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LATEINAMERIKA/080: Wirkungsorte von Ordensleuten in Lateinamerika und der Karibik (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 10/2013

Integration in die Welt der Armen
Wirkungsorte von Ordensleuten in Lateinamerika und der Karibik

Von Thomas Wieland



Das Ordensleben in den Ländern Lateinamerikas und der Karibik zeichnet sich durch eine enorme Vielfalt aus. Dennoch lässt sich von einem gemeinsamen Spezifikum sprechen: die vorbehaltlose Integration in die Welt der armen Volksschichten im Kontext des Zweiten Vatikanums. Der wirksamste Ausdruck dieser Gemeinsamkeit lateinamerikanischer Ordensleute ist deren weltweit einzigartige Föderation, die "CLAR".


Ordensleute sind in Lateinamerika und dem karibischen Raum seit über fünfhundert Jahren prägend. Dominikaner, Franziskaner, Jesuiten und Karmeliter verantworteten neben anderen in den ersten Jahrhunderten die Evangelisierung auf dem Halbkontinent, in einer späteren Etappe zum Beispiel die tätigen Frauenkongregationen sowie Salesianer und Steyler Missionare. Heute gibt es 12.100 Niederlassungen weiblicher Orden und Kongregationen allein päpstlichen Rechts in Lateinamerika und der Karibik, sie stehen 6.800 Klöstern und Häusern der Männer gegenüber; etwa 100.000 Ordensfrauen gegenüber 34.700 Ordensmännern. Von den 1.321 Bischöfen auf dem Subkontinent sind 471 Ordensleute.

Auch Jorge Bergoglio wusste sich zum Ordensleben berufen, er trat 1958 in die argentinische Provinz der Jesuiten ein, deren Leitung er als Provinzial 1973 für sechs Jahre übernahm. Seit 167 Jahren ist er, Papst Franziskus, der erste Ordensmann auf dem Stuhl Petri.

Ordensleute sind Christinnen und Christen, die auf Dauer eine gemeinschaftliche Lebensform pflegen, die von der kirchlichen Autorität (diözesan oder päpstlich) approbiert ist, den drei evangelischen Räten Armut, Gehorsam und Ehelosigkeit folgen und dieses durch ein Gelübde bekräftigen.

Neben den klassischen Orden, in denen Nonnen oder Mönche in Klöstern leben, gibt es Kongregationen und Gesellschaften apostolischen Lebens mit vielfältigen Lebensformen. Man nennt Orden, Kongregationen und Gesellschaften Institute des geweihten beziehungsweise des apostolischen Lebens, kurz: das Ordensleben. Davon sind Säkularinstitute oder geistliche Bewegungen zu unterscheiden.


Nachbarn der Armen

Wie sieht das Ordensleben heute in den Ländern Lateinamerikas und der Karibik aus und wie hat es dort die katholische Kirche seit dem letzten Konzil geprägt?

Ein Beispiel: Die Pfarrei "San Luis Rey de Francia" liegt in der Provinz Petén, der Grenzregion Guatemalas zu Mexiko. 180 Gemeinden gehören zu der von sechs Ordensfrauen - sie gehören zu den in Brasilien gegründeten Asunción-Schwestern - und vier Combonimissionaren betreuten Pfarrei. Die Schwestern kommen aus verschiedenen mittelamerikanischen Ländern, die Gemeinschaft der Ordensmänner bilden je ein Mexikaner, Portugiese, Kenianer und Italiener. Die Pastoralarbeit gestaltet das Team mit Menschen der beiden Völker Maya-Mam und Quick'che sowie der Ladinos genannten spanischsprachigen Bevölkerung.

In sieben Bildungszentren über das weitläufige und bergige Pfarrgebiet verteilt schulen die Ordensleute die Verantwortlichen für verschiedene Dienste und fördern Basisgemeinden. Schwerpunkte sind neben diesen und den liturgischen Diensten die schulische Ausbildung junger Frauen aus den Landgemeinden und die Gesundheitspastoral. Bedroht werden die Menschen vom scheinbar nicht einzudämmenden Schalten und Walten der Drogenhändler mit ihren Privatarmeen. Eine besondere Herausforderung ist die Unterschiedlichkeit der Sprachen und Kulturen auf dem Pfarrgebiet.


