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KIRCHE/486: Zukunftsfähigkeit braucht umfassende Nachhaltigkeit (EKD)


Evangelische Kirche in Deutschland - Pressemitteilung vom 27.04.2007

Zukunftsfähigkeit braucht umfassende Nachhaltigkeit

Wolfgang Huber: "Kirchen müssen der Sand im Getriebe sein"


Es gilt das gesprochene Wort

Einen Mentalitätswandel angesichts der globalen Klimaveränderungen hat der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Bischof Wolfgang Huber, gefordert. Länder wie Deutschland, die überproportional viel Treibhausgase und Kohlendioxid ausstießen, trügen eine besondere Verantwortung, erklärte Huber bei einem Vortrag am 27. April in Nürtingen. Zukunftsfähiges Handeln müsse sich an den Grundsätzen der Nachhaltigkeit und des Generationenvertrages ausrichten.

Der Beitrag der christlichen Kirchen zu einem solchen Mentalitätswandel erschöpfe sich nicht darin, Werte bereitzustellen und dadurch für das "Schmieröl des gesellschaftlichen Motors" zu sorgen. Vielmehr müssten ihre Äußerungen "in bestimmten Fällen wie der Sand im Getriebe" wirken, so der Ratsvorsitzende. "Denn die Wahrheit, für die sie eintreten, richtet sich nicht nach gesellschaftlichen Bedürfnissen und fügt sich nicht ins politische Machtkalkül. Diese Wahrheit bezieht sich darauf, dass Gott sich in einem Menschen offenbart, der den Mächtigen ein Ärgernis ist, sich dem gewohnten Tempelkult verweigert und sich den Niedrigen helfend zuwendet."

Im Blick auf die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft gelte es, neben der ökologischen und der ökonomischen auch die soziale und kulturelle Nachhaltigkeit anzustreben. Die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft entscheide sich auch daran, "ob wir die Institutionen des sozialen Zusammenlebens pfleglich behandeln, ob wir unsere kulturelle Identität bewusst bewahren und weiterentwickeln." Ansonsten drohe der Verlust wichtiger Elemente des sozialen Zusammenhaltes, ohne dass tragfähiger Ersatz in Aussicht stehe.

Der Umgang mit dem Sonntagsschutz sei ein Beispiel dafür, erklärte Bischof Huber. In der Diskussion um den Sonntagsschutz gehe es um die Bewahrung einer wichtigen sozialen Institution, "um die kulturelle Qualität des Zusammenlebens, um den Raum für die Freiheit der Religion". Eine Aushöhlung des Sonntagsschutzes entspreche keineswegs der Religionsneutralität des Staates, betonte Huber. "Sondern ein solches Verhalten bevorzugt eine religionslose, ja atheistische Einstellung. Das ist gerade kein Ausdruck von Religionsneutralität, sondern von religiöser Parteinahme, wenn auch in antireligiöser Absicht." Die Kirchen wollten nicht zulassen, "dass das Menschenbild in unserer Gesellschaft auf Konsumentengröße gestutzt wird".


*


Es gilt das gesprochene Wort!

Die Bedeutung christlicher Werte für die Zukunft der Gesellschaft Bischof Dr. Wolfgang Huber Ratvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland am 27. April 2007 in Nürtingen

I.

Ein geflügeltes Wort verbindet die christliche Tradition und einen zukunftsweisenden Blick voraus auf eine besondere Weise miteinander: "Nach uns die Sintflut". So heißt dieses geflügelte Wort.

Es handelt sich dabei um ein gutes Beispiel dafür, wie prägend die Bibel, der christliche Glaube und die Tradition der Kirche nach wie vor für unsere Gesellschaft und für die gesellschaftliche Verständigung sind. Freilich ist der Inhalt solcher prägender Traditionen oder überlieferten Redewendungen oft nahezu unbekannt. So ist es auch in diesem Fall. Denn um den Ausdruck "Nach uns die Sintflut" zu verstehen, braucht man etwas Wissen über die Geschichten der Bibel, über die Inhalte der christlichen Religion. Der Umgang mit diesem Wissen ist heute umstritten; dass es zur allgemeinen Bildung gehört, ist nicht mehr selbstverständlich. Manche meinen sogar, es sei nicht einmal zu verantworten, dieses Wissen an die eigenen Kinder weiterzugeben, weil eine Einführung in die Überlieferungen des christlichen Glaubens sie in ihrer freien Entscheidung diesem Glauben gegenüber und somit in ihrem freien Willen einschränken würde. Schränkt es sie wirklich weniger ein, wenn ihnen die Möglichkeit vorenthalten wird, einen solchen Satz verstehen zu können? Ist es eine Einschränkung, wenn ich meinen Kindern Deutsch beibringe, obwohl ich weiß, dass es unendlich viele andere Sprachen gibt, die natürlich ethisch absolut gleichrangig sind? Oder eröffnet die Einführung in diese eine Tradition den Kindern nicht gerade erst die Möglichkeit, auch die anderen kennen zu lernen und eine verantwortlic he eigene Entscheidung zu treffen?

