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KIRCHE/1179: Bischöfe und Caritas fordern bessere staatliche Unterstützung für Pflegebedürftige (DBK)


Pressemitteilungen der Deutschen Bischofskonferenz vom 07.09.2011

Weihbischof Dr. Uhl und Präsident Prälat Dr. Neher fordern bessere staatliche Unterstützung für Pflegebedürftige


Der stellvertretende Vorsitzende der Caritaskommission der Deutschen Bischofskonferenz, Weihbischof Dr. Bernd Uhl, und der Präsident des Deutschen Caritasverbandes, Prälat Dr. Peter Neher, haben eine verstärkte staatliche Unterstützung für pflegebedürftige Menschen gefordert. "Dazu gehören eine Neudefinition des Pflegebedürftigkeitsbegriffs, die Weiterentwicklung von Betreuungsformen und Strukturreformen, die den Pflegeberuf attraktiver machen", sagte Weihbischof Dr. Uhl bei der Vorstellung des Wortes "Die Zukunft der Pflege im Alter. Ein Beitrag der katholischen Kirche" heute in Berlin.

"Der Staat hat die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass alte Menschen auch bei Pflegebedürftigkeit möglichst selbstbestimmt und selbstständig leben können. Dazu gehören Strukturentwicklungen auf kommunaler, Landes- und Bundesebene sowie sozialrechtliche Weiterentwicklungen, insbesondere des Gesetzes zur Sozialen Pflegeversicherung", schreiben die deutschen Bischöfe in ihrem Wort, das am 5. April 2011 anlässlich des vom damaligen Bundesgesundheitsminister Dr. Philipp Rösler ausgerufenen "Jahr der Pflege 2011" veröffentlicht wurde.

Weihbischof Dr. Uhl wies darauf hin, dass sich die Bischöfe in ihrem Wort nicht auf Organisationsfragen beschränken. "Wir müssen die Situation der Pflegebedürftigkeit auch als eine menschliche und gesellschaftliche Realität verstehen, um eine angemessene Einstellung zu gewinnen. Die Bewertungs- und Einstellungsfragen betreffen uns alle: als Pflegebedürftige, als Pflegende und als gesunde und leistungsfähige Menschen, die auf das weitere Leben blicken und mögliche Pflegebedürftigkeit nicht ausblenden."

Prälat Dr. Neher dankte den Bischöfen für ihre Impulse. Sie zeichneten damit eine Vision, wie gute Pflege auch künftig möglich sei. Dafür werde sich die Caritas auch weiterhin einsetzen. Aus seiner Sicht ist die Förderung der sozialen und politischen Teilhabe älterer Menschen von besonderer Bedeutung. "Wir brauchen einen barrierefreien Um- und Neubau von Wohnraum und eine altenfreundliche Infrastruktur beispielsweise des öffentlichen Nahverkehrs oder der Einkaufsmöglichkeiten im unmittelbaren Wohnumfeld. Davon profitieren dann auch Familien und Menschen mit Behinderung."

Für den Deutschen Caritasverband ist darüber hinaus die Stärkung der verschiedenen Pflegeformen wichtig. Neher betonte, dass das Bischofswort der häuslichen Pflege einen hohen Stellenwert beigemessen habe. "Wesentliche Ansatzpunkte hierfür sind beispielsweise der Ausbau der Tagespflege und der Kurzzeitpflege. Diese Leistungen sind auch ein Beitrag zu einer wirksamen Entlastung pflegender Angehöriger". Von zentraler Bedeutung für die häusliche Betreuung von pflegebedürftigen Menschen sei ein entsprechendes Wohn- und Betreuungsangebot. Neher betonte: "Ich spreche mich ausdrücklich für den Ausbau neuer Wohn- und Versorgungsformen aus, wie z.B. von Wohngemeinschaften für demenziell erkrankte Menschen. Neue Versorgungsformen müssen erprobt werden."


Hinweis:
Die Statements von Weihbischof Dr. Uhl und Präsident Prälat Dr. Neher finden Sie zum Download unter www.dbk.de sowie dieser Pressemitteilung angehängt.
Das Wort der deutschen Bischöfe kann unter www.dbk.de in der Rubrik Veröffentlichungen heruntergeladen werden oder über den nachfolgenden Link Broschüre "Die Zukunft der Pflege im Alter. Ein Beitrag der katholischen Kirche".