Ordensleuten begegnet man in Lateinamerika häufig in der Pastoralarbeit, bevorzugt in strukturschwachen Landgemeinden oder an den Rändern der Großstädte. Im Deutschland der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts gehörten Ordensfrauen ebenfalls häufig zum Bild einer Pfarrei wie in Lateinamerika heute, gleichzeitig unterscheiden sich Arbeitsfeld und Lebensweise. Die meisten dieser lateinamerikanischen Schwestern tragen keine Ordenstracht und leben zu dritt oder viert in gewöhnlichen Häusern, die in der Regel eine einfache Hauskapelle und einen Versammlungsraum bergen. Sie sind "Vecinas" (Nachbarn) der Armen. Die Ordensfrauen sind dabei nicht immer direkt in die Pfarreistrukturen eingebunden, manchmal betreuen sie einen kleinen Gesundheitsposten, eine Schule oder ein Internat für junge Frauen aus Dörfern, wo Schulbildung nicht oder nur prekär vermittelt wird.

In apostolischen Vikariaten oder Prälaturen, auch in Diözesen, die aufgrund ihrer Armut Schwierigkeiten haben, kirchliche Strukturen auszubilden, trifft man Ordensmänner, die - oft Mitglieder einer europäischen oder US-amerikanischen Kongregation - die Pastoralarbeit verantworten. Es handelt sich fast immer um besonders schwierige und konfliktive Lebensumstände, in denen die Menschen dieser Landstriche leben.


Das trifft zum Beispiel auf das Vikariat Pilcomayo für die Hünfelder Oblaten mit dem aus dem Münsterland stammenden Bischof Lucio Alfert zu. Sie arbeiten in der paraguayischen trockenen Chacoregion an der Grenze zu Argentinien und Bolivien. Franziskaner tun das im Vikariat San José im peruanischen Amazonasgebiet. Deren Pfarreien und Missionsstationen sind nur mittels Reisen über die Flüsse zu erreichen, in einigen Fällen dauern sie mehrere Tage. Aufgrund der Grenzsituation zu Kolumbien und Brasilien sehen sich Ordensmänner und -frauen mit Menschen- und Drogenhandel, aber auch der Verschmutzung des empfindlichen Ökosystems durch die Ausbeutung von Bodenschätzen konfrontiert. In Lateinamerika ist der Alltag in Grenzregionen in verschiedener Hinsicht prekär, das pastorale Leben der dort befindlichen Ortskirchen wird oft von Ordensleuten, Frauen und Männern, gestaltet.


Die indigenen und schwarzen Menschen im Dorf Cacarica in der kolumbianischen Pazifikregion Choco lebten scheinbar vergessen von der Welt prekär von Fischfang und Landwirtschaft, als in den Jahren 1996 und 1997 die Streitkräfte die Region bombardierten und Paramilitärs 15.000 Menschen vertrieben. Im Jahr 2000 kamen einige wieder zurück und gründeten die Gemeinden "Neues Leben" und "Hoffnung in Gott" ("Nueva Vida" und "Esperanza en Dios"). Die Dörfer organisierten sich nach dem Modell der Friedensgemeinde, definierten in einem eigenen Statut, dass sie mit keiner der bewaffneten Gruppen kooperieren, und erklärten die Dörfer zu humanitären Zonen. Eine bis heute bestehende Provokation für die bewaffneten Akteure.

Die Franziskanerin und Psychologin Carolina Pardo begleitet die Menschen der Friedensgemeinde. Sie ist Teil der von dem Jesuiten Javier Giraldo gegründeten ökumenischen Kommission Justitia et Pax. Justitia-et-Pax-Leute riskieren an der Seite der Friedensgemeinden selbst ihr Leben. Der Jesuit Javier musste mehrmals untertauchen oder Kolumbien verlassen, weil gedungene Mörder auf ihn angesetzt waren. Ordensleute an der Seite der Armen sind ebenso leicht, wie die Armen selbst Opfer von Anschlägen. Erinnert sei stellvertretend an Dorothy Stang, die 2005 im brasilianischen Amazonasgebiet ermordete Schulschwester der Kongregation "Unserer Lieben Frau von Namur".

Aus dieser Nähe zu den Armen und den von Gewalt Verfolgten rechtfertigt sich beispielsweise der generelle Beraterstatus erster Kategorie, den der internationale Zusammenschluss der Franziskanerinnen und Franziskaner bei den Vereinten Nationen genießt, oder der Zugang der Scalabrinianerinnen und Scalabrinianer zu politischen Entscheidungsträgern in Kommunen, Ländern und auf dem internationalen Parkett, um dort Anliegen von Migranten Gehör zu verschaffen. Ordensleute können in den Gremien bis hin zum Sicherheitsrat Informationen einbringen und Konsultationen mitgestalten.

