Schattenblick →INFOPOOL →RECHT → FAKTEN

INTERNATIONAL/106: Guatemala - Aufhebung des Völkermordurteils gegen Ríos Montt, Zeugen in Angst (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 13. Juni 2013

Guatemala: Viele Völkermordzeugen wollen kein zweites Mal aussagen - Empörung und Angst vor Einschüchterungsversuchen

von Louisa Reynolds


Bild: © Danilo Valladares/IPS

Ex-General Efraín Ríos Montt (links) steht ein neuer Prozess bevor
Bild: © Danilo Valladares/IPS

Guatemala-Stadt, 10. Juni (IPS) - In Santa María Nebaj regieren Angst und Misstrauen. Die Einwohner der indigenen Gemeinde im Nordwesten Guatemalas befürchten, zur Zielscheibe massiver Einschüchterungsversuche zu werden. Auf diese Weise sollen sie davon abgehalten werden, in einem weiteren Verfahren gegen Ex-Diktator Efraín Ríos Montt auszusagen.

Die Furcht hat die Ixil-Indigenen neuerlich im Griff, seitdem sie wissen, dass sie die Schilderungen ihrer traumatischen Erlebnisse in einem weiteren Verfahren wiederholen müssen, nachdem das Verfassungsgericht des zentralamerikanischen Landes das Völkermordurteil gegen Ríos Montt aufgehoben hat. Dass der Ex-Diktator den Gerichtsaal am 20. Mai als freier Mann verlassen konnte, verdankt er vor allem den juristischen Winkelzügen seiner Anwälte.

Die Verteidigung hatte im Verlauf der Verhandlung immer wieder Einsprüche wegen angeblicher Verfahrensfehler geltend gemacht. Das Verfassungsgericht kam zu dem Schluss, dass das Verfahren erst dann fortgesetzt werden könne, wenn die Einsprüche und Anträge der Verteidigung geklärt seien. Da das zuständige Gericht mit Fällen im Rückstand ist, kann das Verfahren gegen Ríos Montt frühestens im April 2014 fortgesetzt werden.

Dabei war Ríos Montt zehn Tage zuvor für schuldig befunden worden, während seiner kurzen aber besonders brutalen Amtszeit von 1982 bis 1983 als damaliger Staatschef und Oberkommandierender der Streitkräfte für die Ermordung von mindestens 1.771 Ixil verantwortlich gewesen zu sein. Die Richter verurteilten ihn zu 80 Jahren Gefängnis.

Dem Richterspruch zufolge hatte Ríos Montt von März 1982 und August 1983 die absolute Macht in Guatemala inne und somit Kenntnis von den schweren Verbrechen. Er habe jedoch nichts dagegen unternommen, obwohl er die Macht dazu gehabt hätte. Das Urteil gegen Ríos Montt galt als historisch, nicht nur innerhalb Guatemalas, sondern auch in anderen lateinamerikanischen Ländern und anderen Teilen der Welt. Zum ersten Mal war ein Staatschef wegen Völkermord von der Justiz verurteilt worden.

Doch am 20. Mai setzten die Verfassungsrichter das Verfahren auf den Stand vom 19. April zurück. Nach Ansicht der Anwälte des Zentrums für rechtliche Aktivitäten zugunsten der Menschenrechte (CALDH), einer der Gruppen, die Ríos Montt verklagt hatten, bedeutet dies, dass alle 98 Indigene in einem weiteren Prozess gegen Ríos Montt ihre Aussagen wiederholen müssten.


Jahrzehntelange Bemühungen zerstört

Es sei ein äußerst langwieriger Prozess gewesen, die Überlebenden des Völkermordes mit der Hilfe von Psychologen soweit zu stabilisieren, dass sie sich bereit erklärt hätten, mit ihren traumatischen Erinnerungen vor Gericht zu ziehen, meinte der CALDH-Sprecher José Rodríguez im IPS-Gespräch. Doch das Urteil des Verfassungsgerichts vom 20. Mai habe nun dafür gesorgt, dass die Betroffenen ihr Vertrauen in das guatemaltekische Rechtssystem verloren hätten. Die Hälfte aller Ixil, die vor Gericht gegen Ríos Montt ausgesagt hätten, habe bereits mitgeteilt, kein zweites Mal dazu bereit zu sein.