"Nach uns die Sintflut" - dieses geflügelte Wort ist aber nicht nur ein Beispiel für die Prägekraft des Christentums in Geschichte und Gegenwart; ihm entspricht auch nach wie vor die Einstellung vieler Menschen. "Was gehen mich die Folgen meines Handelns an?" fragen sie und beantworten sich diese Frage gleich selbst mit dem Hinweis auf die Sintflut. Eine Haltung ist damit angesprochen, die keineswegs einen Hinweis auf die Wertschätzung und damit auch nicht auf die Wertbildung ihres eigenen Handelns zu geben vermag.

Dabei ist in unseren Tagen das Bewusstsein dafür dramatisch gewachsen, welch ungewollte Aktualität diesem Ausspruch zukommt. Sintflutartige Regenfälle oder Dürrekatastrophen sind die Begleiterscheinungen eines von uns Menschen verantworteten dramatischen Wandels des globalen Klimas. Dies ist zuletzt vehement unterstrichen worden durch den Klimareport der Zwischenstaatlichen Sachverständigengruppe über Klimaänderungen (IPCC). Einzelaussagen dieses Berichts mögen umstritten sein; im Blick auf manche Folgerungen mögen die Meinungen geteilt bleiben. Die Einsicht, dass der globale Klimawandel durch menschliches Handeln verursacht ist, erhält in diesem Bericht eine erdrückende Wahrscheinlichkeit. Dann aber ist die Folgerung unabweisbar, dass Länder, die am Ausstoß von Treibhausgasen und an der Emission von Kohlendioxid überproportional beteiligt sind, auch im Blick auf den Klimawandel eine herausgehobene Verantwortung tragen. Deutschland gehört zu diesen Ländern. Das aber setzt nicht nur pragmatisch richtige Entscheidungen voraus; wenn Herausforderungen dieser Art wirklich bestanden werden sollen, ist vielmehr ein Mentalitätswandel vonnöten. Er hat es im Kern mit der Frage zu tun, ob wir uns nur das vornehmen, was für uns selbst und für die eigene Generation vorteilhaft ist, oder ob wir zur Verantwortung für das Leben und die Lebensbedingungen künftigen Generationen bereit sind. "Nachhaltigkeit" heißt das Stichwort, das man auf die Herausforderung durch den Klimawandel wie auf viele andere gesellschaftliche Herausforderungen anwenden kann. Was tragen die christliche Tradition und der christliche Glaube zu einem solchen Mentalitätswandel bei?

Die christlichen Kirchen und die christliche Theologie bilden keine "Bundesagentur für Werte"; ihr Auftrag erschöpft sich nicht darin, Werte bereitzustellen und dadurch für das Schmieröl des gesellschaftlichen Motors zu sorgen. Was sie zu sagen haben, muss vielmehr in bestimmten Fällen eher wie der Sand im Getriebe wirken. Denn die Wahrheit, für die sie eintreten, richtet sich nicht nach gesellschaftlichen Bedürfnissen und fügt sich nicht ins politische Machtkalkül. Diese Wahrheit bezieht sich nämlich darauf, dass Gott sich in einem Menschen offenbart, der den Mächtigen ein Ärgernis ist, sich dem gewohnten Tempelkult verweigert und sich den Niedrigen helfend zuwendet. Dass Gott in ihm sein menschliches Antlitz zeigt, ist so befremdlich, dass der natürliche religiöse Instinkt immer wieder dazu neigt, den Glauben an Gott haben zu wollen, ohne dafür auf den Gekreuzigten schauen zu müssen.

Doch auch aus dieser radikalen, an Jesus Christus als dem gekreuzigten und auferstandenen Herrrn orientierten Haltung heraus tragen die christlichen Kirchen und die christliche Theologie zugleich auf eine bestimmte Weise zu den die Gesellschaft prägenden Vorstellungen und den daraus abgeleiteten ethischen Maßstäben. Dabei wissen sie sich in eine Hoffnungsperspektive hineingestellt, die sich am kürzesten in den Worten erfassen lässt, mit denen die biblische Erzählung von der Sintflut schließt "So lange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht" (1. Mose 8, 22). Da sind wir also noch einmal bei der Sintflut. Wir wollen bei ihr noch einen Augenblick verweilen, um dahinter zu kommen, woher dieser Ausspruch eigentlich stammt, der heute ein verbreitetes Lebensgefühl kennzeichnet: "Nach uns die Sintflut".


II.

Nach dem biblischen Zeugnis hat die Sintflut, die die gesamte Erde überschwemmt und nur Noah mit seiner Familie und den Tieren auf der Arche übrig lässt, eine doppelte Bedeutung.

