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INTERNATIONAL/141: Harte Zeiten für Rule of Law (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 146/Dezember 2014
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Harte Zeiten für Rule of Law
Die Krise des globalen Konstitutionalismus

von Mattias Kumm


Kurz gefasst: Die Entwicklung der globalen Rechtsordnung nach dem Ende des Kalten Kriegs vollzog sich unter der Vorherrschaft der Idee eines "liberal peace". Friede, Gerechtigkeit und Prosperität sollten durch eine globale Rechtsgemeinschaft gewährleistet werden: Eine immer größer werdende Gemeinschaft liberal-demokratischer Verfassungsstaaten sollte sich in eine globale relative freie Wirtschaftsordnung integrieren. Fragen der rechtlichen Infrastruktur für die Einhaltung und Durchsetzung des Gewaltverbots und für die Gewährleistung kollektiver Sicherheit gerieten aber in den Hintergrund. Das rächt sich heute und stellt nicht nur die Außenpolitik, sondern auch die Rechtswissenschaft vor schwere Herausforderungen.

Die Entwicklung der globalen Rechtsordnung nach dem Ende des Kalten Kriegs vollzog sich unter der Vorherrschaft der Idee eines "liberal peace". Die Europäische Gemeinschaft war das Modell: Friede, Gerechtigkeit und Prosperität sollte durch eine globale Rechtsgemeinschaft gewährleistet werden, in der eine immer größer werdende Gemeinschaft liberal-demokratischer Verfassungsstaaten sich in eine globale relative freie Wirtschaftsordnung integrieren sollte. So lassen sich drei wesentliche Strukturmerkmale der vielschichtigen Entwicklungen des Internationalen Rechts nach 1989 erklären und die Krise der Gegenwart besser verstehen.

Erstens verpflichtet das Internationale Recht heute Staaten im Kern darauf, liberal-demokratische Verfassungsstaaten zu sein. Die interne Verfassung souveräner Staaten ist in hohem Maße Regelungsgegenstand des Internationalen Rechts geworden und in immer geringerem Maße die ausschließliche Angelegenheit des betroffenen Staats selbst. Auf europäischer Ebene wurde das Gebot liberal-demokratischer Verfassungsstaatlichkeit im Kern in den 1993 formulierten Kopenhagen Kriterien normiert, die die Aufnahmebedingungen der EU definierten, die seitdem von 12 auf heute 28 Mitgliedstaaten gewachsen ist. Heute findet sich dieses rechtliche Postulat auch in Artikel 2 des EU-Vertrags, der die Grundwerte der Europäischen Union auflistet. Jenseits der EU bringt der Europarat, der heute 47 europäische Staaten vereinigt, und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, der die Europäische Menschenrechtskonvention interpretiert, ein ähnliches Rechtsverständnis zum Ausdruck.

Auf globaler Ebene werden die Verpflichtungen, die sich aus der UN-Charta in Verbindung mit den UN-Menschenrechtserklärungen und Menschenrechtskonventionen ergeben, in Resolutionen der UN-Generalversammlung, des UN-Menschenrechtsrats oder in Berichten des 1993 neu etablierten Hohen Kommissars für Menschenrechte in ähnlicher Richtung interpretiert. Flankierend dazu kommt noch die allgemeine Konsolidierung und Vertiefung des Menschenrechtsschutzes durch Ausbau des Gerichtsschutzes auf regionaler Ebene und auch - konzeptionell und dogmatisch innovativ - die Anerkennung der Schutzverantwortung der internationalen Gemeinschaft: die Responsibility to Protect oder auch R2P (siehe auch Wolfgang Merkels Beitrag, S. 19-21).

Betrachtet man diese Entwicklungen, dann hat der vielgescholtene Francis Fukuyama mit seiner 1990 aufgestellten These vom "Ende der Geschichte" Recht: Was das Internationale Recht betrifft, ist der ideologische System- und Ordnungskampf vorbei. Der liberal-demokratische Verfassungsstaat ist das alleinige und allgemeinverbindliche Modell für die Ausübung kollektiver Selbstbestimmung im Rahmen souveräner Staatlichkeit. Das internationale Recht kollektiver Selbstbestimmung eines souveränen Staatsvolks bezieht sich insoweit lediglich auf die normkonkretisierende Ausgestaltung liberal-demokratischer Verfassungsstaatlichkeit.