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Es gilt das gesprochene Wort!

Statement des stellvertretenden Vorsitzenden der Caritaskommission der Deutschen Bischofskonferenz, Weihbischof Dr. Bernd Uhl, anlässlich der Präsentation des Wortes der katholischen Bischöfe über "Die Zukunft der Pflege im Alter" am 7. September 2011 in der Katholischen Akademie in Berlin

Ich habe die Aufgabe, Ihnen eine Schrift der Deutschen Bischofskonferenz zur Zukunft der Pflege in Deutschland vorzustellen. Ich werde mich dabei auf einige Ausschnitte der Erklärung beschränken und hoffe, dass ich Sie dafür interessieren kann, das Ganze zu lesen. Exegese bzw. Schriftauslegung oder Literaturkritik kann eine sehr trockene Angelegenheit mit hohem Langeweilefaktor sein. Manchmal wird man aber auch neugierig gemacht. Eine Schriftauslegung hat das Ziel, dass der Leser den Text besser oder überhaupt versteht. Sie folgt eisernen Regeln: Für wen ist der Text geschrieben, warum, wann, wie oder von wem. Wer ist der Adressat, was sind die Quellen des Textes. Entscheidend ist natürlich, was gesagt wird. Der Inhalt ist das Wichtigste eines literarischen Dokuments.

Einige dieser klassischen Fragen der Textauslegung werden in der Einleitung der Erklärung auf Seite 9 beantwortet. Hier wird kurz über den Sitz im Leben der Schrift referiert. Dann werden auch die Adressaten benannt: "Die Zukunft der Pflege im Alter ist eine große Herausforderung unserer Gesellschaft. Längere Lebenserwartung und geringe Geburtenzahlen führen zu einem höheren Altersdurchschnitt der Bevölkerung und lassen einen größeren Anteil pflegebedürftiger Menschen an der Gesamtbevölkerung erwarten. Zugleich ist nicht gesichert, dass genügend Menschen bereit sind, die Aufgaben der Pflege, sei es im familiären Zusammenhang oder als professionelle Dienstleistung, zu übernehmen.

Wir wenden uns an alle, die für eine gute Pflegesituation in Deutschland die Verantwortung tragen. Wir wollen auch diejenigen ansprechen, die schon jetzt selbst oder bei der Betreuung von Angehörigen von Pflegebedürftigkeit betroffen sind. Angesichts der zunehmenden Lebenserwartung und des damit steigenden Risikos von Pflegebedürftigkeit sollte sich jeder mit der Frage auseinandersetzen, wie er eine solche Lebenslage bewältigen kann." Der äußere Anlass der Erklärung ist das Jahr der Pflege 2011. Die Schrift passt gut in dieses Jahr hinein. Sie passt aber auch in die politische Landschaft, weil zurzeit über die Finanzierung von Pflege in der Zukunft debattiert wird. Die deutschen Bischöfe als verantwortliche Autoren der Erklärung zur Zukunft der Pflege geben Ratschläge, sie schalten sich aber auch als Betroffene und Handelnde in die gesellschaftliche Diskussion ein. Als Letztverantwortliche für über ambulante und stationäre Pflegeeinrichtungen leisten sie einen wichtigen Beitrag für eine gute Pflege in Deutschland. Was die katholische Kirche tut und noch tun kann, wird im Abschnitt 4 der Schrift dargelegt. Ich gehe hier nicht näher darauf ein. Die katholischen Bischöfe fühlen sich berufen, in dieser wichtigen gesellschaftlichen Frage mitzureden. Sie stützen sich dabei nicht nur auf theologische Argumente. Aus der Liste ihrer Berater für dieses Hirtenwort können Sie erkennen, dass Experten aus der Gerontologie, Pflegewissenschaft, Jurisprudenz, Philosophie und der Pflegepraxis beigezogen wurden. Das Papier macht Vorschläge für bessere Rahmenbedingungen von Pflege. Es will sich aber nicht in Organisationsfragen erschöpfen. Es hat einen weiteren Schwerpunkt. Hierzu darf ich zitieren: "Wir müssen die Situation der Pflegebedürftigkeit auch als eine menschliche und gesellschaftliche Realität verstehen, um eine angemessene Einstellung zu gewinnen. Die Bewertungs- und Einstellungsfragen betreffen uns alle: als Pflegebedürftige, als Pflegende und als gesunde und leistungsfähige Menschen, die auf das weitere Leben blicken und mögliche Pflegebedürftigkeit nicht ausblenden."

