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STANDPUNKT/093: Verbrannt im Namen Christi (Ingolf Bossenz)


Verbrannt im Namen Christi

Besichtigung eines Wahns: Martin Luther und die Hexen.
Eine Ausstellung in Rothenburg ob der Tauber

Von Ingolf Bossenz, August 2017


Paris ... Brüssel ... Berlin ... Barcelona ... Immer neue blutige Perlen lassen in Europa die Kette des globalisierten Dschihadismus länger und verschlungener werden. Die rituell von Politik und Medien perpetuierte Phrase von der Tod und Terror trotzenden Resistenz »unserer Lebensweise« ist ebenso zum agitatorischen Relikt verkommen wie die törichte These, »islamistischer« Terrorismus habe nichts mit dem Islam zu tun, ja, sei gar dessen größter Feind. Ganz im Gegensatz zu den Kreuzzügen, die nach Jahrhunderten immer noch und immer wieder als genuin christliche Gewaltorgien erinnert werden.

Wie profan und banal, wie diffizil und verästelt sich mittlerweile die Furcht- und Folgespuren des Terrors verbreiten und verbreitern, lässt sich an einer deutschen Stadt ablesen, die weltweit für Romantik und Idylle schlechthin steht: Rothenburg ob der Tauber. Wenn in Europas Metropolen Bomben explodieren, Gotteskrieger Menschen massakrieren, Wahn und Willkür Räume der Angst schaffen - dann hat das »ganz direkte, sicht- und spürbare Folgen für uns«, sagt Dr. Jörg Christöphler, Rothenburgs Tourismusdirektor. »Rothenburg ist Teil der Welt- und Europatouren internationaler, vornehmlich asiatischer Reiseveranstalter. Gibt es auf irgendeiner Station der als Paket zu buchenden Strecken - Paris, Brüssel oder Barcelona - ein fatales Vorkommnis, das Touristen abschreckt, wirkt sich das auf alle gelisteten Orte aus. Denn storniert - oder gar nicht erst gebucht - wird nicht der Anschlagsort, sondern das gesamte Paket.« Pikante Ironie der Geschichte: Der aus einer mittelalterlichen Ideologie gespeiste Fluch des 21. Jahrhunderts trifft einen Ort, von dem es heißt, nirgendwo sonst sei so viel Mittelalter erhalten geblieben wie hier. Allerdings ein Mittelalter der Architektur und der Artefakte, das für Hunderttausende Japaner und US-Amerikaner ein Muss auf ihrer Reise durch den Alten Kontinent ist.

Wer derzeit in die mittelfränkische Stadt kommt, hat indes Gelegenheit, eine mörderische Ideologie mitsamt ihrer Wurzeln und Wirkungen zu besichtigen, die einst gleich dem heutigen islamischen Dschihadismus Zehntausende Tote forderte und ebenso auf einem religiös konnotierten Wahnsystem gründete: die Hexenverfolgung in Europa. Passend zum Reformationsjubiläum geht es in der Ausstellung im Mittelalterlichen Kriminalmuseum um »Luther und die Hexen«. Eine erhellende Schau. Nicht nur über die dunklen Seiten des Thesenanschlägers von Wittenberg, sondern auch über das in dieser Hinsicht falsche Bild vom »finsteren Mittelalter«. Liefen doch die großen europäischen Hexenverfolgungen erst von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts, mithin zu einer Zeit, die faktisch eine Brücke bildete zwischen der Epoche der Renaissance mit ihrem humanistischen Bildungsideal und dem Zeitalter der Aufklärung mit seiner Berufung auf die menschliche Vernunft als universelle Urteilsinstanz. Ein Tiefpunkt, der im Übrigen zeigt, wie wenig fundiert die Überzeugung von einem linear-progressiven, nach vorn respektive oben gerichteten Lauf der Geschichte ist.

Die Verfolgungen kosteten 50.000 bis 100.000 Menschen das Leben, an die drei Viertel von ihnen Frauen. Eine gigantische Zahl, auch wenn sie den bisweilen immer noch kolportierten, aber längst von der Forschung widerlegten Millionenopfer-Mythos relativiert. Die meisten erlitten den Feuertod. Verbrannt von Christen - im Namen Christi. Dr. Markus Hirte, Direktor des Kriminalmuseums, verweist auf einen Umstand, den die Suche nach Aufschlüssen für das damalige Verfolgungswesen mit den Einordnungsdilemmata bei »modernen« Terrorbewegungen teilt: »Monokausale Erklärungsmuster scheitern gerade bei dem komplexen Phänomen der Hexenverfolgungen. Ob und in welcher Intensität eine Region davon betroffen war, beruhte in der Regel auf einem ganzen Faktorenbündel.« So kam es häufig dann zu pogromartigen Verfolgungen, wenn eine aktuelle Notlage mit einem konkreten Hexenglauben korrespondierte und in Verbindung gesetzt wurde und zudem das Justiz-Umfeld in der Lage war, zahlreiche Hexenprozesse in Gang zu bringen, ohne dass eine übergeordnete Instanz dem Einhalt oder zumindest Mäßigung gebot.