Zu berichten ist aber auch, neben der Pastoralarbeit, über das Engagement von Ordensleuten in der schulischen und universitären Ausbildung. Allein Jesuiten beziehungsweise Salesianer tragen 55 Universitäten und Hochschulen. Universitäten in Lateinamerika bilden neben dem akademischen Studium das Spektrum ab, das in Deutschland (Fach-)Hoch- und teilweise Berufsschulen anbieten: eine Krankenschwester ist in der Regel Absolventin einer Universität. Ebenso binden sich manche Ordensuniversitäten in Prozesse der Gemeinwesenentwicklung ein. Die Jesuitenuniversität "Rafael Landívar" in Guatemala begleitet Jugendarbeit mit Indigenen, stellt Fachleute und Räume zur Verfügung.

Das Netzwerk "Fe y Alegría" (Glaube und Freude) erreicht mit 2900 Schulen in Armenvierteln und Dörfern 1,5 Millionen Kinder, sowie mit Berufs- und Radioschulen weitere Jugendliche und Erwachsene. Hier engagieren sich der Jesuitenorden und zahlreiche Frauenkongregationen. Dabei handelt es sich nur um einen kleinen Ausschnitt des Engagements von Kongregationen und Orden im Feld der formalen Bildung.


Bemerkenswert beim Blick auf das Ordensleben auf dem lateinamerikanischen Kontinent ist die Entstehung einer Vielzahl autochthoner Kongregationen. Im ecuadorianischen Riobamba oder in Guatemala gründeten sich Frauenkongregationen, die ihrem Zusammenleben Gemeinschaftsverständnis und -praxis indigener Kulturen zugrunde legen.

Ein Blick lohnt ebenso nach Haiti: Die ältesten und bis heute größten autochthonen Kongregationen des Landes sind die "Petites Soeurs de Sainte Thérèse de l'Enfant Jésus" und die "Petits Frères de Sainte Thérèse de l'Enfant Jésus", beide 1948 gegründet. Ihr Charisma ist die ganzheitliche Entwicklung der Landbevölkerung: durch religiöse Bildung, Seelsorge, Grund- und Landwirtschaftsschulen, Krankenpflege und Sozialarbeit. In einem von einem krassen Stadt-Land-Gegensatz geprägten Land erregte es Aufsehen, dass sich einheimische Ordensleute, gebildete Leute also, nicht zu schade waren, zu den aus dem Blickwinkel des hauptstädtischen Bürgertums hoffnungslos zurückgebliebenen "moun andeyo" (kreolisch: "denen da draußen") zu gehen und - das ist das Entscheidende - mit den Bauern die Äcker zu bestellen. Denn alle Feldarbeit war einst Sklavenarbeit. Der Geruch der Erniedrigung haftet ihr noch immer an.


Es gibt Mitglieder neuer lateinamerikanischer Kongregationen, die ihren Lebensunterhalt auf der Straße erbitten und das Armutsgelübde in drastischer Radikalität leben. Manche Kongregationen pflegen neben der eucharistischen Anbetung religiöse Musik charismatischer Prägung. Zahlreiche Neugründungen stehen in der Tradition der europäischen eher tätigen Kongregationen, sie setzen sich für Gesundheit, Bildung und Verkündigung ein. Zahlreiche Beispiel dafür gibt es aus Mexiko. Unter den neu gegründeten lateinamerikanischen Kongregationen finden sich auch solche, die pointiert und manchmal klischeehaft europäische Traditionen in Disziplin, Ausbildung und Erscheinen aufnehmen.

Im Jahr 2009 erhielten die "Herolde des Evangeliums" die päpstliche Approbation. Ihr Generalat in der Stadt Caieiras im brasilianischen Bundesstaat São Paulo stellt eine Mischung aus mittelalterlichem Kloster und Burg dar, ihre Ordenstracht und die der Frauengemeinschaft "Königin der Jungfrauen" erinnert an die Kreuzritter. Die in Mexiko entstandenen "Legionäre Christi" betonen ebenso das Militärische, die Militia Christi, Disziplin und Gehorsam. In dieser Gemeinschaft kamen Fälle sexuellen Missbrauchs vor, was den Vatikan letztlich zum Eingreifen zwang.


