monarchie habe damit im 18. Jahrhundert ihre Armee vor den rechtlichen Folgen auswärtiger Kriege schützen wollen, schrieb er in einem am 15. August publizierten Artikel.

"Während des gesamten 20. Jahrhunderts wurde die Militärgerichtsbarkeit durch die enorme Macht der Streitkräfte in Lateinamerika gestärkt. Sie wurde dazu genutzt, Straffreiheit bei Menschenrechtsverletzungen zu garantieren. Die Demokratisierung der Militärjustiz gehört zu den Reformen, die auf die größten Hindernisse gestoßen sind."

Einer der Gründe dafür mag sein, dass die mexikanischen Militärrichter sich auf die Diskretion des Verteidigungsministeriums verlassen können. Nach fast 5.000 Untersuchungen von Menschenrechtsverbrechen der Jahre 2007 und April 2012, die dem Militär angelastet werden, wurden dem Verteidigungsministerium zufolge nur 38 Militärangehörige verurteilt.


Verbreitete Straffreiheit

Die mexikanische Menschenrechtskommission stellte außerdem kürzlich fest, dass aufgrund von Anschuldigungen, die zwischen 2010 und 2011 erhoben wurden, bisher kein einziger Polizist oder Militärangehöriger zur Verantwortung gezogen worden ist. Dies deutet auf ein hohes Maß an Straffreiheit hin. Aktivisten sind davon überzeugt, dass dies die ausufernde Gewalt weiter gesteigert hat.

Nach Ansicht von Maureen Meyer vom unabhängigen 'Washington Office on Latin America' dient das organisierte Verbrechen in Mexiko der Regierung als Vorwand, um Menschenrechtsfällen, die mit der Drogenbekämpfung im Zusammenhang stehen, nicht näher nachzugehen. "Etwa 95 Prozent aller Mordfälle werden nicht gründlich untersucht. Deshalb steht nicht fest, wer daran beteiligt oder dafür verantwortlich gewesen ist."

Präsident Calderón hat in den vergangenen Jahren mehrfach bekräftigt, dass der Staat 90 Prozent der seit 2006 getöteten Personen als "Kriminelle" betrachte. Nachdem im Juli Enrique Peña Nieto die Präsidentschaftswahlen gewonnen hat, hoffen Menschenrechtler auf einen politischen Wandel. (Ende/IPS/ck/2012)


Links:

http://rfkcenter.org/human-rights
http://www.hrw.org/americas/mexico
http://www.caravanforpeace.org/caravan/
http://www.ipsnews.net/2012/08/mexico-may-be-on-verge-of-rolling-back-military-jurisdiction/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 17. August 2012
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. August 2012