Sie ist zum einen eine Strafe für die sündhafte Undankbarkeit und Gewaltneigung des Menschen. Davon ist Gott, so sagt es das Bild von der Sintflut, so enttäuscht, dass er diese Welt nicht mehr vor Augen haben will. Die Sintflut trägt also alle Züge einer zerstörerischen Überschwemmung, der Lebewesen in großer Zahl zum Opfer fallen. Wenn man die Sintflutgeschichte von dieser Seite her anschaut, dann fällt es schwer, sie mit dem Glauben an Gott als den Schöpfer zusammen zu bringen, der ansah, was er geschaffen hatte und siehe, es war sehr gut - wie es im biblischen Schöpfungsbericht heißt. Diese zerstörerische Antwort auf das zerstörerische Handeln des Menschen lässt sich aus dieser Perspektive nur schwer verbinden mit dem Bekenntnis zu dem Gott, der ein Liebhaber des Lebens ist.

Doch die Sintflut wird in der Bibel zugleich von einer anderen Seite her wahrgenommen. Die Erschütterung über die göttliche Reaktion auf das von Menschen herbeigeführte Unheil behält nicht das letzte Wort. Vielmehr wird die Sintflut in der Bibel im Kern als etwas Positives dargestellt - und das ist ihre andere Dimension - , nämlich als Reinigung. Sie wird - in der Liturgie der Osternacht wird das bis zum heutigen Tag deutlich - als ein auf die ganze Erde bezogener Vorgang gedeutet, der in der Taufe des einzelnen Menschen seine persönliche Entsprechung findet. Sie wird zum Zeichen der Bewahrung. "Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen, denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. (...) Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht. (...) Und ich richte meinen Bund so mit euch auf, dass hinfort nicht mehr alles Fleisch verderbt werden soll durch die Wasser der Sintflut und hinfort keine Sintflut mehr kommen soll, die die Erde verd erbe." So heißt es am Ende der Sintflutgeschichte 1. Mose 8, 21 f.; 9, 11). Und das Zeichen des göttlichen Bundes mit Noah ist der Regenbogen, der immer an dieses Versprechen erinnern soll. Der Regenbogen, der sich am Firmament spannt, wird zum Zeichen dafür, dass Gott seiner Schöpfung treu bleibt und den Menschen, so abtrünnig er auch ist, am Leben erhält.

Würden wir diesen Gedanken zu Ende denken, ließe sich dem "Nach uns die Sintflut" sogar ein positiver Sinn abgewinnen. Wenn dieser Satz das Vertrauen spiegeln würde, Gott werde uns und die Folgen unseres Handelns reinigen, wenn mit diesem Satz also die Hoffnung auf einen Neubeginn verbunden wäre, dann ließe sich darüber ja reden. Wenn darin das Zutrauen zum Ausdruck kommt, dass wir im Vertrauen auf die Segenszusage Gottes mit der uns anvertrauten Zukunft verantwortlich umgehen wollen - dann, ja dann gewinnt dieser Satz eine ganz neue Bedeutung. So aber ist es offensichtlich nicht gemeint.


III.

Das geflügelte Wort "Nach uns die Sintflut" geht auf die Marquise von Pompadour (1721-1764) zurück, die Maîtresse des französischen Königs Ludwig XV. Die Szene spielt in der Zeit des Siebenjährigen Kriegs. Angesichts der verlorenen Schlacht bei Roßbach - in der Nähe von Merseburg gelegen - im Jahr 1757 ist dieses Wort entstanden. In dieser Schlacht hatte Friedrich der Große innerhalb von wenigen Stunden die gegnerische Armee geschlagen und damit die Voraussetzung für den Sieg von Leuthen geschaffen. Dieses Desaster kommentierte die Geliebte des französischen Königs mit dem Satz: "Après nous le déluge" - "nach uns die Sintflut". Das war nicht frivol, sondern vorahnend gemeint: Jetzt kann es nur noch ganz schrecklich kommen.

Ein Jahr später münzte der Abbé de Mably dieses Wort auf das Verhalten des französischen Parlaments: "L'avenir les inquiète peu: après eux le déluge" - "Die Zukunft beunruhigt sie wenig: nach ihnen die Sintflut." In dieser Fassung enthält der Ausdruck eine der schärfsten Anfragen an politisch Verantwortliche, die je formuliert wurden: Wer nach dem Grundsatz verfährt "Nach uns die Sintflut", versündigt sich an der Zukunft. Die desaströsen Umstände sind ihm gleichgültig, vor denen er die eigene Haut zu retten versucht. Individualisierung ohne Rücksicht auf die Konsequenzen, purer Egoismus ohne ein Bedenken der Folgen, eine Politik des kurzfristigen und kurzatmigen Machterhalts, die Preisgabe der Nachhaltigkeit, Wertsteigerung statt Wertebildung: das sind die Haltungen, die mit dem Bildwort von der Sintflut dann gemeint sind.


IV.