Ob katholische oder protestantische Gebiete - für Hexenglauben und Verfolgungswahn gab es da keine signifikanten Differenzen. Was auch verdeutlicht, dass Luthers theologischer Umsturz per se weder zusätzliche Vernunft beförderte noch das humanistische Erbe der Renaissance bewahrte und vertiefte. Nun kann der Reformator ebenso wenig als Spiritus Rector der Hexen- wie der Judenverfolgung haftbar gemacht werden. Dass er an beidem geistig-theologischen Anteil hat, ist indes schwer zu bestreiten. So wie das soziale Umfeld Luthers von traditionellem Antijudaismus geprägt war, so war der herrschende Zeitgeist besetzt von einem Großaufgebot an Geistern, Teufeln, Gespenstern, Zauberern, Dämonen und Hexen. Ein universales Pandämonium des Bösen, das zur Erklärung und Rechtfertigung alltäglicher wie existenzieller Notlagen herhalten musste. Ob Kriege oder Seuchen, Hungersnöte oder Unwetter - diverse Desaster ertrugen sich leichter, wenn die angeblichen Schuldigen namhaft und dingfest gemacht werden konnten.

Luther, der Wortgewaltige, lieferte dafür Worte der Gewalt: »Die Zauberinnen sollen getötet werden, weil sie Diebe sind, Ehebrecher, Räuber, Mörder.« So predigte er 1526 seiner Wittenberger Gemeinde über Exodus 22,17. Dort heißt es: »Zauberinnen sollst du nicht leben lassen.« Pikant: Luther selbst hatte bei seiner Bibelübersetzung diese Stelle im Alten Testament vom Hebräischen ins Deutsche so formuliert. In der lateinischen Fassung der katholischen Kirche war hingegen nicht von »Zauberinnen«, sondern - geschlechtsneutral - von »Zauberern« (maleficos) die Rede. Seine Ambivalenz in der Hexenfrage verdeutlichte (oder verklärte?) Luther in selbiger Predigt, als er forderte, gegen die »Zauberinnen« sei vorzugehen »mit dem Schwert oder festem Glauben«: Gewalt oder Gebet, Tod oder Bekehrung. Vermutlich hing die eher verdammende oder eher versöhnliche Reaktion Luthers auch von seinem jeweiligen Gesundheits- und Gemütszustand ab. Zu seinem cholerischen Charakter gesellten sich in späteren Jahren diverse chronische Leiden, deren Ursprung er allesamt Teufeln und Hexen zuschrieb. Immerhin wurden allein bis Mitte des 16. Jahrhunderts über 250 Drucke von Lutherschriften verbreitet, in denen sich der Reformator zum Thema Hexen, Zauber und Umgang mit diesen äußert. Experten schätzen die Auflage dieser Publikationen auf mindestens 300.000 bis 400.000. Solche Fülle eines durchaus widersprüchlichen »theoretischen Rüstzeugs« ermöglichte es sowohl Befürwortern wie Gegnern der Scheiterhaufen-Kultur, sich auf Luther zu berufen.

Wenn hierzulande neuerdings ein mental-psychisches Charakteristikum wie »Hass« als straf- und verfolgungswürdiges Delikt juristisch implementiert wird, zeigt das, dass der Staat auch im 21. Jahrhundert die Metaphysik nicht aus seinem Sanktionsarsenal verbannt hat.

Der Siegeszug des modernen Buchdrucks gewährte es aber auch, die perfideste und folgenreichste Legitimationsschrift in Sachen Hexenverfolgung in Dutzenden Auflagen und Tausenden Exemplaren zu verbreiten: das vom Dominikaner Heinrich Kramer verfasste Inquisitionshandbuch »Malleus maleficarum«, auf Deutsch »Der Hexenhammer«. Ein Werk, das durch seinen stringenten Aufbau und die penible Auflistung sämtlicher Wahnvorstellungen, die auf vermeintliche Hexen projiziert wurden, zum klassischen Leitfaden der Hexenjäger beider christlicher Konfessionen wurde. Die darin dokumentierte Akribie bei der Findung, Ausforschung und »peinlichen« Befragung der Delinquentinnen war selbst durch die Fantasie der in einschlägigen Verfahren gewiss nicht zimperlichen Praktiker schwerlich zu überbieten.

