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LATEINAMERIKA/049: Kirche in Argentinien ringt mit der Vergangenheit (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion 4/2008

In der Klemme
Die Kirche in Argentinien ringt mit der Vergangenheit

Von Michael Kuhnert


Der argentinische Episkopat tut sich schwer mit der Aufklärung seiner Rolle während der Militärdiktatur. Wie damals finden die Bischöfe Argentiniens zu keiner Gemeinsamkeit bei der schmerzhaften Bewältigung der Vergangenheit.


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Am 9. Oktober 2007 wurde der katholische Priester Christian von Wernich in La Plata zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Gericht hatte den deutschstämmigen von Wernich nach einem viermonatigen Prozess und der Anhörung von weit über 100 Zeugen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Rahmen des Völkermords der Diktatur schuldig gesprochen. Ganz konkret war ihm die Beteiligung an sieben Morden, 31 Folterungen und 42 Entführungen während der Militärdiktatur nachgewiesen worden.

Die Urteilsverkündigung wurde im Fernsehen live übertragen. Vor dem Gerichtsgebäude verfolgten über 1000 Menschen die Übertragung des Richterspruchs auf einer Großleinwand. Im Gerichtssaal fielen sich Vertreterinnen der "Madres de la Plaza de Mayo" und Familienangehörige von in der Militärdiktatur Verschwundenen und Ermordeten in die Arme. In den Medien wurde das Urteil als Sieg der Gerechtigkeit und als wichtiger Schritt gegen das Vergessen und zur Vergangenheitsbewältigung gefeiert.

Neben der Genugtuung über die Verurteilung von Wernichs wurden in der kritischen Öffentlichkeit unter anderem aber auch folgende Fragen laut: Wie ist es möglich, dass ein Mann wie von Wernich, der aus verschiedenen Priesterseminaren ausgewiesen worden war, eben doch zum Priester geweiht wurde? Weshalb öffnet die katholische Kirche nicht ihre Archive, um die Suche nach der Gerechtigkeit zu unterstützen? Weshalb wird von Wernich nicht vom Priesteramt suspendiert oder exkommuniziert?


Die unangemessene Reaktion der Bischöfe

In der Tat waren die offiziellen Reaktionen der argentinischen Bischofskonferenz und des Bischofs der Diözese Nueve de Julio, in der von Wernich inkardiniert ist, zu dessen Verurteilung allzu wortkarg ausgefallen.

Das 18 Zeilen lange Kommuniqué, das von der Ständigen Kommission der Argentinischen Bischofskonferenz gleich am 9. Oktober 2007 herausgegeben und in dem von Wernich nicht beim Namen genannt wurde, unterstrich, dass die Kirche in Argentinien bewegt sei vom "Schmerz, den uns die Teilnahme eines Priesters an schwerwiegendsten Verbrechen verursacht". Weiter heißt es: "Wir glauben, dass die Schritte, die die Justiz zur Aufklärung dieser Taten unternimmt, dazu dienen sollen, um die Bemühungen aller Staatsbürger auf dem Weg zur Versöhnung zu erneuern und dass sie ein Aufruf dazu sind, uns sowohl von der Straflosigkeit als auch von Hass und Rache zu entfernen."

Das Kommuniqué schließt mit dem Hinweis darauf, dass die Kirche bereits im September 2000 um Verzeihung gebeten hat und wiederholt, was im März 1995 von der Ständigen Kommission der Bischofskonferenz gesagt worden war: "Wenn ein Mitglied der Kirche mit seiner Empfehlung oder Komplizenschaft diese Taten (der gewaltsamen Repression) gutgeheißen hat, hätte er unter persönlicher Verantwortung gehandelt und schwerwiegend gegen Gott, die Menschheit und sein Gewissen geirrt oder gesündigt".

Der Bischof der Diözese Nueve de Julio, Martín de Elizalde, unterstreicht in seiner Mitteilung vom 10. Oktober 2007 die "Überzeugung, dass uns das Evangelium Jesu Christi ein Verhalten auferlegt, das den redlichen Respekt für unsere Brüder zeigt; Bedingung eines sozialen Lebens in Friede und Gerechtigkeit. Wir bedauern, dass es in unserer Heimat so viel Spaltung und Hass gab, den wir als Kirche weder vermeiden noch heilen konnten. Dass ein Priester, durch Aktion oder Unterlassung, so weit von den Anforderungen der Mission, die ihm anvertraut wurde, entfernt sein könnte, führt uns dazu, mit aufrichtiger Reue um Verzeihung zu bitten, während wir Gott unseren Herrn darum bitten, dass er uns erleuchte, um unsere Berufung zur Einheit und zum Dienst zu erfüllen. Zu gegebener Zeit wird man, gemäß den Anordnungen des kanonischen Rechts, die Situation von von Wernich klären müssen."

