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STANDPUNKT/064: Chile und Deutschland - Gesten statt Gerechtigkeit (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Chile / Deutschland
Gesten statt Gerechtigkeit

Von Ute Löhning


(Berlin, 3. Oktober 2019, npl) - Colonia Dignidad - die deutsche Sektensiedlung in Chile war ein Symbol für Folter und Repression während der Pinochet-Diktatur. Doch sie war auch ein Ort der Zwangsarbeit und des tausendfachen sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen durch den deutschen Chef der Kolonie, Paul Schäfer. Jahrzehntelang hatte die deutsche Botschaft in Chile die Verbrechen gedeckt. Nur sehr langsam hat die Bundesregierung begonnen, sich ihrer Verantwortung zu stellen. Nun wird es zwar Hilfszahlungen für einige Opfer geben - aber keine Gerechtigkeit.

Sklavenartige Arbeitsverhältnisse, sexualisierte Gewalt und zwangsweise Verabreichung von Psychopharmaka gehörten - seit der Gründung durch den deutschen Laienprediger Paul Schäfer 1961 - zum Alltag der etwa 300 Bewohner*innen der Colonia Dignidad. All das war spätestens seit 1966 bekannt, als zwei Sektenangehörigen die Flucht aus der streng abgeriegelten Siedlung gelang und sie der Presse berichteten. Dennoch unterhielt die deutsche Botschaft gute Kontakte zur Sektenführung, verlängerte Pässe von Sektenmitgliedern in deren Abwesenheit per Vorlage von Sammelvollmachten und bot denjenigen, die aus der deutschen Kolonie flohen, keinen Schutz.


Kooperation mit der Diktatur

Anfang der 1970er Jahre organisierten Führungsfiguren der Colonia Dignidad mit der rechtsextremen paramilitärisch organisierten Gruppe "Patria y Libertad" und chilenischen Militärs Nahkampftrainings, Waffen- und Sprengstoffübungen. Deren Ziel: der Sturz des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende. Während der Pinochet-Diktatur ab 1973 folterte der chilenische Geheimdienst DINA (Dirección de Inteligencia Nacional) in der deutschen Siedlung unter Mitwirkung von Sektenangehörigen Hunderte Oppositionelle. Nach Aussagen von Bewohner*innen der Siedlung wurden Dutzende ermordet und in Massengräbern verscharrt. Um Spuren zu verwischen, wurden viele Leichen 1978 wieder ausgegraben, verbrannt, ihre Asche im nahen Fluss Perquilauquén verstreut. Bereits 1976 veröffentlichten die Vereinten Nationen und 1977 Amnesty International Berichte von dort Gefolterten. Die deutsche Botschaft jedoch verteidigte die Sektenführung: Bei einem Besuch seien keine Folteranlagen zu sehen gewesen; die dortigen Verhältnisse seien "ordentlich und sauber - bis zu den Schweineställen".

Seit 1988 nennt sich die Siedlung offiziell Villa Baviera - Bayerisches Dorf - und strukturierte sich in eine Firmenholding aus Aktiengesellschaften um. Zu strafrechtlichen Ermittlungen kam es in Chile erst ab 1996, als chilenische Familien aus der Region Anzeigen wegen sexuellen Missbrauchs ihrer Kinder gegen den Sektenchef Paul Schäfer erstatteten. Der floh nach Argentinien, wo er 2005 verhaftet und nach Chile ausgeliefert wurde. Nach einer Verurteilung wegen Mord, sexuellem Missbrauch, Körperverletzung und Verstoß gegen das Waffengesetz zu 33 Jahren Haft saß er fünf Jahre im Gefängnis in Santiago und starb dort im Jahr 2010.


Foto: © Ute Löhning

Früher Prügelorgien, heute Bayerische Kost - im Zippelsaal, heute Restaurant der Villa Baviera
Foto: © Ute Löhning

Erst seit Mitte der 2000er Jahre können die Bewohner*innen die Siedlung verlassen. Über hundert Personen sind nach Deutschland gekommen, etwa fünfzig sind an andere Orte Chiles gezogen. In der Villa Baviera leben heute noch gut hundert Menschen. Die Angehörigen der Verschwundenen fordern, auf dem Gelände eine Gedenkstätte einzurichten und den inzwischen dort etablierten Tourismus im bayerischen Stil mit Bier- und Oktoberfesten zu stoppen.