Kontemplatives Leben in den rasant wachsenden Städten?

Ein Beispiel kontemplativ lebender Schwestern: Comodoro Rivadavia, eine Hafenstadt am Südatlantik im argentinischen Patagonien verdankt ihre Gründung den Militärs und zählt heute etwa 200.000 Einwohner. Die Menschen aus Argentinien und den lateinamerikanischen Nachbarländern, aber auch eine beachtliche Zahl Südafrikaner werden angezogen von den Chancen auf Arbeit, die rund um die Erdölförderung seit dem letzten Jahrhundert entstanden sind.


Einfache Häuser klettern an den Hängen rund um das Stadtzentrum in die Höhe. Die Umgebung ist karg und unwirtlich, die Temperaturen fallen im winterlichen Juli unter null Grad. Außerhalb des Stadtzentrums leben in sechs verlassenen Arbeiter-Baracken der Erdölfirma Shell seit 1992 "Unbeschuhte Karmelitinnen". Die Zahl der Klausurschwestern ist seit der Klostergründung von 10 auf 18 gewachsen. Den Lebensunterhalt sichern die Ordensfrauen durch Herstellung und Verkauf von Devotionalien und Hostien und durch Zuwendungen in- und ausländischer Wohltäter. In dieser nicht nur klimatisch rauen Umgebung einer wachsenden Stadt widmen sich die Nonnen dem Gebet.


Das Wachsen lateinamerikanischer Städte veranlasste einige beschauliche Klöster, Männer wie Frauen, ihren Standort zu wechseln, um weiterhin ein Leben in Zurückgezogenheit und Schweigen führen zu können. Manche Klausurschwestern fühlten sich angesichts wachsender Kriminalität in den eigenen Klostermauern nicht mehr sicher. So zog es die Zisterzienser aus der chilenischen Hauptstadt Santiago aufs Land. Männer wie Frauen im kolumbianischen Bogotá, im brasilianischen Curitiba und São Paulo verlegten ihre Klöster weg aus den turbulenten Städten.

Andere wandten sich bewusst den Menschen der sie umgebenden Armenviertel zu, wie die Benediktinerinnen des Klosters "Pan de Vida" im mexikanischen Torreón. Sie vollziehen jetzt Bibelstudium und Gebet nicht mehr alleine, sondern gemeinsam mit den Armen. Das peruanische Benediktinerkloster "Encarnación" verließ sogar das ländliche Piura, um sich in einem Vorort von Lima niederzulassen.

Kann man angesichts dieser Pluralität so vieler Institute des gottgeweihten Lebens von einem Spezifikum des Ordenslebens in Lateinamerika und im karibischen Raum sprechen?

Der Abt des argentinischen Benediktinerklosters "Nueve de Julio" und heutige Bischof der gleichnamigen Diözese, Martin de Elizalde, sagte nach dem ersten Treffen von Mönchen und Nonnen der benediktinischen Tradition 1972 in Rio de Janeiro: "Schwestern mit ihren traditionellen Hauben, Mönche im bunten Mini-Habit, ehrwürdige Äbte in vollem Ornat mit blitzenden Brustkreuzen und Schwestern in ziviler Kleidung, einschließlich Ohrringen. Dies war in der Tat ein Treffen der Diversität: Männer und Frauen, kontemplative und weltverbundene Klostergemeinschaften, politisch engagierte Ordensleute und solche, die jedes Engagement ablehnten, Jung neben Alt, kleine neben großen Kommunitäten. Am Ende des ersten südamerikanischen Treffens war man sich der Schwierigkeiten bewusst geworden, mehr noch: Man sah es als unmöglich an, zu Schlüssen zu gelangen, die aus den unterschiedlichen Berichten und Beiträgen zu ziehen waren."


Im Ordensleben in Lateinamerika und der Karibik gibt es dennoch eine prägende Erfahrung. Nicht ausschließlich, aber unter den Ordensleuten in besonderer Weise gewann in Folge des Zweiten Vatikanischen Konzils eine Intuition Raum: die "Inserción". Das meint die vorbehaltlose Integration in die Welt der armen Volksschichten. Ordensleute tauschten den Habit gegen Zivilkleidung, verließen Klöster, gaben renommierte Schulen auf und zogen in Hütten, wurden zu Nachbarn der Armen. Sie setzten sich selbst der Armut und den damit verbundenen Konsequenzen für die persönliche Sicherheit, für Gesundheit und Identität aus. Das taten nicht alle, nicht einmal die Mehrheit, aber eine bedeutende Gruppe: In Brasilien allein waren es einer Untersuchung aus dem Jahr 2006 zur Folge über 5000 Ordensleute, die in Armenvierteln, in Dörfern der Indigenen und bei Obdachlosen lebten.