Die argentinischen Bischöfe haben sich mit diesen beiden kurzen Statements keinen Gefallen getan. Natürlich ist es richtig, dass sie um Verzeihung bitten, an die Versöhnungsbereitschaft appellieren und die Einheit der Argentinier anmahnen. Aber reichen Bitten und Appelle, um ein Volk zu versöhnen, in dem immer noch viel zu viele ehemalige Täter straffrei ausgehen und wo der Schmerz, die Wut und die Verzweiflung über 30.000 Verschwundene auch gut 20 Jahre nach Ende der Diktatur allerorten noch greifbar sind?

Die Bischöfe haben es versäumt, in einem sehr sensiblen Moment der Geschichte und für die Kirche Argentiniens auf einige Zeichen der Zeit ernsthaft und fundiert Antwort zu geben: nämlich die Sehnsucht der Menschen nach Gerechtigkeit, nach einer vollständigen Aufarbeitung, und das heißt Aufklärung der Militärdiktatur und, damit einhergehend, nach einer in die Zukunft gerichteten wirklichen und deshalb natürlich auch schmerzhaften, Bewältigung der Vergangenheit.

Besonderen Ärger rief die Ankündigung Bischof Elizaldes hervor, dass die Situation von Wernichs "zu gegebener Zeit" kirchenrechtlich geklärt werden müsse. Welcher Zeitpunkt, so fragte man sich, sei eigentlich noch "gegebener", klarer und drängender, als der Moment, in dem von Wernich rechtskräftig wegen seiner Beteiligung an vielfachen Morden, Folterungen und Entführungen verurteilt wurde? Bis heute liegen keine Informationen darüber vor, dass von Wernich vom Priesteramt suspendiert oder exkommuniziert wurde. Darüber regt sich inzwischen aber fast keiner mehr auf. Stand hinter den spärlichen Reaktionen der Bischöfe also womöglich nur die Taktik, den heißen Fall von Wernich einfach nur herunterzukochen.


Eine undeutliche Bitte um Vergebung

Trotzdem wäre es zu einfach, den Bischöfen und der Kirche Argentiniens generell mangelndes Feingefühl oder Taktieren bezüglich des Falles von Wernich vorzuwerfen. Nicht wenige Bischöfe waren mit dem Prozess gegen von Wernich vollkommen einverstanden und zeigten sich, allerdings hinter vorgehaltener Hand, über dessen Verurteilung erleichtert. Mindestens ein Bischof und ein Priester sagten im Gerichtsverfahren gegen von Wernich aus. In vielen Pfarreien und Laiengruppen wurde das Verfahren gegen von Wernich zum Anlass genommen, die je eigene Rolle während der Militärdiktatur auf den Tisch zu bringen und zu reflektieren.

Von der Öffentlichkeit sehr wohlwollend aufgenommen wurde ein zunächst nur für den internen Gebrauch der Diözese Neuquén bestimmtes und dann der Presse zugespieltes Arbeitspapier der Kommission für Sozialpastoral. In ihm wurde das Gerichtsverfahren gegen von Wernich zum Anlass genommen, die Rolle der Kirche während und nach der Militärdiktatur nochmals kritisch zu beleuchten und die Verpflichtung und das Engagement der Christen bezüglich der Verteidigung des Lebens in den Mittelpunkt zu rücken: "Auch wenn nicht die gesamte Hierarchie taub war angesichts des Leidens so vieler Brüder (mehrere Hirten brachten Erlösung, Trost und Verbindlichkeit in diese schwarze Stunde des Vaterlandes ebenso wie unzählige dem Evangelium treue Priester und Laien), so können wir mit Schmerz nicht umhin anzuerkennen, dass nicht die gesamte Kirche diese unerlässliche Haltung übernommen hat, um kohärent zu sein zu dem, was wir glauben und predigen. Zu viel Schweigen, das Fehlen öffentlicher Teilnahme an den Klagen der Familien Verschwundener, die Ohren verschließen angesichts der Forderung nach Gerechtigkeit, zu viel Schwäche, das Übel beim Namen zu nennen, rief Übles hervor gemäß dem wir dann in der Nähe der Diktatoren des Todes erschienen, wo wir Apostel des Lebens sein hätten müssen."