Wenn ich nun mit Ihnen den Text durchblättern darf, dann finden Sie zuerst noch einmal eine zahlenmäßige Zusammenfassung der Bevölkerungsentwicklung und der damit verbundenen steigenden Pflegebedürftigkeit auf den Seiten 11 bis 12.

Die Seiten 12 bis 20 können Sie unter dem Aspekt lesen: Wie denken wir vom pflegebedürftigen Menschen? Denken wir hoch von ihm? Oder wird er wegen seiner Situation der partiellen oder völligen Hilfslosigkeit abgewertet? Lassen wir wieder das Hirtenwort sprechen: "Menschen mit einer weit fortgeschrittenen Pflegebedürftigkeit oder Demenz wird mitunter das Humane abgesprochen; dies kann der Fall sein, wenn in einer Gesellschaft primär eine vernunftbetonte Konzeption von Menschsein vertreten wird. Es werden dann nicht selten grundlegende Zweifel in Bezug auf die Menschenwürde geäußert, wenn Erkenntniskraft, Gedächtnis und Vernunftsteuerung nachlassen. Solche Zweifel können schließlich die Tendenz hervorrufen, pflegebedürftigen oder demenzkranken Menschen das grundlegende Recht auf eine qualitativ hochwertige medizinische und pflegerische Versorgung abzusprechen, weil diese - einem solchen Menschenbild zufolge - von einer derartigen Versorgung gar nicht mehr profitieren. Jeder gesunde und vitale Mensch sollte sich bewusst sein, wie schnell schwerkranke Menschen abgewertet werden können. Nur wenn er den Blick für die Besonderheit und Würde des pflegebedürftigen Menschen schärft, kann er Schutz und Geborgenheit geben." (Seite 13)

Ich sehe auch eine Tendenz zur Selbstabwertung bei drohender oder realer Pflegebedürftigkeit. Man kann bei Betroffenen Sätze hören wie: Ich tauge nichts mehr; ich bin anderen eine Last, ich bin nichts mehr wert; ich koste eine Menge Geld und bringe nichts mehr. Solche Sätze sind Indizien dafür, dass ein Mensch anfängt, sich selbst seiner Würde zu berauben. Gunter Sachs hat seine drohende Pflegebedürftigkeit als menschenunwürdig angesehen und ist deshalb den Weg der Selbstvernichtung gegangen. Die deutschen Bischöfe legen die zentralen philosophischen und theologischen Argumente vor, warum Pflegebedürftigkeit zwar ein Verlust von Selbstständigkeit, aber nicht von Würde ist. Auch das Sterben, das zum Leben gehört, soll in Würde geschehen. Hierzu der Schluss des Grundsatzteils: "Menschen haben ein unverfügbares Recht auf ein menschenwürdiges Sterben in Geborgenheit und Zuwendung. Wir wenden uns gegen Stimmen in unserer Gesellschaft, die älteren Menschen einen Suizid als Lösungsweg für schwer kranke ältere Menschen deuten wollen und ihn als Ausdruck von Freiheit und Selbstbestimmung missverstehen. Durch jeden Suizid wird einzigartiges und wertvolles Leben vernichtet. Die gesetzliche Zulassung der Tötung auf Verlangen würde in den stationären Pflegeeinrichtungen massive Ängste auslösen, man werde eines Tages mehr oder weniger freiwillig aus dem Leben zum Tode befördert. Auch der gesetzlich nicht verbotene ärztlich assistierte Suizid muss gemäß den Standesregeln der Ärzteschaft ausgeschlossen bleiben. Ärzte sollen beim Sterben begleiten, nicht aber zum Sterben helfen. Zu einer Kultur des Lebens gehört auch das Wissen um die eigene Endlichkeit, die von niemand willkürlich herbeigeführt werden darf." (Seite 19) Ich darf nun drei Punkte aus dem praktischen bzw. organisatorischen Teil herausgreifen. Dieser Teil richtet sich an die Akteure für eine Zukunft der Pflege: Staat, Kommunen, Träger von Einrichtungen und Diensten, pflegende Angehörige und professionelle Pfleger und Pflegerinnen.

