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STANDPUNKT/050: Geschändete Schöpfung (Ingolf Bossenz)


Geschändete Schöpfung

Mit seiner Enzyklika »Laudato si'« legte Franziskus jetzt ein Manifest zur Rettung und Bewahrung der natürlichen Umwelt vor. Schon vor Jahrzehnten begründete Papst-Kritiker Hubertus Mynarek die Dringlichkeit einer »Ökologischen Religion«.

von Ingolf Bossenz, 1. August 2015


»Wir gehen einer explosiven Interaktion aller unserer Sünden entgegen: der Sünden, die wir gegen unser geistiges und materielles Erbe begangen haben. Nach unseren Berechnungen geht es mit der Welt vor dem Jahre 2100 rapide abwärts. ... Da wir fünfzig bis hundert Jahre brauchen, um entsprechende Veränderungen herbeizuführen, müssen wir handeln - sofort.«

»Der Kapitalismus, der Dienst am Mammon, hat sich als gottlos, und d. h. als zutiefst unökologisch erwiesen. Die Globalkrise, in der wir stehen, ist das geschichtliche Gottesurteil über den Kapitalismus.«

»Die Gewalt des von der Sünde verletzten menschlichen Herzens wird auch in den Krankheitssymptomen deutlich, die wir im Boden, im Wasser, in der Luft und in den Lebewesen bemerken. Darum befindet sich unter den am meisten verwahrlosten und misshandelten Armen diese unsere unterdrückte und verwüstete Erde, die 'seufzt und in Geburtswehen liegt' (Röm 8,22).«


Ganz oben auf dieser Seite: drei Statements. Zum zweiten später. Das dritte stammt aus der im Juni veröffentlichen Enzyklika »Laudato si'« (Gelobt seist du) von Papst Franziskus. Das erste ist einem rund 45 Jahre alten Appell des italienischen Industriellen Aurelio Peccei (Fiat, Olivetti, 1908-1984) entnommen. Peccei gründete 1968 gemeinsam mit dem englischen Energiewissenschaftler Alexander King (1909-2007) den Club of Rome. Dessen Studie »Die Grenzen des Wachstums« zeigte 1972 erstmals die für den Fortbestand der Menschheit bedrohlichen Folgen schrankenloser wirtschaftlicher Expansion und mahnte zur umgehenden Umkehr. Sofort.

Seither sind Jahrzehnte vergangen, in denen weiter unablässig Müll und Gift in Böden, Luft und Gewässer gelangten, in denen ebenso unablässig Tagungen und Konferenzen dagegen veranstaltet wurden, die tonnenweise Papiere mit Appellen und Deklarationen produzierten, die den anfallenden Abfall um weitere Tausende Tonnen vermehrten.

Jetzt hat erstmals ein Papst den Verheerungen der natürlichen Umwelt des Menschen, ihren ökologischen und sozialen Folgen sowie Theorien und Folgerungen der Wissenschaft ein komplettes apostolisches Rundschreiben gewidmet, das sich zudem expressis verbis »an jeden Menschen« wendet. Herausgekommen ist eine stringente, apodiktische, ambitionierte, kämpferische Botschaft, die von prophetischer Pathetik bis zu profaner Praxis die ganze Palette pontifikaler Publizistik bietet.

Die Sorge darum, »die gesamte Menschheitsfamilie in der Suche nach einer nachhaltigen und ganzheitlichen Entwicklung zu vereinen«, findet sich darin ebenso wie der Ratschlag, dass »jemand, obwohl seine wirtschaftlichen Verhältnisse ihm erlauben, mehr zu verbrauchen und auszugeben, sich gewohnheitsgemäß etwas wärmer anzieht, anstatt die Heizung anzuzünden«.

Dass derlei funktioniert, zog schon vor über 20 Jahren der Schweizer Schriftsteller und Psychotherapeut Hanspeter Padrutt in Zweifel, als er in seinem Essay »Das Lied vom epochalen Winter« konstatierte: »Das animal rationale schlägt sich den Kopf ein, wenn es um Brennstoff geht. Eher erschießt es den Tankwart, als dass es einmal zu Fuß geht. Eher nimmt es das, was in Harrisburg beinahe geschehen wäre (inzwischen hatten wir Tschernobyl und Fukushima - I. B.), getrost in Kauf, als dass es einen Pullover anzieht. Eher riskiert es einen Krieg um den Persischen Golf ...«