Auch die Bitte um Vergebung der argentinischen Bischöfe aus dem Jahr 2000 wurde in dem Arbeitspapier kritisiert, weil sie in einem solch feierlichen Rahmen, nämlich dem Eucharistischen Nationalkongress in Córdoba, und in einer nur wenig klaren Sprache ausgesprochen worden sei, "dass wir, die Mehrheit, unglückseligerweise nicht verstanden haben, dass die Kirche um Verzeihung gebeten hat für ihr Handeln während der Diktatur".

Das bemerkenswerte Dokument aus der Diözese Neuquén fordert dazu auf, dass sich jeder Einzelne, jede Gemeinde und die gesamte Kirche fragt, welche Haltung sie eingenommen haben "angesichts der Missachtung des Lebens und der elementarsten Grundrechte"? Es schließt mit der Feststellung, dass "uns noch viel fehlt, um wahrhafte Gerechtigkeit, Frieden und wirkliche Versöhnung zu erreichen" und mit der Aufforderung, "Verantwortung dafür zu übernehmen, den Gott des Lebens (koste es was es wolle) zu verkünden, indem man die Rechte und die Würde jedes einzelnen Menschen und aller Menschen verteidigt".


Immer wieder scheren einzelne Bischöfe aus

Die Vergangenheit nicht beschönigen oder mit dem Mantel des Stillschweigens überdecken, sondern konsequent aus ihr lernen und deswegen den Gott des Lebens heute verkünden und folgerichtig die Rechte und Würde eines jeden verteidigen: Der Priester Rubén Capitanio, der eine Zeit lang im gleichen Priesterseminar studierte wie von Wernich und der im Prozess gegen ihn aussagen musste, hat dies während der Aussage vor Gericht mit dem folgenden Bild auf den Punkt gebracht. Er spricht von zwei Fotos der Kirche: "Eines zeigt die Kirche (vor allem den Episkopat) in diesem Moment, in dem es üblich war, Bischöfe und Kardinäle bei staatlichen Anlässen und am Tisch mit den militärischen Autoritäten zu sehen. Und das andere Foto zeigt die Kirche heute: auf dem Foto sieht man, wenngleich auch mit Beschränkungen, Bischöfe und Kardinäle, wie sie mit der Macht diskutieren, um die Ausgeschlossenen und Verarmten zu verteidigen."

Warum tut sich der argentinische Episkopat so schwer damit, diesen von der Diözese Neuquén vorgezeichneten Weg zwischen rückhaltloser Aufklärung der eigenen Rolle während der Diktatur, deutlichem Schuldbekenntnis als Abgrenzung zu ihr und ihrer neuen Rolle als Anwältin der Armen und Ausgeschlossenen öffentlich nachzuvollziehen, zumal die beiden "Fotos" der Kirche inzwischen hinlänglich bekannt sind? Was hält die Bischöfe davon ab aufzuzeigen, dass die Kirche sich, geschichtlich betrachtet, seit Ende der Militärdiktatur vom Saulus zum Paulus gewandelt hat, weil sie nach sieben Jahren der Kollaboration mit den Diktatoren beziehungsweise deren Duldung - theologisch ausgedrückt - eine echte Umkehr vollzogen hat und heute tatsächlich der Anwalt des Lebens, der Armen und Ausgeschlossenen ist?

Vielleicht liegt es an internen Gründen: Die Bischöfe haben während der Militärdiktatur nicht geschlossen das Leben und die Menschenrechte verteidigt. Zu viele haben, offen oder insgeheim, mit den Diktatoren kollaboriert. Heute diskutieren zwar die meisten von ihnen mit der Macht, um die Armen und die Ausgeschlossenen zu verteidigen, um beim Bild des Priesters Capitanio zu bleiben. Aber es gelingt ihnen nicht, als echte Einheit zu agieren, auch wenn, beziehungsweise gerade weil, diese oft beteuert wird.

Immer wieder scheren einzelne Bischöfe, die auffallend gute Verbindungen in den Vatikan hinein haben, bezüglich der Militärdiktatur, innerkirchlicher Anliegen und der Option für die Armen aus der gemeinsamen moderaten Linie der Bischöfe aus.