Mit der Sintflut ist nicht zu rechnen. Die Bundeszusage Gottes, von der die alttestamentliche Sintflutgeschichte berichtet, hat sich bewährt. Die Sintflutangst, wie sie sich vor dem Jahr 1524 noch einmal in Europa ausgebreitet hat, weil ein angesehener Astrologe eine entsprechende Konstellation vorausgesagt hatte, gehört der Vergangenheit an. Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht bestimmen bei aller technischen Weiterentwicklung bis heute unseren Lebensrhythmus. Die Kenntnis dieses sich Jahr für Jahr neu entwickelnden Zyklus ist die Grundlage nicht nur für wirtschaftlichen Erfolg, sondern auch für unsere Ernährung. Und gleichzeitig erleben wir immer stärker, dass dieser Rhythmus zwar im Großen beständig, im Detail aber sehr gefährdet ist. Er wird von Menschenhand beeinflusst und verändert. Genau in dieser Hinsicht verwandeln sich die Errungenschaften der modernen Wissenschaft in Gefährdungen, wenn beispielsweise durch die Emission von Treibhausgasen die Klimaerwärmung forciert oder durch die Begradigung von Wasserläufen die Hochwassergefahr erhöht wird. Wir spüren, dass der kurzfristige Vorteil nicht dafür bürgt, dass unser Handeln langfristig verantwortbar ist.

Das Wissen, dass die Verantwortung für unser Handeln dessen langfristige Folgen einschließt, ist in der Land- wie in der Forstwirtschaft seit Jahrhunderten fest verankert. Das heute so beliebte Wort "Nachhaltigkeit" ist zuerst überhaupt für die Forstwirtschaft geprägt worden. Sie musste nämlich auf den guten Altersaufbau eines Waldes achten, wenn ein langfristiger Ertrag gesichert werden sollte. Hier wurde zunächst die Vorstellung von einem Generationenvertrag geprägt, dem zufolge wirtschaftlich effektives Handeln sich nicht nur am eigenen Vorteil, sondern auch am Nutzen für die nächste Generation ausrichtet. Heute sehen wir - zumindest ansatzweise - ein, dass zukunftsfähiges Handeln sich an solchen Grundsätzen der Nachhaltigkeit und des Generationenvertrags ausrichten muss. Dass diese Art von Verantwortung für unsere Zukunftsfähigkeit, für die Bildung tragender Werte, für die Nachhaltigkeit unseres Lebens und Wirtschaftens von entscheidender Bedeutung ist.

Doch selbstverständlich sind solche Einsichten nicht. Meistens beschränkt man die Anwendung dieser Konzeption auf den Bereich der Ökologie. Doch so wichtig dieser Bereich ist, so wichtig ist es, dass wir neben der ökologischen und der ökonomischen auch die soziale und kulturelle Nachhaltigkeit im Blick haben. Ob unsere Gesellschaft zukunftsfähig ist, entscheidet sich nicht nur daran, ob wir mit den natürlichen Ressourcen verantwortlich umgehen und unsere Wirtschaft leistungs- und wettbewerbsfähig erhalten. Es entscheidet sich ebenso daran, ob wir die Institutionen des sozialen Zusammenlebens pfleglich behandeln, ob wir unsere kulturelle Identität bewusst bewahren und weiterentwickeln, ja, ob es uns gelingt, ein Bild von der Zukunft unserer Gesellschaft zu entwerfen. Sonst könnte es sein, dass wir wichtige Elemente des sozialen Zusammenhalts und des kulturellen Erbes innerhalb kurzer Zeit verspielen, ohne dass irgendein tragfähiger Ersatz dafür in Aussicht steht.


V.

Am Beispiel des Sonntags erläutere ich, was ich meine. Nachdem die Zuständigkeit für Fragen der Ladenöffnung durch die Föderalismusreform auf die Bundesländer übergegangen ist, kündigen sich regional höchst unterschiedliche Reaktionen an. Manche Bundesländer scheinen gewillt zu sein, die bisher möglichen vier verkaufsoffenen Sonntage pro Jahr zu reduzieren - aus Respekt gegenüber dem Verfassungsgebot, den Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage, wie Artikel 140 Grundgesetz in Verbindung mit Artikel 139 der Weimarer Reichsverfassung sagt, "als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung" zu achten. In Baden-Württemberg scheint man bisher diesen Weg gehen zu wollen. Andere Bundesländer dagegen meinen, die Umsatzchancen des Handels steigern zu können, indem sie die Zahl der verkaufsoffenen Sonntage erweitern und dabei auch alle Adventssonntage einbeziehen. Besonders Kluge entwickeln eine "Bäderregelung", nach der Menschen, die im Meer oder auch nur in der Sonne baden wollen, einen besonders hohen Konsumbedarf haben und deshalb auch am Sonntag offene Geschäfte vorfinden müssen. Unlängst hat man diese Regelung auch auf die Stadt Potsdam angewandt. Dann sind die Geschäfte plötzlich an vierzig Sonntagen im Jahr geöffnet.