- Die Bischöfe fordern u. a. vom Gesetzgeber eine Neudefinition des Pflegebedürftigkeitsbegriffs. "Der derzeit gültige gesetzliche Begriff von Pflegebedürftigkeit, Grundlage für Leistungen aus der Pflegeversicherung, wird von vielen Fachleuten als zu eng und zu körperorientiert kritisiert. Er stellt seit jeher nur einen Ausschnitt eines fachlichen Verständnisses von Pflegebedürftigkeit dar. Daher ist es zu begrüßen, dass die Politik seit 2006 Schritte unternommen hat, um sowohl den Begriff im Gesetz zu überarbeiten als auch ein neues Instrument zur Erfassung von Pflegebedürftigkeit entwickeln zu lassen. Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff sollte nun zügig gesetzlich verankert und in die Praxis umgesetzt werden." (Seite 22)

- Die Bischöfe wehren sich gegen die allgemein verbreitete Angst vor dem angeblichen Schreckbild Pflegeheim. In der stationären Pflege hat sich nämlich eine differenzierte Pflegelandschaft entwickelt. Aber gerade weil der Bedarf an stationärer Pflege zunehmen wird, ist eine Weiterentwicklung dieser Betreuungsform wichtig. Hierzu wiederum die Bischöfe: "Die Anforderungen an Einrichtungen der Altenhilfe werden sich in den nächsten Jahren weiter verändern. Zum Beispiel wird der Bedarf an Einzelzimmern weiter steigen. In den eigenen vier Wänden leben zu können, entspricht der Würde im Alter und ist zur Wahrung der Privatsphäre und der Intimität geboten. Wünschenswert ist eine Mischung des Angebots aus betreuten Seniorenwohnungen und Wohnbereichen in stationären Altenhilfeeinrichtungen. Eine gelebte christliche Hospiz- und Palliativkultur trägt wesentlich dazu bei, dass schwerst- und sterbenskranke Menschen in allen Bereichen der Einrichtung würdig begleitet werden. Ambulante Hospizdienste und stationäre Hospize müssen ausgebaut werden." (Seite 29)

- Unser Land braucht mehr Pflegekräfte: Mit diesem Aufruf laufen die Bischöfe offene Türen ein. Werbekampagnen werden am Mangel an Pflegekräften nur wenig ändern. Es bedarf einiger Strukturreformen. Hierzu noch einmal ein Zitat: "Beruf und Berufsbild können durch eine Reform der Pflegeausbildungen attraktiver gemacht werden. Ziele sollten eine stärkere Vernetzung der Pflegeberufe und eine höhere Durchlässigkeit zwischen einzelnen Pflegefachrichtungen sein. Auch eine Akademisierung bestimmter Pflegespezialisten sollte in Erwägung gezogen werden. Ausbildungsreformen mit diesen Zielsetzungen können dazu beitragen, jungen Menschen die Wahl eines Pflegeberufes zu erleichtern." (Seite 33)

Meine Nachbarn: Die Senioren. Ich lebe in unmittelbarer Nachbarschaft mit einer großen evangelischen Seniorenanlage. Mein Vater ist selbst dort Bewohner. Bei einem Abend der Begegnung kam ich mit einem rüstigen Mann ins Gespräch. Er ist 96 Jahre alt. Sein Gehör ist zwar nicht mehr ganz so gut, aber ansonsten ist er fit. Ursprünglich lebte er in einer Einliegerwohnung bei seiner Tochter und ihrer Familie auf dem Land. Eigentlich eine ideale Situation. Aber dort fühlte er sich zu sehr betreut. Er wollte nicht gefragt werden, was er mache und wohin er zum Kaffee trinken fahre. Nun genießt er seine neue Freiheit in der Seniorenwohnanlage mitten in der Stadt. Er entscheidet darüber, welche Hilfen er braucht. Er fühlt sich voll für seine Lebenssituation verantwortlich. Allen Respekt! Auf die notwendige Eigenverantwortung zur Vermeidung, Vorbereitung und Bewältigung von Pflegesituationen weisen auch die Bischöfe in ihrem Papier auf den Seiten 33 bis 35 hin. Ich darf noch einmal und letztmals einen Passus verlesen: "Wesentlich ist eine eigenverantwortliche Lebensgestaltung, die zu längerem Wohlbefinden beiträgt: Eine der Grundvoraussetzungen für ein gesundes Älterwerden ist es, ein gesundheitsbewusstes und körperlich, geistig sowie sozial aktives Leben zu führen. Dazu gehört die rechtzeitige Auseinandersetzung mit der Frage, wie das Leben im Alter gestaltet und wie anstehende Veränderungen gemeistert werden sollen. Dies betrifft auch Überlegungen zu Veränderungen in der Wohnung, etwa durch Beseitigung von Barrieren oder den Einbau besonderer Hilfsmittel. Auch ein Umzug in eine neue Wohnlage kann dazu beitragen, die Selbstständigkeit möglichst lange zu erhalten. Im Falle der Hilfs- oder Pflegebedürftigkeit ist es notwendig, nach Möglichkeiten guter Hilfe und Pflege zu suchen. Betroffene und ihre Angehörigen bedürfen der unterstützenden Hilfe von Serviceeinrichtungen wie Pflegestützpunkten oder Pflegebegleitern. Hier erhalten sie Informationen zu verschiedenen Angeboten und Maßnahmen oder auch zu finanziellen Hilfen." (Seite 34)