Im Februar 2005 schrieb Militärbischof Antonio Baseotto dem damaligen Gesundheitsminister Ginés Gonzalez Garcia einen offenen Brief, in dem er dessen Forderung nach Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruches und die öffentliche Verteilung von Kondomen an Jugendliche mit einem Bibelzitat in Zusammenhang brachte: "Als Sie öffentlich Verhütungsmittel an Jugendliche verteilten, erinnerten Sie ans Evangelium, wo unser Herr bekräftigt, dass jene, die einen von diesen Kleinen zum Bösen verführt, es verdienen, dass man ihnen einen Mühlstein um den Hals hängt und im Meer versenkt" (vgl. Mt 18, 6).

Mit diesem Zitat, das die argentinische Öffentlichkeit natürlich sofort an die Todesflüge während der Militärdiktatur erinnerte, als Gefangene mit Steinen um den Körper über dem Rio de la Plata abgeworfen worden waren, provozierte Baseotto eine der tiefsten Krisen der letzten Jahrzehnte zwischen Staat und Kirche: Der damalige Präsident Nestor Kirchner erklärte Baseotto als abgesetzt und forderte den Vatikan auf, Baseotto ebenfalls abzusetzen. Gesundheitsvizeminister Héctor Conti erinnerte an die vermeintlich guten Beziehungen von Baseotto zum Ex-Marineoffizier Adolfo Scilingo, der an mindestens zwei Todesflügen beteiligt war (und inzwischen in Spanien verurteilt ist) und rückte Baseotto ganz unverblümt in die Nähe der Militärdiktatur: "Es scheint, dass Monseñor seine Kontakte zu den Unterdrückern, die in Argentinien Terror und Tod säten in Epochen, die wir für überwunden hielten, gut geölt hält."

Baseotto blieb, offiziell abgesetzt von der Regierung, dennoch bis zu seinem 75. Geburtstag im April 2007 als Militärbischof im Amt, weil der Vatikan ihn nicht zum Rücktritt drängte. Ganz im Gegenteil: Anlässlich seines 50-jährigen Priesterjubiläums hob Papst Benedikt XVI., ebenfalls im April 2007, in einem persönlichen Brief unter anderem dessen "richtige Interpretation der Kirchenlehre" und "besondere Bedachtsamkeit" hervor.

Die argentinische Bischofskonferenz war im Fall Baseotto in der Klemme: Da dieser vom Vatikan gedeckt wurde, konnte sie bezüglich eines Rücktritts natürlich keinen Druck ausüben, was unter den Gläubigen für Unmut sorgte und der Regierung Kirchner neue Munition gegen die Bischöfe lieferte. Da zum damaligen Zeitpunkt die Beziehungen zwischen Präsident Kirchner und den Bischöfen im Allgemeinen und Kardinal Jorge Mario Bergoglio im Besonderen wegen deren heftiger Kritik an der Machtanhäufung Kirchners und seiner Sozialpolitik bereits auf dem Tiefpunkt waren, ging die Kirche eindeutig als Verlierer aus dieser Episode hervor.


Welche Rolle spielt der Vatikan?

Eindeutiger Verlierer ist der argentinische Episkopat auch bezüglich des ultrakonservativen, traditionalistischen "Instituto del Verbo Encarnado (IVE)", das 1984 in der Diözese San Rafael unter den Fittichen des der Diktatur äußerst nahestehenden Bischofs León Kruk entstehen konnte und inzwischen Hunderte von Seminaristen zu Priestern geweiht hat. Der Vatikan hatte zwar Anfang des Jahrhunderts zunächst der Bitte der argentinischen Bischofskonferenz entsprochen und verfügt, dass das Noviziat und Priesterseminar des IVE in San Rafael geschlossen werden müsse, woran sich das IVE allerdings nie gehalten hat.

2001 kam es dann, trotz des Ungehorsams des IVE gegen Rom zu einer erstaunlichen Entwicklung: Der Bischof der italienischen Diözese Velletri-Segni, wo inzwischen das Generalhaus des IVE liegt, flog nach La Plata, um in der Kathedrale 49 Seminaristen des IVE die Priesterweihe zu erteilen, obwohl die argentinischen Bischöfe vereinbart hatten, dass keiner von ihnen Seminaristen des IVE zu Priestern weiht. Möglich wurde diese Priesterweihe erst, als der Erzbischof von La Plata, Héctor Agner, seinen Amtsbrüdern in den Rücken fiel. Auch er verfügt über glänzende Verbindungen in den Vatikan.