Das animal rationale, das »vernünftige Tier«, dürfte auch euphorischen Erwartungen, mit »Laudato si'« werde der Kampf gegen den Klimawandel auf eine neue Stufe gehoben, eine Abfuhr erteilen. Zumal es nicht nur um das Herunterdrehen der Heizung geht oder um »Arten der Bausanierung, um die Energieeffizienz zu verbessern«, sondern um den Wandel einer Wirtschaft, die - wie Franziskus im Apostolischen Schreiben »Evangelii Gaudium« 2013 erklärte - in ihrer derzeitigen Form »tötet«. Von dieser Bewertung macht der Argentinier auch in seiner Enzyklika keine Abstriche, wenn er »die Unterwerfung der Politik unter die Technologie und das Finanzwesen« verantwortlich macht für die »Erfolglosigkeit der Weltgipfel über Umweltfragen«. Denn, so sein Vorwurf, »das Bündnis von Wirtschaft und Technologie klammert am Ende alles aus, was nicht zu seinen unmittelbaren Interessen gehört«. Es sei aber »die Stunde gekommen, in einigen Teilen der Welt eine gewisse Rezession zu akzeptieren«.

Laut Katechismus widerspricht es »der Würde des Menschen, Tiere nutzlos leiden zu lassen und zu töten«. Denn Tiere besitzen für die Una Sancta weder Würde noch Seele.

Womit wir wieder beim Club of Rome wären und den »Grenzen des Wachstums«. Im Kreis laufend - was das griechische Wort Enzyklika bedeutet. Diesen veritablen Teufelskreis zu durchbrechen, gab es schon in den 70er Jahren Überlegungen, zur Bewältigung der neu erkannten Krise ein Wiederanknüpfen an religiöse Grundhaltungen wie Ehrfurcht oder Demut zu aktivieren. So zeigte sich der katholische Philosoph Robert Spaemann überzeugt, nur ein »wie immer begründetes religiöses Verhältnis zur Natur« könne auf Dauer die Existenz des Menschen garantieren. Der Philosoph und Religionswissenschaftler Hans Jonas begriff ein solches Verhältnis als die »Wiederherstellung der Kategorie des Heiligen«. Zugleich kritisierte der Schriftsteller Carl Amery »Die gnadenlosen Folgen des Christentums«, so der Untertitel seines Buches »Das Ende der Vorsehung«. Amery führte die heutige Weltkrise zurück auf die unheilvolle Wirkung des biblischen Geheißes »Macht euch die Erde untertan!« zur totalen Unterwerfung der Natur.

Religionswissenschaftler der Philipps-Universität Marburg verfassten 1995 sogar einen Bericht »Ökologie und Religion« für den Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderung am Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven. Sie kamen zu dem Schluss, dass der ökologische Diskurs in den Religionen »maßgeblich von zwei Seiten bestimmt« wird: »nämlich von Anhängern einer Religion, die sich des Themas Ökologie vor allem aus apologetischen Gründen annehmen, und von Anhängern der Ökologie-Szene, die sich von den Religionen 'metaphysische' Zusatzargumente bzw. 'Schützenhilfe' erhoffen«. Alle im Bericht vorgestellten Traditionen, so das Fazit der Forscher, »können eine religiöse Begründung für einen schonenden Umgang mit der Umwelt liefern, keine jedoch erzwingt diesen«.

Auch hinsichtlich dieser »religiösen Begründung« ist die Franziskus-Enzyklika ein essenzielles Dokument, mit dem im Lebenskampf der Menschheit klar Position bezogen und die Möglichkeit, Millionen Gläubige dafür zu mobilisieren, genutzt wird. Dies ist zu würdigen. Es ist aber auch festzustellen, dass ein solches PapstSchreiben lange überfällig war.

Bereits Mitte der 80er Jahre, als Johannes Paul II. vor allem mit dem Rollback des Sozialismus befasst war, gerierte sich einer der schärfsten Kritiker der katholischen Kirche in ökologischen Fragen weitaus päpstlicher als der Papst. Es war der Religionswissenschaftler Hubertus Mynarek, der damals formulierte: »Aber gerade die großen, historisch gewordenen Religionen haben fast alle einen Sündenfall hinter sich, der dazu führte, dass sie sich ihres ökologischen Zentralanliegens nicht mehr bewusst waren, dass die goldenen 'ökologischen' Lebensregeln, die sie einmal aufgestellt hatten, von Dogmen, die nur noch der Machtstabilisierung dienten, und von immer unverständlicher gewordenen Riten und Kultpraktiken überlagert, ja überwuchert wurden.«