Der besondere Schutz des Sonntags wird durch solche Entwicklungen in sein Gegenteil verkehrt. Ein solches Vorhaben nimmt den Menschen nur noch als Konsumenten wahr. Der Eindruck drängt sich auf, dass die Pflicht zum Schutz des Sonntags, die sich aus den entsprechenden Verfassungsbestimmungen ergibt, bei solchen Vorhaben überhaupt nicht im Bewusstsein ist. Wer die Wertebasis des gesellschaftlichen Zusammenlebens stärken will, muss sorgsam mit den Institutionen der Sozialkultur umgehen.

Die christlichen Kirchen bringen in diese Diskussion das christliche Menschenbild ein. Wir sagen deutlich: Der Sonntag ist als Tag des Gottesdienstes, der Muße und der Besinnung zu erhalten. "Ohne Sonntag gibt es nur noch Werktage" - dieser Satz, den wir als evangelische Kirche vor wenigen Jahren in einer öffentlichen Kampagne vertreten haben, gilt auch heute. Denn es geht in der Diskussion um den Sonntagsschutz um die Bewahrung einer wichtigen sozialen Institution, um die kulturelle Qualität des Zusammenlebens, um den Raum für die Freiheit der Religion. Dabei muss man betonen, dass eine Aushöhlung des Sonntagsschutzes, wie dies Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio deutlich gemacht hat, keineswegs der Religionsneutralität des Staates entspricht. Sondern ein solches Verhalten bevorzugt eine religionslose, ja atheistische Einstellung. Das ist gerade kein Ausdruck von Religionsneutralität, sondern von religiöser Parteinahme, wenn auch in antireligiöser Absicht.

Es ging und es geht uns als evangelischer Kirche um Nachhaltigkeit und um einen christlich geprägten Wert, den ich für die Zukunft unserer Gesellschaft für ein unerlässliches Gut halte. Wir wollen nicht zulassen, dass das Menschenbild in unserer Gesellschaft auf Konsumentengröße gestutzt wird. Der Sonntag ist ein Symbol für die Würde und die Freiheit, die dem Menschen von Gott aus zukommt und durch die das Bild des Menschen in unserer Gesellschaft grundsätzlich geprägt ist. Ich wünschte, unsere Gesellschaft insgesamt könnte den Sonntag mit den Worten begrüßen: "Gott sei Dank, es ist Sonntag!"


VI.

Mit den beiden Stichworten der Freiheit und der Würde ist der Horizont angedeutet, in dem ich die Bedeutung christlicher Werte für die Zukunft der Gesellschaft beschreiben möchte. Aber ich trete noch einmal von den drängenden gesellschaftlichen Herausforderungen zurück und frage mich: Was ist eigentlich der Beitrag einer christlichen Gemeinde, der von niemand anders erbracht werden kann? Was tun Christen, das andere nicht genauso tun könnten? Wenn ich so frage, stoße ich auf die Antwort: Von allen anderen Gemeinschaften unterscheidet die christliche Gemeinde sich dadurch, dass sie Gottesdienst feiert. Von der Lebensgestaltung anderer Menschen unterscheidet sich die Lebensgestaltung von Christen zu allererst dadurch, dass sie beten. Der wichtigste Beitrag christlicher Kirchen für die Zukunft der Gesellschaft ist - aus dieser Perspektive betrachtet - das Gebet.

Die christlichen Kirchen entdecken ihren Auftrag neu, dass sie Räume für die Begegnung mit dem Heiligen und Anlässe zur Vergewisserung im Gebet schaffen. Das gehört zu ihrem Auftrag in einer Gesellschaft, die das Beten verlernt hat und es immer wieder neu lernen muss. Viele sind ungeübt in der Sprache des Gebets, die so einfach ist, weil sie aus dem Herzen kommt, und doch so schwer, weil das Gebet im Vertrauen auf Gott seinen Grund hat. Vorgegebene Gebete wie die Psalmen und das Vaterunser sind eine große Hilfe dabei, sein Herz vor Gott auszuschütten. Doch auch das Nutzen dieser Formen will geübt und gelernt werden. Glaubende sind neu gefordert, Lehrer des Betens zu werden.

Wenn viele Menschen der religiösen Dimension des Lebens heute für sich wieder einen neuen Wert beilegen, dann lässt sich dies kaum vorstellen, ohne dass der Wunsch, mit Gott zu reden, innerlich erwacht. Wer betet, weiß sich Gott und den Menschen gegenüber verantwortlich. "Der Beter lernt das Wünschen, er wächst in die Gabe des Zorns gegen das Unrecht, er verliert seine Gleichgültigkeit. Er lernt den Willen Gottes. In diesem Sinne bildet Beten" (Fulbert Steffensky). Indem der Beter in Klage und Dank, in Bitte und Fürbitte vor Gott tritt, sieht er seine Welt mit Gottes Augen.