Die Neuentdeckung der mystischen und prophetischen Dimension

Dabei wird Inserción nicht als moralische Forderung verstanden, in dem Sinne, dass die Kirche etwas für die Armen zu tun habe. Inserción ist ein Prozess. Die Herz-Jesu-Schwester Carmen Margarita Fagot Bigas, die in Kuba und Haiti lebte und von 2000 bis 2003 Präsidentin der lateinamerikanischen Föderation der Ordensleute war, versteht den Prozess der Integration in die Welt der Armen aus der Sicht einer Mystikerin, einer Person, "die die Welt und den Menschen von Gott her sieht (...) und das Leben nicht als Problem, das gelöst werden muss, sondern als Mysterium, das angenommen werden will". Schwester Carmen Margarita beschreibt aus der Perspektive des Alltags der Armen die großen Begriffe der Ordenstradition wie Mystik und Askese, Prophetie und Weisheit, Gratuität und Wirksamkeit, Utopie und das Kleine und füllt die evangelischen Räte Armut, Ehelosigkeit und Gehorsam mit einer ganz eigenen Bedeutung. Sie nennt das die "Mystik der offenen Augen", die im Alltag der Armen Gott sehen, und dazu komplementär "die Mystik der geschlossenen Augen".

Der peruanische Maristenbruder und anerkannte Bibeltheologe Eduardo Arens beschreibt aufgerüttelt durch die Begegnung mit der Welt der Armen, die durch versklavende Strukturen häufig arm gehalten werden, als "beeindruckenden Zug Jesu von Nazareth seine Souveränität und Freiheit, mit der er sprach und handelte. (...) Das charakterisiert ihn als Propheten." Arens entwickelt aus der Nachfolge Jesu die prophetische Dimension des Ordenslebens, die aufgrund der Begegnung mit den Armen frei wird und andere befreien kann. Mit dieser Reflexion steht er unter den Ordenstheologen nicht alleine.

Die Erfahrung der Inserción, der vorbehaltlosen Integration in die Welt der Armen, bewegt bis heute die Ordensleute in Lateinamerika und der Karibik. Sie provoziert unter den Ordensleuten selbst Zustimmung und Ablehnung. Festzuhalten bleibt: Das Ordensleben in Lateinamerika entdeckte durch die Integration in die Welt der Armen seine mystische und prophetische Prägung neu und stellt sich in den Dienst für das Leben.


Ein weltweit einzigartiges Instrument der Verständigung und Vernetzung

Dass diese Überlegungen kontinentalweit so prägend wirken können, verdanken die lateinamerikanischen Ordensleute einem Instrument der Verständigung, das einmalig auf der Welt ist: Der wirksamste Ausdruck der Gemeinsamkeit lateinamerikanischer Ordensleute ist deren Föderation, die "CLAR". 22 nationale Ordensleutekonferenzen - in Deutschland entspricht das der Ordensobernkonferenz DOK - vereint die "Confederación Latinoamericana y Caribena de Religiosos y Religiosas" als ihre Mitglieder.

Am 2. März 1959 rief der Heilige Stuhl die Konföderation ins Leben, unterstützt durch den erst vier Jahre früher gegründeten lateinamerikanischen Bischofsrat (CELAM). Es galt bei der Gründung drei Grenzen zu überwinden: Die Abgrenzung verschiedener Orden und Kongregationen untereinander, die zwischen Ordensmännern und Ordensfrauen und die zwischen Nationen. Drei Aufgaben sind laut Statut zu erfüllen: das Fördern und Koordinieren gemeinsamer Initiativen der 22 nationalen Konferenzen, Stärken von Zusammengehörigkeit und -arbeit zwischen den nationalen Konferenzen generell und außerdem das Herstellen einer angemessenen Kooperation der Ordensleute mit dem lateinamerikanischen Bischofsrat CELAM, den nationalen Bischofskonferenzen und einzelnen Bischöfen. Bei all diesen Aufgaben hat die CLAR keine rechtlichen Möglichkeiten, weder ihre Mitglieder, die nationalen Ordensleutekonferenzen, noch die einzelnen Orden und Kongregationen zu etwas zu verpflichten.