2016 räumte der damalige Außenminister und heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eine moralische Mitverantwortung der Bundesregierung ein: deutsche Diplomaten hätten "eindeutig zu wenig für den Schutz ihrer Landsleute in dieser Kolonie getan". 2017 forderte der Bundestag einstimmig die "Aufarbeitung der Verbrechen in der Colonia Dignidad". Die Bundesregierung solle strafrechtliche Ermittlungen vorantreiben, historische Aufklärung in die Wege leiten und ein Hilfskonzept für Opfer der Sekte entwickeln. Mit der chilenischen Regierung zusammen solle sie die Errichtung eines Dokumentations- und Gedenkortes angehen und das Vermögen der Sekte untersuchen.


Straflosigkeit in Deutschland

Zu einer juristischen Aufklärung ist es in Deutschland nie gekommen. Seit den 1960er Jahren gab es mehrere Ermittlungsverfahren, die jedoch allesamt eingestellt wurden. Mutmaßliche Täter, die aus Chile nach Deutschland übersiedelten, bleiben hier straflos.

Zentrale Bedeutung hatten zuletzt die Verfahren gegen den ehemaligen Leiter des Sektenkrankenhauses, Hartmut Hopp. Er galt als enger Vertrauter Paul Schäfers und als Verbindungsmann zum Geheimdienst DINA. In Chile ist Hopp rechtskräftig wegen Beihilfe zu Vergewaltigung und Missbrauch zu fünf Jahren Haft verurteilt. 2011 entzog er sich dieser Strafe durch Ausreise nach Deutschland, von wo aus er als deutscher Staatsangehöriger nicht nach Chile ausgeliefert wird. Das Oberlandesgericht Düsseldorf lehnte im Herbst 2018 den Antrag Chiles in letzter Instanz ab, dass Hopp diese Strafe in Deutschland verbüßen muss.

Eigenständige Ermittlungen der deutschen Justiz gegen Hartmut Hopp - wegen Beihilfe zu Mord, Körperverletzung und Beihilfe zu sexuellem Missbrauch - stellte die Staatsanwaltschaft Krefeld im Mai 2019 ein.

Jaime Parra wurde als Kind ab 1995 zwei Jahre lang in der Villa Baviera festgehalten und vergewaltigt. Er sagt, Hopp habe ihm Psychopharmaka verschrieben. "Sie sollten mich gefügig machen, und ich gehorchte ohne jeden Widerstand. Vor dem Einschlafen musste ich immer die Tabletten nehmen. Dann brachte mich jemand zu Schäfer. Ich erinnere mich, dass ich erst viel später in Schäfers Zimmer wieder zu mir kam. Ich hatte Schmerzen am ganzen Körper, wusste aber nicht, was passiert war."

2018 sagte Parra dazu im Rahmen eines Rechtshilfeersuchens der Staatsanwaltschaft Krefeld auch vor einem chilenischen Gericht aus. Sein Anwalt Hernán Fernández erklärt: "Hopp hat die Jungen gezielt auf Paul Schäfers Missbrauch vorbereitet. Die Psychopharmaka, die er ihnen persönlich verschrieb und gab, hatten keinen anderen Sinn, als das Bewusstsein der Jungen zu trüben."

Die Berliner Anwältin Petra Schlagenhauf vertritt Opfer der Sekte. Sie kritisiert, die in der Colonia Dignidad begangenen Straftaten seien nicht ausreichend untersucht, von ihr benannte aussagewillige Betroffene und Zeug*innen nie persönlich vernommen worden. Sie hat Beschwerde gegen die Einstellung des Verfahrens eingelegt.

Zur historischen Aufarbeitung beitragen soll ein von der Bundesregierung mit über einer Million Euro finanziertes, digitales Oral History Archiv, das die FU Berlin mit chilenischen Partneruniversitäten umsetzt. Sie wollen 50 Interviews mit Opfern und Tätern aufnehmen und zur pädagogischen Nutzung aufbereiten. Der Anfang ist gemacht: Mercedes Fernández, die 90-jährige Mutter eines in der Colonia Dignidad gefolterten, später verschwundenen Studenten, war glücklich, endlich umfassend Zeugnis über ihre Geschichte abzulegen.


Das Hilfskonzept reicht nicht aus

Im Mai 2019 stellten Bundestagsabgeordnete und Regierungsvertreter*innen ein Hilfskonzept für Opfer der Sekte vor. Folteropfer und Angehörige von Verschwundenen sind dabei nicht eingeschlossen, für die sei der chilenische Staat allein verantwortlich. Die Bundesregierung sehe sich nicht in einer politischen Verantwortung für die Verbrechen, wohl aber in einer moralischen, erklärte Niels Annen (SPD), Staatsminister im Auswärtigen Amt. Demzufolge wurden auch keine Entschädigungen beschlossen, sondern "Hilfen". Als Geste der Anerkennung sollen chilenische und deutsche Opfer von Zwangsarbeit und sexualisierter Gewalt Einmalzahlungen von bis zu 10.000 Euro bekommen. 3,5 Millionen Euro sind dafür insgesamt veranschlagt.