Der Beter weiß um die Grenze, die allem menschlichen Tun und Wollen gesetzt ist. Er weiß zugleich, dass sein Leben auf Voraussetzungen beruht, die es sich nicht selbst geben konnte, und dass es deshalb auch über die jedem menschlichen Leben gesetzten Grenzen hinausweist. Beten macht verantwortlich; es stimmt in die Aufgabe ein, Verantwortung für das Geschehen um mich herum zu übernehmen. Wer betet, weiß sich der Welt in Gottes Namen verantwortlich. Er lernt, Unrecht beim Namen zu nennen und nach dem Weg der Gerechtigkeit inmitten der Konflikte unserer Zeit Ausschau zu halten.

Solche Konflikte führen immer wieder vor Gott und in das Gebet. Hierbei denke ich beispielhaft an Konflikte für einzelne, die durch Tragödien wie Flugzeugabstürze, Naturkatastrophen oder Unfälle verursacht werden. Solche Tragödien kennen keine Grenzen der Religion; Juden, Christen oder Muslime sind von ihnen ebenso betroffen wie areligiöse Menschen. Ihren Schmerz, ihre Trauer wollen sie vor Gott bringen. Doch wenn von Religion und Glauben in solchen Situationen erwartet werden kann, dass sie beten und zum Gebet rufen, dann gewinnt die Frage, zu welchem Gott sie beten, neue Bedeutung.

Das ist eine der Situationen, in denen Verbundenheit und Unterscheidung der Religions- und Glaubensgemeinschaften in der pluralen Gesellschaft von ganz praktischer Bedeutung sind. Die Situation ruft nach einem Zeichen der gemeinsamen Hinwendung zu Gott. Zugleich tritt das Wissen um die unterschiedlichen Vorstellungen von Gott ins Bewusstsein. Diese Differenzerfahrung sollte nicht aus einer vermeintlich wohlmeinenden Absicht heraus überspielt werden; letztlich würde dies nur zu einer Selbstrelativierung der Glaubensgemeinschaften führen. Vielmehr ist von Religion und Glaube zu erwarten, dass sie ein kraftvolles Zeugnis des eigenen Glaubens geben und zugleich respektvoll mit dem fremden Glaubenszeugnis umgehen, ohne dass der Eindruck einer Vermischung der Religionen entstünde. Dies ist um des Wahrheitsanspruchs willen nötig. Christen bekennen sich zu Gott, der sich in Jesus Christus offenbart hat. Sie wissen sich mit auf dem Weg, den der Gott der Juden, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, seinem Volk verheißen hat. Trotz dieser Nähe zwischen Juden und Christen vollziehen Juden das Bekenntnis zu Gottes Offenbarung in Jesus von Nazareth nicht mit; das Gebet im Namen Jesu, das für das Christsein grundlegend ist, bleibt ihnen so verschlossen.

Noch stärker prägt eine solche Differenz das Verhältnis zwischen Christen und Muslimen; aber auch für das Gespräch zwischen ihnen gibt es Anknüpfungspunkte. Dass Christen und Muslime durch das Wissen um das Schöpfungswerk Gottes verbunden sind, ist genauso eine Gemeinsamkeit wie die Bindung an Abraham als Stammvater und auch der Bezug auf die Person Jesu. Doch gerade hier zeigen sich erhebliche Differenzen: "Die Heilsbedeutung von Jesu Tod und der Glaube an den dreieinigen Gott sind christliche Glaubensüberzeugungen, denen Muslime bei aller Wertschätzung Jesu als Prophet nicht folgen, die sie vielmehr ausdrücklich ablehnen" (EKD-Text 86, 115). So formuliert es die im November vergangenen Jahres veröffentlichte Handreichung des Rates der EKD zum Verhältnis von Christen und Muslimen.

Der Titel dieser Schrift ist programmatisch für das, was von dem interreligiösen Gespräch erwartet werden kann: "Klarheit und gute Nachbarschaft." Nach beidem gilt es aufrichtig und nüchtern, offen und gewaltfrei zu streben. Denn - so wiederum die Handreichung des Rates: "Die evangelische Kirche kann ... in jenen Gemeinsamkeiten " Spuren" ... oder Zeichen erkennen, dass sich der Gott der Bibel auch Muslimen nicht verborgen hat. Diese Spuren begründen aber keinen gemeinsamen Glauben und erst recht keine gemeinsame Verkündigung oder Frömmigkeitspraxis. Aber sie rufen doch Christen und Muslime auf, in dieser zerrissenen Welt Menschen auf Gott hinzuweisen" (EKD-Text 86, 19). Diese Einsicht hat uns dazu veranlasst, das interreligiöse Gebet klar auszuschließen, aber es durchaus für möglich zu halten, aus besonderem Grund und in besonderer Weise bei dem Gebet des andern schweigend und respektvoll anwesend zu sein.


VII.

Dreh- und Angelpunkt der Wertorientierung, die der christliche Glaube in die Auseinandersetzungen unserer Gegenwar einbringt, ist die Würde des Menschen. Was damit gemeint ist, will ich an einer kleinen Begebenheit verdeutlichen.