Ich hoffe, dass ich ein wenig Ihr Interesse wecken konnte und Sie auf den Volltext neugierig gemacht habe. Eine Zusammenfassung wichtiger Kernaussagen des Textes finden Sie im Abschnitt 5: Schlussbemerkung/Fazit. Es soll Leute geben, die nur noch Einleitung und Schluss einer Schrift oder eines Buches lesen. Ihnen soll damit gedient werden. Ich wünsche diesem Wort der deutschen Bischöfe eine nachhaltige Wirkung und hoffe, dass sie den Dialog über die Zukunft der Pflege in unserem Land befördert - nicht nur jetzt bei dieser Veranstaltung, sondern auch darüber hinaus.


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Es gilt das gesprochene Wort!

Statement des Präsidenten des Deutschen Caritasverbandes, Prälat Dr. Peter Neher, anlässlich der Präsentation des Wortes der katholischen Bischöfe über "Die Zukunft der Pflege im Alter" am 7. September 2011 in der Katholischen Akademie in Berlin

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
die Deutsche Bischofskonferenz hat bei ihrem Studientag im Februar 2010 zum Thema älter werdende Gesellschaft u. a. das Fazit gezogen, dass eine höhere Lebenserwartung ein großer Gewinn ist. In der Tat haben zu keinem Zeitpunkt so viele Menschen ein so hohes Alter wie heute erreicht. Neugeborene Mädchen haben heute eine Lebenserwartung von 82,4 Jahren, neugeborene Jungen eine Lebenserwartung von 77,2 Jahren. Die meisten Menschen freuen sich darüber. Daneben wird bei uns die gesellschaftliche Debatte über den "demografischen Wandel" häufig verkürzt als Debatte über die sozialen Sicherungssysteme geführt; ein defizitäres Altersbild wird dabei in Kauf genommen.

Der Deutsche Caritasverband hat in seiner Jahreskampagne 2010 "Experten fürs Leben" gerade die Potentiale der älteren Menschen für unsere Gesellschaft in den Mittelpunkt gestellt. Denn die steigende Lebenserfahrung, die Wissensvielfalt und die ungebrochene Bereitschaft zum bürgerschaftlichen Engagement der älteren Menschen ist ein Gewinn. Auch in der Arbeitswelt setzt sich mittlerweile die Erkenntnis durch, dass ältere Beschäftigte nicht weniger, sondern anders leistungsfähig sind als jüngere.

Es gibt aber auch Berichte aus dem Alltagsleben, die ein Gegenbild zu diesen optimistischen Darstellungen zeichnen. In ländlichen und so genannten Struktur schwachen Regionen nimmt die Zahl der älteren, alleinwohnenden Menschen überproportional zu. Die jüngere Generation ist seit Jahren aus solchen Gebieten auch wegen mangelnder Arbeitsmöglichkeiten weggezogen. Für viele ältere Menschen bleibt bei Pflegebedürftigkeit in der Regel nur die Möglichkeit, ins Pflegeheim zu gehen. Daher sind die Kommunen im Rahmen der Daseinsvorsorge gefordert, eine altengerechte Infrastruktur aufzubauen.