Zweitens sind Staaten weitgehend in eine rechtlich konstituierte übernationalmarktorientierte Wirtschaftsordnung eingebettet. Wenn im Kern das liberaldemokratische Modell sich im Kalten Krieg als erfolgreich erwiesen hatte, dann nicht nur deshalb, weil es in seinen menschenrechtlichen Grundwerten überlegen war, sondern auch weil es den Bürgern Wohlstand versprach, der sich dank marktwirtschaftlicher Mechanismen und transnationaler wirtschaftlicher Integration erwirtschaften ließ. Im Kern hieß Globalisierung, die Segnungen einer freiheitlich-marktwirtschaftlichen Ordnung zu universalisieren. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft wurde erst zur Europäischen Gemeinschaft und dann zur Europäischen Union vertieft und erweitert. Das GATT-System (General Agreement on Tariffs and Trade) wurde zu einer Welthandelsorganisation ausgebaut, die immer weitere Bereiche erfasst und zudem verbindliche Streitschlichtungsmechanismen zur Verfügung stellt, die Rule of Law gewährleisten.

Der Schutz auch geistigen Eigentums wird ausgeweitet und verstärkt. Zudem fand durch eine wahre Flut bilateraler Investitionsschutzverträge eine systematische Stärkung des Investitionsschutzes statt, der Investoren typischerweise ermächtigt, im Konfliktfall auch ohne Ausschöpfung nationaler Rechtsmittel gegen Staaten in die Streitschlichtung zu gehen. Marktbezogene Koordination und Kooperationsprobleme werden durch eine Vielzahl von Organisationen und Governance-Strukturen gemanagt, von der Bankenregelung durch das Baseler Komitee, Regelungsvereinheitlichung durch Organisationen wie die Internationale Organisation für Normung (ISO) oder Kreditspritzen gegen verordnete Strukturreformen durch den Internationalen Währungsfonds (IWF).

Im scharfen Gegensatz zu der Dynamik dieser Entwicklungen hat sich die rechtliche Infrastruktur internationaler Sicherheitspolitik nach 1990, ganz anders als nach den massiven Umbrüchen nach dem Zweiten Weltkrieg, nur sehr begrenzt gewandelt. Die Beschäftigung mit der rechtlichen Infrastruktur, die die Einhaltung und Durchsetzung des Gewaltverbots in internationalen Beziehungen sicherstellen und kollektive Sicherheit gewährleisten soll, ist gewissermaßen das vernachlässigte Stiefkind des sich nach 1990 durchsetzenden globalen Konstitutionalismus. Das lag nicht nur an der militärisch hegemonialen Stellung der USA nach 1990. Eine solche Stellung nahmen die USA auch schon 1945 ein und unternahmen dann doch mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs massive Anstrengungen, eine rechtlich strukturierte Ordnung kollektiver Sicherheit durch Gründung der Vereinten Nationen zu schaffen. Ein Grund für die fehlenden Ambitionen war eher die Art und Weise, wie der Kalte Krieg endete: nicht primär durch erfolgreiche kollektive militärische Mobilisierung einer Seite, sondern einfach dadurch, dass die andere Seite kollabierte und deren Bürger an den Segnungen von Freiheit, Wohlstand und Rechtsstaatlichkeit teilhaben wollten.

Zudem schien das Beispiel der Europäischen Gemeinschaft zu zeigen, dass die rechtlich-transnationale wirtschaftliche Integration liberal-demokratischer Verfassungsstaaten auch ohne ernstzunehmende eigene militärische Dimension (außerhalb der NATO-Strukturen) sicherstellen kann, und dass ein Krieg zwischen ihnen undenkbar geworden ist, wie Robert Schuman 1950 erhofft hatte. Weltweit gab es in den 1990ern viele, die unter dem Eindruck des Triumphs liberaler Demokratien erwarteten, dass die Welt mittelfristig eine im Ansatz vergleichbare Entwicklung durchmachen würde. Es müsse nur gelingen, die neuen liberalen Demokratien internationalrechtlich zu stabilisieren und die Staaten in die Disziplin tiefer globalisierter Märkte einzubinden.

Aber diese Erwartung hat sich als falsch erwiesen. Autoritäre Systeme wie die in China oder Singapur haben sich über Jahrzehnte als durchaus fähig erwiesen, in einer globalisierten Wirtschaft zu prosperieren. Autoritäre, wenn auch formal demokratisch legitimierte Herrscher in Ländern wie Russland, der Türkei oder Ungarn lehnen den liberal-demokratischen Verfassungsstaat zugunsten illiberal-autoritär-nationalistischer Strukturen auch deswegen ab, weil es nach der Finanzkrise nicht offensichtlich ist, dass liberale Demokratien besser in der Lage ist, Wohlstand und Prosperität zu gewährleisten. Hatte die russische Bevölkerung nicht stark zu leiden unter den radikalen von westlichen Experten empfohlenen Reformen in Russland, während China, das 1989 eine potenziell revolutionäre Situation mit Gewalt löste, wirtschaftlich erfolgreich war?