Der französische Bischof Jacques Gaillot erzählt von einem Mann, der im Pariser Gare du Nord eine Obdachlosenzeitung verkauft. Ein Reporter kommt des Weges und sagt: "Nicht wahr, diese Aufgabe gibt Ihnen die Würde zurück." Der Mann schüttelt den Kopf, lächelt und sagt: "Meine Würde? Die habe ich nie verloren."

Die Schilderung dieser kurzen Begebenheit am Gare du Nord fasst die beiden entscheidenden Gegenpositionen für den Umgang mit der Würde des Menschen in eindrucksvoller Kürze zusammen. Während der Reporter die Menschenwürde wie eine Ausstattung ansieht, die verloren gehen und wieder erworben werden kann, hat der Obdachlose in all seiner Armut den Sinn dafür bewahrt, dass niemand ihm die Menschenwürde rauben kann.

Der eine fragt nach einer Würde, die der Mensch durch den Gebrauch seiner Freiheit, durch menschliche Leistung also, erwirbt. Diese Würde bleibt stets ein gefährdetes Gut; Abstürze sind nie ausgeschlossen. Je tiefer ein Mensch gefallen ist, desto bescheidener erscheinen die Schritte, mit denen er wieder etwas von seiner Würde zurückerobert. Diese Vorstellung von einer Würde, die erworben und verloren, gesteigert und gemindert werden kann, findet an der Selbsteinschätzung der Starken in der Gesellschaft ebenso einen Anhalt wie am beschädigten Selbstbewusstsein derer, die an den Rand gedrängt sind.

Doch so sehr eine Leistungsgesellschaft auch dazu verführt, die Würde vom Erfolg abhängig zu machen, so sehr zerstört sie damit die Würde selbst. Deshalb ist die Gegenposition so wichtig. Ihr Sprecher - der Obdachlose, der Zeitungen verkauft - sagt, seine Würde könne nicht verloren gehen. Sie ist in einer solchen Weise mit ihm verbunden, dass sie ein unzerstörbares Gut darstellt. Sein Verständnis menschlicher Würde ist dadurch bestimmt, dass keine weltliche Macht zu einer abschließenden Definition dessen befugt ist, was den Menschen zum Menschen macht.

Dies entspricht der Perspektive des christlichen Glaubens. Denn ihm erschließt sich der unveräußerliche Charakter der Menschenwürde daraus, dass die menschliche Person durch ihre Beziehung zu Gott konstituiert wird.

Gewiss ist dies nicht die einzige Möglichkeit, den Würdebegriff zu verstehen. Im Gegenteil liegt eine der Stärken dieses Begriffs gerade in seiner universalen Gültigkeit und damit in seiner Begründungsoffenheit für unterschiedliche weltanschauliche Zugänge. Deshalb braucht jedoch eine christliche Interpretation nicht zurückgehalten zu werden. Im Gegenteil: Sie ist schon deshalb gefordert, weil die Unverfügbarkeit der Menschenwürde durch die Beziehung zu Gott am konsequentesten ausgesagt wird.

Der Verzicht auf eine theologische Erschließung der Menschenwürde wäre geradezu verhängnisvoll, weil die gleiche und unantastbare Würde jeder menschlichen Person aus der profanen Vernunft allein nicht einsichtig gemacht werden kann. Vielmehr liegt der profanen Vernunft die Abstufung der Menschenwürde deshalb so nahe, weil sie in der empirischen Beobachtung viele Belege findet. Die Menschen in aller Unterschiedlichkeit der Lebensformen wie der Lebenschancen als gleich zu betrachten, ist nur möglich, wenn man sich an einem Widerlager orientiert, von dem her sich solche Unterschiede relativieren.

Kein Zweifel: Der universale Charakter der Menschenwürde ist erst dann wahrgenommen, wenn sie nicht nur auf alle Menschen im eigenen Land, sondern auf alle Menschen überhaupt bezogen wird. Die Menschenwürde ist das entscheidende Widerlager gegen ein Verständnis wirtschaftlicher Globalisierungsprozesse, in dem der Mensch nur als Produktions- und Konsumfaktor in den Blick tritt. Wer vom Begriff der Menschenwürde aus denkt, findet sich nicht damit ab, dass der Anspruch jedes Menschen auf Bildung auf den Gedanken reduziert wird, eine Gesellschaft müsse um ihrer Konkurrenzfähigkeit auf dem globalisierten Weltmarkt willen die in ihr vorhandenen Bildungsreserven heben. Ein evangelisches Verständnis der Menschenwürde beharrt auf deren Begründung aus der Gottesbeziehung nicht deshalb, damit auf neue Weise ein kirchlicher Herrschaftsanspruch aufgerichtet wird. Wir beharren auf der Begründung der Menschenwürde aus der Gottesbeziehung, weil wir überzeugt sind, gerade so der Unantastbarkeit wie der Unteilbarkeit der Menschenwürde zu dienen.