Wer sich dem Parodoxon der dem Hexenwahn parallelen Medienrevolution weiter nähern möchte, ist gut beraten, sich nach dem Besuch der bestens bestückten und kuratorisch präzise aufbereiteten Hexen-Ausstellung ins Rothenburger Reichsstadtmuseum zu begeben, wo sich eine ebenfalls vom Lutherjahr inspirierte Schau dem Thema »Medien der Reformation - Kampf der Konfessionen« widmet. Dort werden in einem zuvor noch nie gezeigten Umfang die Schätze der Flugschriftensammlung des ansbachischen Kanzlers Georg Vogler (1486-1550) dargeboten.

Es lohnt sich aber auch ein ergänzender und das Hexen-Thema vertiefender Besuch in der Dauerausstellung des Mittelalterlichen Kriminalmuseums. Widmet sich doch dort eine Abteilung speziell jenem Rechtfindungsverfahren, dass auch bei ungeständigen der Hexerei verdächtigten Personen zur Anwendung kam: der Folter. Direktor Hirte dazu: »Ab dem 15. Jahrhundert setzte sich verfahrensrechtlich zunehmend der sogenannte Inquisitionsprozess durch. Danach waren für eine Verurteilung zwei glaubhafte Tatzeugen oder ein Geständnis erforderlich. Indizien reichten für eine Verurteilung nicht aus, berechtigten jedoch zur Folter. Ein unter Tortur erlangtes Geständnis musste anschließend vom Inquisiten vor Gericht wiederholt werden und war Grundlage der Verurteilung.« Dabei war die Verdrängung von »Gottesurteilen«, die auf Zufall und Willkür beruhten, ein juristischer Fortschritt. Der allerdings einherging mit der Etablierung der Folter als »Beweisgewinnungsmethode«, die bis heute ihre Faszination als brachiales Mittel einer schnellen und effektiven »Wahrheitsfindung« nicht verloren hat. Die Folterhandbücher von US-Armee und CIA (Kubark-Manual) und die Skandalpraktiken in Abu Ghraib und Guantanamo sind dafür exemplarisch. Die Wiederkehr des Wahnsinns.

»Die Ewige Wiederkehr ist ein geheimnisvoller Gedanke, und Nietzsche hat damit manchen Philosophen in Verlegenheit gebracht«, schrieb Milan Kundera in »Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins«. Aber vielleicht ist vieles auch gar keine Wiederkehr, sondern es blieb immer da. Verdrängt, verdeckt, fast verschüttet zwar, aber allzeit bereit zur Neuerscheinung. So jedenfalls ein Eindruck, der einen beim Museumsgang durch Hexenverfolgung und Mittelalter anwehen kann. Wenn hierzulande neuerdings ein mental-psychisches Charakteristikum wie »Hass« als straf- und verfolgungswürdiges Delikt juristisch implementiert wird, zeigt das, dass der Staat auch im 21. Jahrhundert die Metaphysik nicht aus seinem Sanktionsarsenal verbannt hat. Dem Versuch, aus den komplexen Verwerfungen, die im Gefolge der Immigrationskrise das Gefüge deutscher Politik und Gesellschaft erschüttern, Einzelaspekte zu isolieren, für ursächlich zu erklären und zu bekämpfen, eignet etwas zutiefst Mystisches. Der britische Philosoph John Langshaw Austin (1911-1960) hatte dafür das treffende Wort von der »tief eingesessenen Verehrung für saubere Dichotomien«.

Notabene: In Rothenburg selbst und seiner Landwehr (Siedlungsschutzanlagen), das sei ausdrücklich erwähnt, gab es im Unterschied zu anderen fränkischen Städten (einen grausamen Höhepunkt setzte Bamberg) keine exzessive Hexenverfolgung. Zwischen 1550 und 1750 erfolgten Untersuchungen gegen insgesamt 65 Personen, von denen drei zum Tode verurteilt wurden.


Rothenburg ob der Tauber: »Mit dem Schwert oder festem Glauben - Luther und die Hexen«, Mittelalterliches Kriminalmuseum (bis 31. Dezember 2018); »Medien der Reformation - Kampf der Konfessionen«, Reichsstadtmuseum (bis 31. Dezember 2017)

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Quelle:
Ingolf Bossenz, August 2017
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.
Erstveröffentlicht in Neues Deutschland vom 26./27. August 2017
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1061738.verbrannt-im-namen-christi.htm


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. August 2017

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