Der 1929 geborene Mynarek schrieb diesen Satz in seinem 1986 erschienenen Buch »Ökologische Religion - Ein neues Verständnis der Natur«, aus dem auch das zweite Eingangszitat ist. Unter den zahlreichen Veröffentlichungen zu der vom Club of Rome ausgelösten Umweltdebatte nahm diese Schrift eine Sonderstellung ein. Unterschied sie sich doch von den vielen - durchaus dringlichen und drängenden - Katastrophenszenarien von Autoren wie Herbert Gruhl (»Ein Planet wird geplündert«) oder Hoimar von Ditfurth (»So lasst uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen«) durch die Hoffnung auf Heil: Indem die christliche »Heilsgeschichte der Naturvergessenheit« mit dem von der Kirche propagierten »Primat Gottes« ersetzt wird durch den Primat der Natur. Der ehemalige Priester und Theologieprofessor, der 1972 als Dekan der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien mit der Romkirche gebrochen hatte, bekannte sich in seiner Schrift kompromisslos zur »Ehrfurcht vor dem Leben«. Dieses Prinzip hatte Albert Schweitzer (1875-1965) als »Frömmigkeit in ihrer elementarsten und tiefsten Fassung« gesehen. Mynarek plädierte für nicht weniger als eine neue - eben »ökologische« - Religion, »die das Verhältnis des Menschen zur Gesamtnatur und zum Kosmos in den Mittelpunkt stellt, die sich an das 'große Haus des Universums' rück-bindet (von: religare), die die großen Ordnungen und Gesetze des äußeren Universums wie des inneren, nämlich der Psyche, erkennen, erfühlen, bewundern und verantwortungsvoll praktizieren will«.

Vergleicht man Mynareks Manifest mit Franziskus' Enzyklika, stößt man in Letzterer auf eine bislang von keinem Papst gefüllte Leerstelle im Umgang mit der Schöpfung: In der »Ökologischen Religion« nimmt das den Tieren von Menschen angetane unermessliche Leid großen Raum ein. Allein ein Ende der Tierversuche, so Mynarek, »wäre eine fühlbare, geradezu 'kosmische Erleichterung' für die geschundene Kreatur«. Und: »Die Massentierhaltung von Hühnern, Kälbern und Schweinen zu unterbinden, wäre ein weiterer notwendiger und nicht unwesentlicher Schritt zur Humanität des Menschen und damit zur Humanisierung der Natur.«

Der Papst ist zwar des Lobes voll für seinen heiligen Namensgeber Franziskus, der sogar »die kleinsten Tiere bewunderte«. Auch für Tiere, »die vom Aussterben bedroht sind«, sind pontifikale Worte da. Ansonsten beruft sich der »Stellvertreter« auf den Katechismus seiner Kirche. Laut diesem widerspricht es »der Würde des Menschen, Tiere nutzlos leiden zu lassen und zu töten«. Der Würde des Menschen widerspricht es, denn Tiere, so die Lesart der Una Sancta, besitzen weder Würde noch Seele. Und die Würde des Menschen ist auch nur dann gefährdet, wenn Leid und Tod der »Mitgeschöpfe«, wie sie im deutschen Tierschutzgesetz heißen, »nutzlos« sind. Zu erkennen, dass dieses Messen und Bewerten nach Nützlichkeit, das Franziskus mit Blick auf den Menschen entschieden und entschlossen zurückweist, diametral zu einer religiösen Ökologie oder ökologischen Religion steht, wird es wohl noch einige Enzykliken dauern.


Literatur

Papst Franziskus: Laudato si'. Enzyklika. Über die Sorge für das gemeinsame Haus. St. Benno Verlag. 200 S., 6,95 Euro

Hubertus Mynarek: Ökologische Religion. Ein neues Verständnis der Natur. Goldmann Verlag. 288 S., nur noch antiquarisch.

Hubertus Mynarek: Papst Franziskus. Die kritische Biografie. Tectum Verlag. 336 S., 19,95 Euro (Erscheint am 19. August)

Franz Segbers/Simon Wiesgickl (Hrsg.): »Diese Wirtschaft tötet« (Papst Franziskus). Kirchen gemeinsam gegen Kapitalismus. Eine Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung. VSA-Verlag. 256 S., 16,80 Euro


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- »Wenn jemand die Erdenbewohner von außen beobachten würde, würde er sich über ein solches Verhalten wundern, das bisweilen selbstmörderisch erscheint.«
Papst Franziskus in »Laudato si'«, 2015

- »Es nimmt nur wunder, dass der sogenannte moderne Mensch diese Zusammenhänge bewusst-theoretisch oder praktisch durch seine technisch-industrielle Zerstörung der Natur verleugnet, verdrängt, brutal mit Füßen tritt.«
Hubertus Mynarek in »Ökologische Religion«, 1986

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Quelle:
Ingolf Bossenz, August 2015
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen Genehmigung des Autors.
Erstveröffentlicht in Neues Deutschland vom 01./02.08.2015
https://www.neues-deutschland.de/artikel/979714.geschaendete-schoepfung.html


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. August 2015

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