Der liberal-demokratische Verfassungsstaat ist vorerst nicht mehr "the only serious game in town". Zusammen mit dem relativen Einflussverlust der USA - bedingt durch zwei rechtlich fragwürdige und erfolglose Abnutzungskriege in Afghanistan und Irak, hoher Staatsverschuldung und einem dysfunktionalen politischen System - stellen sich damit die alten Fragen nach der rechtlichen Infrastruktur für kollektive Sicherheit in alter Dringlichkeit. Dabei muss es hier genügen, eine Reihe von Versäumnissen zu beschreiben.

Der UN-Sicherheitsrat wurde trotz der schlechten Erfahrungen mit dem Veto (der erste Irak-Krieg, so hieß es in den 1990ern, zeige schließlich, dass unter neuen politischen Bedingungen der Sicherheitsrat seiner Verantwortung gerecht werden könne), trotz der wenig repräsentativen Zusammensetzung der Ständigen Mitglieder und trotz vielseitiger Bemühungen und Vorschläge nach 1990 nicht reformiert. Weder Südamerika noch Afrika ist vertreten; Asien ist allein durch China vertreten.

Die von der UN-Charta in Art. 43 vorgeschriebene Verpflichtung der Mitgliedstaaten, mit der UN-Verträge über die Bereitstellung militärischer Kontingente abzuschließen, war während des Kalten Kriegs Makulatur. Aber auch nach 1989 gab es keine ernsthaften Versuche, diesen Teil der UN-Charta mit Leben zu füllen. Zudem wurde die NATO weder aufgelöst noch strukturell als System kollektiver Sicherheit durch Integration von Russland und anderen Nachfolgestaaten neu ausgerichtet, sondern einfach gen Westen erweitert.

Nukleare Abrüstung fand nur sehr begrenzt statt - und es galt als Erfolg, dass mit dem Zerfall der Sowjetunion Weißrussland, Kasachstan und die Ukraine davon überzeugt werden konnten, auf Atomwaffen zu verzichten. Die UN-Generalversammlung und die Weltgesundheitsorganisation versuchten - rechtlich plausibel - den Internationalen Gerichtshof (IGH) zu bewegen, die Verwendung und Drohung mit Nuklearwaffen kategorisch als unvereinbar mit dem internationalen Recht zu erklären. Der Versuch scheiterte 1996 denkbar knapp. Zur Zeit ist immerhin ein Verfahren vor dem IGH anhängig, in dem die Marshallinseln den Nuklearstaaten vorwerfen, ihren abrüstungsbezogenen Verhandlungsverpflichtungen aus dem Non-Proliferations-Vertrag nicht nachgekommen zu sein. Die Erfolgsaussichten sind allerdings wenig aussichtsreich.

Es wurde nicht ernsthaft versucht, durch UN-Sicherheitsratsresolutionen oder Änderungen des IGH-Statuts die Pflicht einzuführen, sich im Konfliktfall auf Verlangen der anderen Partei einem Gericht oder Schiedsgericht zu unterwerfen. Praktisch heißt das: Wenn die USA den Irak angreifen, Russland sich Teile der Ukraine einverleibt oder China im Südchinesischen Meer auf umstrittenen Felsen feste Einrichtungen baut, gibt es keine Möglichkeit der militärisch schwächeren Seite, von unabhängiger Seite die Rechtmäßigkeit ihres Anliegens bescheinigt zu bekommen. Die Unterwerfung unter ein Gericht verlangt nach wie vor die Zustimmung des Staats, und weder Russland noch China noch die USA haben sich der Jurisdiktion des IGH gemäß Art. 36 Abs. 2 des IGH-Statuts unterworfen, anders als etwa Kanada, Japan, England oder Deutschland (allerdings mit wichtigen Vorbehalten).

Das Fehlen einer Rule of Law verpflichteten belastungsfähigen Infrastruktur im Bereich Gewaltverbot und kollektive Sicherheit stellt heute nicht nur die Außenpolitik, sondern auch die Rechtswissenschaft vor schwere Herausforderungen.


Mattias Kumm ist Geschäftsführender Leiter des WZB Rule of Law Center und hat am WZB die Forschungsprofessor Rule of Law in the Age of Globalization inne. Er forscht über Governance und Recht im globalen Kontext.
mattias.kumm@wzb.eu

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 146, Dezember 2014, Seite 15-18
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. März 2015

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