Über einen Fonds "Pflege und Alter" sollen Bedürftige ohne Zugang zum deutschen Sozialsystem auch dauerhafte Hilfsmaßnahmen erhalten. Dabei geht es um ehemalige Sektenangehörige, die heute an anderen Orten Chiles leben. Sie bekommen keine staatliche Unterstützung und waren bei den bisherigen Förderprogrammen der Bundesregierung leer ausgegangen.


Foto: © Ute Löhning

Harald Lindemann und Astrid Tymm lebten und arbeiteten 40 Jahre in der Colonia Dignidad/Villa Baviera ohne Lohn
Foto: © Ute Löhning

Astrid Tymm und Harald Lindemann konnten die Sektensiedlung erst 2006 frei verlassen, sind heute im Rentenalter und müssen immer noch hart arbeiten. "Was nicht eingezahlt wurde, fehlt uns heute. Und da meine ich, muss der deutsche Staat für aufkommen (...), weil sie damals nicht eingegriffen haben", sagt Harald Lindemann. "Dadurch war es auch möglich, dass wir 30 Jahre gearbeitet haben ohne Lohn und ohne in die Rentenversicherung einzuzahlen." Ob das Hilfskonzept ihre existenziellen Bedürfnisse in der Gesundheits- und Altersversorgung lösen wird, bleibt abzuwarten. Die in Deutschland lebenden ehemaligen Sektenangehörigen werden keine regelmäßigen Unterstützungsleistungen erhalten.

Um zu vermeiden, "dass ehemalige Täter oder verantwortliche Führungsfiguren der ehemaligen Colonia am Ende Mittel aus deutschen Steuergeldern beziehen", solle ein Kriterienkatalog zur Differenzierung zwischen Tätern und Opfern erarbeitet werden, an dem die IOM (International Organisation of Migration), die das Hilfskonzept umsetzen soll, sich orientieren könne, erklärt Staatsminister Annen.

Nicht wirklich vorangekommen ist die "Klärung der Besitzverhältnisse der Villa Baviera". Dabei geht es um Schwarzgeldkonten, Gewinne aus unbezahlter Arbeit und Waffenhandel, aber auch um undurchsichtige Strukturen der Firmenholding, die heute das Dasein der Villa Baviera lenkt und die für eine strukturelle Ungerechtigkeit in der Besitzverteilung kritisiert wird. Wenigstens ein Teil des Vermögens könnte den Opfern zugutekommen; aber über eine Machbarkeitsstudie, die nur die Abgeordneten einsehen dürfen, sind die Untersuchungen nicht hinausgekommen.


Gedenkstätte, Dokumentations- und Lernort

Beide Regierungen betonen zwar ihren Willen, einen Gedenk-, Dokumentations- und Lernort zu errichten; und tatsächlich finanziert das Auswärtige Amt seit mehreren Jahren Seminare von Expert*innen aus der Gedenkstättenarbeit mit Opfern der Sekte. Doch es geht langsam voran. Auch deshalb demonstrierten Angehörige von Verschwundenen im Juni 2019 vor der deutschen Botschaft und vor dem chilenischen Regierungspalast in Santiago. "Sagt uns, wo sie sind!", riefen sie und forderten Aufklärung des Schicksals ihrer Liebsten, die mutmaßlich in der Colonia Dignidad gefoltert und ermordet wurden. "Wir hatten die Hoffnung, dass Hartmut Hopp mit seinen Informationen dazu beitragen könnte, sie zu finden. Es hat uns sehr getroffen, dass er in Deutschland straflos bleiben wird", sagt Myrna Troncoso, die 76-jährige Vorsitzende eines Angehörigenverbandes von verschwundenen politischen Gefangenen, deren Bruder Ricardo damals verschwunden ist. "Wir fordern Wahrheit, Gerechtigkeit und auch Erinnerung. Denn wir haben nichts - nicht einmal die Gewissheit darüber, wer in der Colonia Dignidad umgebracht wurde."

Die Zeit drängt. Adriana Bórquez, eine der Überlebenden der Folter in der deutschen Siedlung, deren Berichte entscheidend zur Aufdeckung der Verbrechen beigetragen haben, ist im Juli 2019 verstorben.


Erstveröffentlichung:
Südlink 189, Ausgabe zu Agrarökologie - Wege in die Landwirtschaft der Zukunft
https://www.inkota.de/index.php?id=2614


URL des Artikels:
https://www.npla.de/poonal/gesten-statt-gerechtigkeit/


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https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/

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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Oktober 2019

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