Die CLAR funktioniert im Alltag durch einen kleinen Stab von Mitarbeitern, der in wenigen Räumen im 5. Stock eines Bürohauses in Bogotá die Fäden zusammenhält: die alle drei Jahre zu wählende sechsköpfige Präsidentschaft, zur Zeit steht ihr die mexikanische Ordensfrau Mercedes Casas Sánchez vor, und das Theologenteam. Neun Frauen und Männer, anerkannte Theologinnen und Theologen unterschiedlicher Fächer - aber nie ohne Repräsentanten der Bibeltheologie - verschiedener Länder und Herkunftskulturen, wirken gestaltend an Prozessen und Entwicklungen des Ordenslebens an verschiedenen Orten auf dem Kontinent mit und verfassen Texte, Anleitungen für Exerzitien und zur Bibellektüre im Auftrag der CLAR.


Das Herzstück ist der "inspirierende Horizont", ein Pastoralplan für drei Jahre, der auf 24 kleinen und luftig bedruckten Seiten der Bezeichnung "inspirierend" alle Ehre macht und die mystische und prophetische Dimension der Ordensleute im Dienst am Leben entfaltet. Knapp und prägnant nennt der Pastoralplan in einem ersten Schritt 14 Szenen, die in Lateinamerika und der Karibik einer Antwort bedürfen, darunter Menschenhandel, Korruption und Straflosigkeit, die aufkeimende Sensibilität für eine menschliche und nachhaltige Entwicklung, die Stimme der Frauen und der neuen Generationen.

Der zweite Schritt beschreibt und erschließt ein biblisches Bild, die CLAR nennt dieses Bild eine Ikone: Sie zeigt das Haus in Bethanien, wo Jesus Lazarus erweckt und Maria sowie Martha trifft. Die daraus ebenso benannten fünf theologischen Grundachsen und sechs Überzeugungen führen zum dritten Schritt, dem Tun: zehn Handlungslinien mit planbaren Schritten. Konkret und trotzdem weit genug, um gleichzeitig inspirierend und praktisch zu sein. Ein Paukenschlag.

Dieser "inspirierende Horizont" entfaltet seine Wirkung, weil die CLAR in verschiedenen Netzen Ordensleute zusammenführt. Das Netzwerk der jungen, der afroamerikanischen, der indigenen Ordensleute, jener die prekär unter den Armen leben oder in der Bildung arbeiten. Beeindruckend ist zu erfahren, wie Ordensleute mit schwarzer Hautfarbe Kränkungen vergangener Generationen überwinden, als ihnen noch kein Ordensleben zugetraut wurde, beeindruckend wie Menschen mit dunkler Hausfarbe heute das Ordensleben in Lateinamerika und im karibischen Raum bereichern.


Papst Franziskus traf sich am 6. Juni 2013 zwanglos, wie es schien, mit dem Vorstand der CLAR. Schwester Mercedes, die der Heilige Vater in ihrer Funktion als Vorsitzende der lateinamerikanischen Ordensleute als seine Präsidentin begrüßte, wusste sich durch Papst Franziskus motiviert, diesen Weg fortzusetzen. Die Atmosphäre des Treffens wurde als erfrischend anders zu früher wahrgenommen.

1989 war das Bibelprojekt "Palabra y Vida" auf Initiative des damaligen CELAM-Vorsitzenden Darío Castrillón Hoyos gestoppt worden, die Führung der CLAR wurde vom Vatikan ausgetauscht und die Vorgänger von Schwester Mercedes bei ihren Besuchen in den vatikanischen Büros mehr auf die Schwierigkeiten und Probleme des Ordenslebens in Lateinamerika hin befragt, als nach ihren Aufbrüchen. Das scheint lange her zu sein.


Der Religionspädagoge Thomas Wieland (geb. 1966) leitet die Projektabteilung der Bischöflichen Aktion Adveniat und war bisher dabei auch zuständig für Argentinien. Vor seiner Tätigkeit bei Adveniat arbeitete er mehrere Jahre in Kolumbien.

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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
67. Jahrgang, Heft 10, Oktober 2013, S. 497-501
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juni 2014