1. Eine altengerechte Infrastruktur fördern

Dieser Auftrag wird im Papier der Deutschen Bischofskonferenz im Kapitel 3.1. zu Recht hervorgehoben. Viele der gegenwärtigen Entwicklungen laufen diesem Auftrag jedoch zuwider. Der öffentliche Nahverkehr wird ausgedünnt, Einzelhandelsgeschäfte werden am Stadtrand oder auf die grüne Wiese gebaut. Zentrale Dienstleistungen wie Post- oder Bankfilialen werden geschlossen. Durch den Wegzug junger Familien an die Peripherie veralten oder verwaisen die Stadtzentren. Auch wenn Kommunen nur begrenzte Möglichkeiten haben, diese Entwicklungen zu beeinflussen, müssen sie doch einen wesentlichen Beitrag für eine altengerechte Infrastruktur leisten. Das Spektrum reicht dabei von der Förderung eines Barriere freien Um- und Neubaus von Wohnraum über eine alten-, familien- und behindertenfreundliche Infrastruktur des öffentlichen Nahverkehrs bis hin zur Gestaltung einer kundenfreundlichen Dienstleistungs- und Behördenstruktur im unmittelbaren Wohnumfeld. Für die soziale Teilhabe ist die Bereitstellung eines breiten Angebots von Kultur- und Freizeitangeboten wichtig, vor allem aber auch die Schaffung von Begegnungsräumen von und für Jung und Alt. Aber nicht der Staat allein kann es richten. In einer Bürgergesellschaft ist er fundamental auf die gestaltende Mitwirkung und Unterstützung durch die Bürger angewiesen, die sich in Initiativen, Vereinen und Verbänden und auch mit Unterstützung der Kirche und ihrer Caritas organisieren.


2. Impulse zum Thema Pflegebedürftigkeit

Die letzte Pflegestatistik vom 31.12.2009 zeigt, dass rund 1,62 Mio. pflegebedürftige Menschen ambulant und ca. 0,7 Mio. stationär versorgt werden. Wenngleich also rund 700.000 pflegebedürftige Menschen im Pflegeheim leben, sagen immer noch mehr als 80 % der Bevölkerung in Deutschland, dass sie auch bei Pflegebedürftigkeit nicht in einem Pflegeheim wohnen, sondern möglichst von Angehörigen unterstützt in der gewohnten Umgebung weiter leben möchten. Diesem Wunsch entspricht die Tatsache, dass der größte "Pflege- und Unterstützungsdienst" unserer Gesellschaft die Angehörigen sind. Ich finde es sehr begrüßenswert, dass das Papier der Bischöfe darauf ausdrücklich hinweist.

2.1. Politische Teilhabe

Das Wort der Bischöfe geht außerdem darauf ein, dass Pflege, Beruf und Familie oft nur schwer in Einklang zu bringen sind. Der Anteil der Erwerbstätigen ist bei pflegenden Frauen und Männern niedriger, während sich die finanziellen Belastungen der Betroffenen erhöhen. Aber auch die körperlichen und seelischen Belastungen nehmen zu. Pflegende Angehörige haben im Vergleich zur Gesamtbevölkerung auffällig mehr körperliche Beschwerden.

Die Kirche und ihre Caritas wollen ein anderes Altersbild fördern. Viele ältere Menschen engagieren sich für andere und wollen ihr Lebensumfeld aktiv mit gestalten. Die Möglichkeiten der Partizipation und die Bereitschaft zum bürgerschaftlichen Engagement müssen gestärkt werden. Die neuen Formen des Engagements dürfen nicht als Bedrohung des beruflichen Hilfesystems betrachtet werden. Viele Ältere wünschen sich, mitreden zu können. Sie wollen vor allem in ihrem sozialen Umfeld in Planungs- und Entscheidungsprozesse einbezogen werden. Rahmenbedingungen und Beteiligungsstrukturen, die dieser großen Engagementbereitschaft Rechnung tragen, sind allerdings erst vereinzelt zu finden. Pflegende Angehörige brauchen neben der bekannten Unterstützung für ihren konkreten Pflegealltag ebenfalls Befähigung zur politischen Teilhabe: Im Sinne der "Pflege der Pflegenden" wird in der Caritas viel getan. Pflegende Angehörige brauchen aber noch mehr. Sie brauchen Befähigung und Ermutigung bei ihrer Interessenvertretung.