"Die Opfer haben erklärt, sich nicht wie Spielfiguren hin und her schieben zu lassen", berichtete Rodríguez. "Sie hatten dem Rechtssystem unseres Landes vertraut, doch nun fühlen sie sich von ihm im Stich gelassen. Und sie haben Angst."


Fragwürdige Besucher

Aus gutem Grund. Nur wenige Tage, nachdem 98 Ixil-Überlebende vor dem sogenannten Hauptgericht A für Risikofälle die Massenvergewaltigungen an Mädchen und Frauen, Folterungen und Massenmorde bezeugt hatten, tauchten etliche Personen in dem Indigenen-Dorf auf, die sich als Mitarbeiter der staatlichen Agentur für ländliche Entwicklung vorstellten und erklärten, eine Umfrage durchzuführen.

Doch die Besucher weckten Misstrauen, zumal sie ausschließlich bei den Teilnehmern der Verhandlung gegen Ríos Montt vorstellig wurden. Außerdem waren sie im Besitz von Informationen wie Namen und Personalausweisnummern.

Die Indigenen wandten sich daraufhin an das lokale CALDH-Büro, das herausfand, dass es keine solche Agrarentwicklungsagentur gibt. Es reichte daraufhin beim Strafverfolgungsdienst und beim Büro des Ombudsmanns für Menschenrechte Beschwerde ein und forderte Sicherheitsgarantien für die Völkermordzeugen und -überlebenden.

Während der ersten Verhandlung waren die Opfer trotz der Angst um ihre Sicherheit fest entschlossen gewesen, für Gerechtigkeit zu kämpfen. "Seit ich den Kampf aufgenommen haben, fürchte ich mich nicht. Ich weiß, was ich sage. Wir brauchen ein wirkliches Urteil", sagte der Ixil-Führer Antonio Caba am 12. April, zwei Tage nach seiner Aussage vor Gericht über die Massaker und Folterungen, denen er als Elfjhriger zusehen musste.

Einem Bericht der UN-geförderten Historischen Aufklärungskommission (CEH) von 1999 zufolge haben Armee und paramilitärische Milizen, die als Selbstverteidigungspatrouillen bekannt waren, 334 Massaker begangen und 19.000 Menschen ermordet beziehungsweise verschwinden lassen. Sie zerstörten zudem 600 Dörfer und trieben eine Million Menschen in die Flucht.

Der 36-jährige Bürgerkrieg habe 250.000 Menschenleben vor allem in den indigenen Gemeinden gekostet, so die CEH, die die Menschenrechtsverbrechen des schmutzigen Kriegs nach dem Friedensabkommen zwischen Armee und Rebellen der Nationalen Revolutionären Einheit Guatemalas (URNG) aufarbeiten sollte.

"Seit dem Beginn der Verhandlung hat die Verteidigung versucht, das Verfahren durch Einsprüche und Anträge zu stören und am Ende ist es ihr sogar gelungen", meinte Ramon Ramón Cadena, der Leiter der Zentralamerika-Abteilung der Internationalen Juristenkommission (ICJ). "Wir hatten es hier mit einem heimtückischen Rechtsfall zu tun, der mit einem Urteil zu Ende ging, das zu mehr Straflosigkeit führen wird."

Cadena glaubt nicht, dass es zu einer erneuten Verurteilung von Ríos Montt kommen wird. "Auch wenn die Richter inzwischen unabhängiger geworden sind, gibt es Wirtschaftsinteressen, die nicht zulassen werden, dass die Mächtigen verurteilt werden", sagte er gegenüber IPS. (Ende/IPS/kb/2013)


Links:

http://www.ipsnews.net/2013/06/survivors-reluctant-to-testify-in-new-genocide-trial/
http://www.ipsnoticias.net/2013/06/victimas-dudan-en-volver-a-declarar-en-nuevo-juicio-a-rios-montt/

© IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH

*

Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 13. Juni 2013
IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 / 54 81 45 31, Fax: 030 / 54 82 26 25
E-Mail: contact@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Juni 2013