Im Oktober 2006 wurde, völlig überraschend für die argentinische Bischofskonferenz, Marcelo Martorell, zum Nachfolger des Bischofs der Diözese Puerto Iguazú, Joaquín Piña, ernannt. Der Jesuit Piña gilt als absolut glaubwürdiger Verfechter der Option für die Armen und hatte während seines 20-jährigen Episkopats die arme Landdiözese auf die Prinzipien des Zweiten Vatikanums eingeschworen und die Armen in den Mittelpunkt kirchlichen Handelns gerückt. Ende Oktober 2006 gewann er ein Plebiszit zur verfassungsgebenden Versammlung als Hauptkandidat gegen den korrupten Gouverneur der Provinz Misiones mit deutlicher Mehrheit und machte somit die zweite Wiederwahl des Gouverneurs unmöglich.

Martorell hatte als Generalvikar unter dem Erzbischof von Córdoba, Kardinal Raúl Francisco Primatesta, Karriere gemacht. Primatesta hatte sich nie entschieden gegen die Diktatur ausgesprochen und Martorell hatte als sein Vertrauter Geld für die Erzdiözese von seinem Freund, dem zwielichtigen Unternehmer Adolfo Yabrán angenommen. Als Primatesta starb und sich Yabrán das Leben nahm, sank der Stern Martorells - um dann im Oktober 2006 mit der Ernennung zum Bischof von Iguazú umso heller und überraschender aufzuleuchten. Für die argentinischen Bischöfe und die Armen Iguazús war dessen Ernennung ein Schock. Martorell hingegen wirft seinem Vorgänger inzwischen öffentlich Unterschlagung von Geldern vor, entlässt Priester, Nonnen und Laien, die sich für die Armen einsetzten, nimmt Geld von der Provinzregierung an und wird die Seminaristen seiner armen Diözese bald ins etwa 1000 Kilometer entfernte Priesterseminar nach La Plata schicken.

Es ist ein offenes Geheimnis, dass zumindest hinter den genannten Fällen von Bischof Baseotto und dem IVE der damalige Staatssekretär des Vatikans, Kardinal Angelo Sodano, entscheidend die Fäden gezogen hat. Unter Sodanos Amtszeit erlitten die Beziehungen zwischen dem Vatikan und der argentinischen Kirche einen Kälteeinbruch und der Einfluss der argentinischen Bischofskonferenz bei Entscheidungen, die ihre gemeinsame Linie und Einheit betrafen, ging gegen Null. Immer wieder wurden, entgegen den Vorstellungen und Wünschen der Bischofskonferenz, völlig überraschend (erz-)konservative Kandidaten zu Bischöfen oder Erzbischöfen ernannt. Mit großer Erleichterung und Hoffnung wurde deswegen der Amtsantritt von Kardinal Tarcisio Bertone im September 2006 als neuer Staatssekretär des Vatikans von der Mehrzahl der argentinischen Bischöfe aufgenommen. Dessen Teilnahme an der Seligsprechung von Ceferino Namuncurá, Sohn eines Mapuche-Häuptlings, im November 2007 wurde als deutliches Zeichen dafür gedeutet, dass sich die Beziehungen zum Vatikan normalisieren und die Linie der Bischofskonferenz, nämlich Anwalt der Armen und Ausgeschlossenen zu sein, von Rom verstanden und approbiert wird.

In diesem Sinne wurde im Oktober 2007 auch die Ernennung zum Kardinal des inzwischen 82-jährigen Estanislao Karlic, dem beliebten Vorsitzenden der argentinischen Bischofskonferenz von 1996 bis 2002, vom argentinischen Episkopat mit großer Freude aufgenommen.

Allerdings wurde mit ihm noch ein weiterer Argentinier zum (Kurien-)Kardinal ernannt, nämlich der 64-jährige Leonardo Sandri, ein enger Verbündeter von Kardinal Sodano, dessen Beziehungen zur argentinischen Bischofskonferenz denkbar schlecht sind. Sandri hat allerdings beste Drähte zu den konservativsten Bischöfen Argentiniens. Es könnte also gut möglich sein, dass die argentinische Kirche auch weiterhin in der Klemme sitzt.


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Michael Kuhnert (geb. 1961) ist Länderreferent für Peru beim katholischen Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat. Von 2004 bis 2007 lebte er als Entwicklungshelfer der AGEH in Argentinien. Von 1998 bis 2003 war er Argentinienreferent bei Adveniat.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
62. Jahrgang, Heft 4, April 2008, S. 200-204
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Juni 2008