In der Caritas haben wir ein Modellprojekt durchgeführt, pflegende Angehörige nicht nur als wichtige Pfleger und Pflegerinnen wahrzunehmen, sondern ihre Kompetenzen und Erfahrungen anzuerkennen. Diese Wertschätzung findet ihren Ausdruck darin, dass ihnen neben Mitwirkungsmöglichkeiten auch Mitbestimmungsrechte eingeräumt werden. Ein Wandel von einer eher passiven Rolle zu einem informierten aktiven Entscheidungsträger wird gefördert. Pflegenden Angehörigen wird so Teilhabe ermöglicht. Sie werden ermutigt, mehr Mitsprachemöglichkeiten vor Ort einzufordern und zu aktiven Mitgestaltern der gesetzlichen und strukturellen Bedingungen für die Pflege und ihre Lebenssituation als pflegende Angehörige zu werden. Dieses Modellprojekt sollte Schule machen. Für die nächste Pflegeversicherungsreform, die voraussichtlich in den nächsten Monaten erste Konturen annehmen wird, macht sich das Papier der Bischöfe für die Umsetzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs stark (vgl. S. 22). Hier setzen die Bischöfe einen sehr deutlichen Impuls. Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff muss wesentliche Grundlage der weiteren Überlegungen der Pflegereform sein. Ein politisch höchst brisantes Thema ist die Finanzierung der Pflegeversicherung.

2.2. Die Finanzierung der Pflegeversicherung

Der Deutsche Caritasverband hat dazu schon bei der Reform 2008 den Aufbau eines Kapitalstocks vorgeschlagen. Zudem wird ein Risikostrukturausgleich zwischen sozialer und privater Pflegeversicherung gefordert sowie die Steuerfinanzierung der Ausgaben für Kinder. Bisher noch unberücksichtigt sind die Kosten, die sich durch die Veränderung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs ergeben. Nach Berechnungen der Experten, die verschiedene Szenarien vorschlagen, kann sich aus den Veränderungen der Leistungsstruktur für die pflegebedürftigen Menschen eine Ausgabensteigerung von fast kostenneutral bis zu einem Mehrbedarf von 3,6 Mrd. Euro ergeben.

Damit pflegebedürftige Menschen auch noch in einigen Jahren die notwendigen Angebote erhalten, muss sich die Gesellschaft um die Bildung und Qualifizierung der jetzigen und künftigen Mitarbeitenden kümmern. Auch dies fordern die Bischöfe deutlich ein (vgl. Kap. 3.3.). Der Fachkräftemangel wird nicht allein durch eine längere Verweildauer im Tätigkeitsfeld oder durch Zuwanderung behoben werden können. Es werden auch technische und bauliche Anpassungen notwendig sein. Das Potential der Menschen, die ein bestimmtes Bildungsniveau nicht erreichen können oder wollen, ist ebenfalls in die Lösung einzubeziehen.

2.3. Stärkung von verschiedenen Pflegeformen

Einen hohen Stellenwert misst der Beitrag der Bischöfe der Stärkung der häuslichen Pflege bei. Dieser Aspekt durchzieht das gesamte Papier. Als wesentliche Ansatzpunkte hierfür werden in Kapitel 3.3. der Ausbau der Tagespflege, der Kurzzeitpflege und der Ersatzpflege genannt. Alle drei Leistungen sind auch ein Beitrag zu einer wirksamen Entlastung pflegender Angehöriger.

Ersatzpflege oder Verhinderungspflege sollte jedoch unbürokratischer in Anspruch genommen werden können. Gerade bei der Ersatzpflege gilt es für die pflegenden Angehörigen oft, hohe Hürden zu nehmen. So verweigern einige Kassen beispielsweise die Kostenübernahme für die Ersatzpflege, wenn diese regelmäßig an einem bestimmten Wochentag in Anspruch genommen wird, mit dem Verweis, dass es sich dann nicht um Ersatzpflege handeln könne, sondern um eine regelmäßig in Anspruch genommene ambulante Sachleistung. Zudem sollte Ersatzpflege schon mit Beginn der Pflegebedürftigkeit eines Angehörigen in Anspruch genommen werden können und nicht erst nach einer sechsmonatigen Vorpflegezeit. Auch bei der Kurzzeitpflege sind verschiedene Korrekturen notwendig.