Die christlichen Kirchen können nicht für sich reklamieren, dass in ihnen der Gedanke der gleichen Menschenwürde aller stets bewusst gewesen oder widerstandslos akzeptiert worden wäre. Die Idee der Menschenwürde musste vielmehr oftmals gerade gegen den Widerstand von Theologie und Kirche durchgesetzt werden. Es verhält sich mit ihr ebenso wie mit der Verantwortung der Kirchen für den Frieden, die lange Zeit nur von Minderheiten erkannt und um den Preis des Außenseitertums vertreten wurde. Otto Umfrid, an den hier in Nürtingen in diesem Jahr besonders gedacht wird, ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür.

Erst im Zeitalter der Weltkriege trat die Friedensverantwortung der Kirchen neu ins Bewusstsein. Und erst die Erfahrung massivster Menschenrechtsverletzungen im 20. Jahrhundert hat zu einer Neuorientierung geführt, die sich in der Gestalt eines bemerkenswerten ökumenischen Lernprozesses vollzogen hat. Die Unaufgebbarkeit der ökumenischen Zusammenarbeit findet hier einen besonders wichtigen Grund: an dem gemeinsamen und wechselseitigen Lernprozess in Fragen des Friedens und der Menschenrechte.


VIII.

Eine große Nähe zur Entdeckung der Menschenwürde hat aus heutiger Sicht die reformatorische Entdeckung der Freiheit. Denn beide führen das Individuum über sich hinaus, verbinden es mit dem Nächsten und mit einem größeren Ganzen, mit Gott selbst. Ebenso, wie es heute notwendig ist, die Verankerung des Menschenwürdeprinzips im christlichen Glauben neu ins Bewusstsein zu heben, ist es heute auch angezeigt, den Freiheitsgedanken in seiner reformatorischen Prägung neu zur Sprache zu bringen.

Heute geht es darum, Menschen, die sich ihrer Freiheit bewusst sind, neu dafür zu gewinnen, dass sie Bindungen eingehen und darin den Sinn ihrer Freiheit erkennen. Heute geht es darum, Menschen, die von ihrer Mündigkeit auch in Glaubensfragen überzeugt sind, zugleich davon zu überzeugen, dass diese Mündigkeit gerade in der Gemeinschaft der Kirche einen Wurzelgrund findet.

Die besondere Aufgabe der evangelischen Kirche besteht deshalb heute darin, eine Kirche der Freiheit zu sein. Sie bietet Menschen eine Glaubensheimat, die sich dazu gerufen wissen, von ihrem Glauben selbst Rechenschaft abzulegen und ihn in der Gemeinschaft mit anderen aus verantworteter Freiheit zu leben.

Das nötigt sie aber auch zum Widerspruch überall dort, wo Menschen diskriminiert werden, wo ihre Würde missachtet und ihre Freiheit geleugnet wird. Nach wie vor sind es die immer wieder aufflammenden Beispiele von Antisemitismus und von Rassismus, von menschenverachtender Feindseligkeit gegen einzelne Fremde oder für fremd Gehaltene wie gegen ganze Gruppen, die unseren Protest nötig machen.

Aber es gibt auch andere Themen, die heute in den Horizont der Freiheit rücken. Die Frage, ob die Selbstbestimmung des Menschen auch die Bestimmung über den eigenen Tod einschließt, ist ein deutliches Beispiel dafür. Die Stimmen werden lauter, die in bestimmten Situationen ein Recht auf die ärztliche Beihilfe zum Suizid oder sogar auf eine Tötung auf Verlangen durch den Arzt einfordern. Das sind die Handlungsweisen, die oft unscharf unter dem Begriff der "aktiven Sterbehilfe" zusammengefasst werden. Wer im Bewusstsein hat, dass die Freiheit des Menschen geschenkte und endliche Freiheit ist - also nicht selbst geschaffene und unbegrenzte Freiheit - , der wird auch daran festhalten, dass der Tod des Menschen etwas Unverfügbares behält. Auf den Tod müssen wir warten, wir dürfen ihn nicht herbeiführen. Das Sterben hat seine Zeit; deshalb gibt es keine Pflicht, ja nicht einmal ein Recht zur Lebensverlängerung um jeden Preis. Aber das Sterben darf nicht willkürlich herbeigeführt werden - auch nicht durch eine Patientenverfügung, die Bedingungen dafür angibt, wann der Arzt von seiner Fürsorgepflicht für das Leben befreit ist. Wo es um die Grenzen der menschlichen Existenz, um Leben und Sterben geht, stellen sich Wertfragen in einer besonders fundamentalen Weise. Weil sich solche Fragen heute verstärkt stellen, kündigt sich die Wendung zu einem neuen Wertebewusstsein an. Das Ende der Beliebigkeit kündigt sich an. Wir sollten als Christen unsere Stimme beherzt einbringen. Sie wird gebraucht.


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Quelle:
Pressemitteilung 90/2007 vom 27.04.2007
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Mai 2007