Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e. V. - 08.04.2020
Sächsisches Landessozialgericht erkennt: Covid-19 erfordert höhere Leistungen für alleinstehende und alleinerziehende Geflüchtete
Seit dem 1. September 2019 gelten für Geflüchtete in Deutschland neue Regeln im Existenzsicherungsrecht. Seitdem werden u.a. Grundsicherungsleistungen für Alleinstehende und Alleinerziehende in Sammelunterkünften nur zu 90 Prozent gewährt. Von ihnen könne erwartet werden, dass sie gemeinsam wirtschaften wie Ehepaare, heißt es in der empirisch nicht belegten Begründung zur Gesetzesänderung. Dagegen sind in Deutschland Eil- und Hauptsacheverfahren anhängig. Wegen der erheblichen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf Menschen in Sammelunterkünften werden zahlreiche weitere Eilanträge vor den Sozialgerichten gestellt.
Durch die Covid-19-Pandemie hat sich die Situation der Bewohner*innen von Sammelunterkünften dramatisch verändert. Sozialarbeiter*innen sind in vielen Sammelunterkünften aufgrund der Pandemie bereits abgezogen worden und/oder machen nur noch Telefonbetreuung. Viele Menschen in den Sammelunterkünften bleiben in ihren Zimmern. Ein gemeinsames Leben kann und soll auch nicht stattfinden. Dennoch ist die Gefahr für eine Ausbreitung der Pandemie in Sammelunterkünften weiterhin groß. Auch deshalb fordert u.a. pro asyl die Auflösung der Sammelunterkünfte und dezentrale Unterbringung der Geflüchteten [1]. Diesen Forderungen schließt sich der RAV an und fordert zudem das Ende jeglicher migrationspolitisch begründeter Sonderverfahren im Sozialrecht. RAV-Vorstandsmitglied Berenice Böhlo betont, »es muss endlich Schluss gemacht werden mit den Sonderverfahren im Sozialrecht. Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht relativierbar«.
»Bis zur Auflösung der Lager können und dürfen nun erst recht nicht angebliche Einspareffekte eine Kürzung der Regelleistung für Alleinstehende und Alleinerziehende begründen«, so der Göttinger Rechtsanwalt Sven Adam, der einige der Antragstellenden rechtlich vertritt. »Ziel weiterer Verfahren ist die Gewährung voller Regelleistungen. Es geht monatlich um bis zu 42 Euro bei den Ärmsten unserer Gesellschaft«, so RAV-Mitglied Adam weiter.
»Wenn die Sozialleistungsträger die Leistungen für Geflüchtete in Sammelunterkünften nicht selbstständig kurzfristig anheben, müssen die Sozialministerien der Länder dies vorgeben. Wenn auch dies nicht erfolgt, ist die Sozialgerichtsbarkeit gefragt. Das Sächsische Landessozialgericht hat insoweit mit Beschluss vom 23. März 2020 Handlungswillen gezeigt« erläutert RAV-Mitglied Rechtsanwalt Raik Höfler aus Leipzig, der den Beschluss des Sächsischen Landessozialgerichts erstritten hat.
»Die Folgen einer Pandemie dürfen sich nicht am Status von Menschen ausrichten. Daher ist mindestens die Aufnahme der Sozialschutz-Regelungen in das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) notwendig. Es verbietet sich, einzelne Regelungen zur Existenzsicherung von den Sozialschutz-Regelungen auszunehmen«, so der Berliner Rechtsanwalt Volker Gerloff für die 'AG Sozialrecht' im DAV.
RAV-Vorstandsmitglied Berenice Böhlo ergänzt: »Dass das 'Sozialschutz-Paket' (BT-Drucksache 19/18107, https://dipbt.bundestag.de/doc/btd/19/181/1918107.pdf) vom März 2020 anlässlich der Corona-Krise keinerlei Verweis auf das Asylbewerberleistungsgesetz enthält, ist ein menschenrechtlich fatales Signal der Bundesregierung«.
Hintergrund:
Am 21.08.2019 ist das sog. 'Geordnete-Rückkehr-Gesetz' und am 01.09.2019
das 'Dritte Gesetz zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes' in Kraft
getreten. Beide Gesetze enthalten massive Leistungskürzungen insbesondere
für Alleinstehende und Alleinerziehende in den Gemeinschaftsunterkünften.
Mit der Neuregelung im Asylbewerberleistungsgesetz wurden zwar endlich die
Bedarfssätze angepasst (nachdem die letzte Erhöhung 2016 erfolgt ist und
eine Fortschreibung durch die Behörden trotz gesetzlicher Verpflichtung
nicht durchgeführt wurde). Allerdings hat der Gesetzgeber eine neue
Bedarfsstufe für Alleinstehende eingeführt, die noch nicht in einer eigenen
Wohnung wohnen. Sie erhalten zukünftig genauso viel wie Ehegatten und damit
nur etwa 90 Prozent der vollen Leistungen.
Laut dem Gesetzeszweck soll »der besonderen Bedarfslage von
Leistungsberechtigten in Sammelunterkünften« Rechnung getragen werden. Es
sei davon auszugehen, so der Gesetzgeber, dass eine
Gemeinschaftsunterbringung für die Bewohnerinnen und Bewohner solcher
Unterkünfte Einspareffekte zur Folge hat, die denen in Paarhaushalten im
Ergebnis vergleichbar seien.
Der Deutsche Anwaltverein (DAV) wird sich in den nächsten Tagen ebenfalls zur Lage von Geflüchteten in Sammelunterkünften aus migrations- und sozialrechtlicher Perspektive äußern. Wir bitten um Beachtung.
Diese Regelung wird von diversen deutschen Sozialgerichten in Eilverfahren bereits ohne die Auswirkungen des Covid-19-Virus für verfassungswidrig gehalten (vgl.: SG Landshut, Beschlüsse v. 24.10.2019 - S 11 AY 64/19 ER und v. 28.01.2020 - S 11 AY 3/20 ER; SG Hannover, Beschluss v. 20.12.2019 - S 53 AY 107/19 ER; SG Leipzig, Beschluss v. 08.01.2020 - S 10 AY 40/19; SG Darmstadt, Beschluss v. 14.01.2020 - S 17 SO 191/19 ER; SG Frankfurt/Main, Beschluss v. 14.01.2020 - S 30 AY 26/19 ER; SG Freiburg, Beschluss v. 20.01.2020 - S 7 AY 5235/19 ER; SG Frankfurt/Main, Beschluss v. 14.01.2020 - S 30 AY 26/19 ER; SG Leipzig, Beschluss v. 08.01.2020 - S 10 AY 40/19; SG Dresden, Beschluss v. 04.02.2020 - S 20 AY 86/19 ER; SG München, richterlicher Hinweis v. 31.01.2020 - S 42 AY 4/20 ER und Beschluss v. 10.02.2020 - S 42 AY 82/19 ER; LSG Sachsen, Beschluss v. 23.03.2020 - L 8 AY 4/20 B ER).
Anmerkung:
[1] https://www.proasyl.de/news/covid-19-und-fluechtlingspolitik-was-deutschland-jetzt-machen-muss/
*
Quelle:
Pressemitteilung vom 8. April 2020
Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e. V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. April 2020
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