Mit der letzten Pflegereform wurde die Tagespflege bereits ausgebaut. Die Leistungen für pflegebedürftige Menschen wurden deutlich verbessert. Dieser Schritt hat die Nachfrage nach Tagespflege erhöht und unsere Einrichtungen konnten ihr Leistungsangebot entsprechend ausweiten. Die Bischöfe regen an, bei der anstehenden Reform noch einen Schritt weiter zu gehen und die Tagespflege zu einer eigenständigen Leistungsform auszubauen. Besonders intensiv wird die Tagespflege von Menschen mit Demenz in Anspruch genommen und der Aspekt der Betreuung spielt daher im Leistungsprofil der Tagespflege eine wichtige Rolle. (Vor diesem Hintergrund könnten wir uns vorstellen, die mit der letzten Pflegereform 2007 eingeführten zusätzlichen Betreuungskräfte nach õ 87b auch in der Tagespflege einzusetzen. Dafür müssten entsprechende gesetzliche Rahmenbedingungen geschaffen werden.) Von zentraler Bedeutung für die häusliche Betreuung von pflegebedürftigen Menschen ist ein entsprechendes Wohn- und Betreuungsangebot. Ich spreche mich ausdrücklich für den Ausbau neuer Wohn- und Versorgungsformen aus, wie z.B. von Wohngemeinschaften für demenziell Erkrankte. Neue Versorgungsformen müssen erprobt werden. Diesen Aspekt streicht auch das Wort der Bischöfe deutlich (Kap. 3.2.) heraus.

Gefördert werden sollen beispielsweise Projekte, die selbstständig von pflegenden Angehörigen initiiert und organisiert werden oder Modelle der Pflege, bei denen andere Menschen als die Angehörigen die Pflege übernehmen. So ist z.B. die Pflege in Gastfamilien ein noch nicht sehr weit verbreitetes, aber erfolgreiches Modell. Dabei nehmen Gastfamilien psychisch kranke oder demenzerkrankte Menschen bei sich auf und betreuen sie gegen ein monatliches Entgelt, entweder über eine längere Phase oder auch begrenzt. Nicht zuletzt gilt es, gemeinsam mit den Ländern die niedrigschwelligen Angebote auszubauen. Diese sollen aber nicht nur demenziell erkrankten Menschen, sondern allen Pflegebedürftigen zugute kommen. Auch die Finanzierung sollte flexibilisiert werden. So sollten diese Angebote auch aus der Pflegesachleistung oder anteilig aus der Kombinationsleistung der Pflegeversicherung bzw. dem Pflegebudget finanziert werden können.


3. Menschenwürdige Pflege - gutes Altern

Alt werden wir alle mal - vielleicht auch pflegebedürftig. Jeder wünscht sich ein gesegnetes Altern mit guter Gesundheit und Menschen, die einem nahe stehen. Gerade weil wir alle diesen Wunsch haben, geht uns das Alter und auch die Pflege alle etwas an. Jeder trägt Selbst- und Mitverantwortung für das eigene Altern und das von anderen. Wir können viel dazu beitragen, damit Pflegebedürftigkeit leichter zu bewältigen ist. Das Papier der Deutschen Bischöfe zeigt dazu viele Wege auf.

Diese reichen von der eigenen Auseinandersetzung mit dem Thema, über das offene Ohr und die Unterstützung von Menschen, die ihre Angehörigen pflegen. Es lädt dazu ein, ein neues Bewusstsein für die Bedeutung von Pflegeberufen und pflegerischen Tätigkeiten zu entwickeln und zu fördern. Notwendig sind aber auch die entsprechenden Rahmenbedingungen für eine gute Pflege zuhause oder in anderen Versorgungsformen. Auch das Problem der Finanzierung der Pflegeversicherung können wir im Interesse kommender Generationen nicht auf die lange Bank schieben. Ich bin den Deutschen Bischöfen dankbar für ihre Impulse, an denen wir aktiv mitarbeiten konnten. Die Bischöfe zeichnen damit eine Vision, wie gute Pflege künftig möglich bleibt und wird! Die Caritas mit ihren Einrichtungen und Diensten ist daran schon lange beteiligt und wird dies auch in Zukunft engagiert weiter tun.


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Quelle:
Pressemitteilung Nr. 129, 129a und 129b vom 7. September 2011
Herausgeber: P. Dr. Hans Langendörfer SJ,
Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz
Deutsche Bischofskonferenz
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. September 2011