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INTERNATIONAL/097: Libyen - Nur noch geduldet, Palästinenser nach Umsturz an den Rand gedrängt (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 27. August 2012

Libyen: Nur noch geduldet - Palästinenser nach Umsturz an den Rand gedrängt

von Rebecca Murray

Wohnkomplex in Libyen - Bild: © Rebecca Murray/IPS

Wohnkomplex in Libyen
Bild: © Rebecca Murray/IPS

Tripolis, 27. August (IPS) - Kurz vor dem Sturz des Gaddafi-Regimes vor einem Jahr wurden Huda und ihre palästinensische Familie aus ihrer Wohnung in Tripolis geworfen. Von den Eigentumsstreitigkeiten in Libyen sind in besonderem Maße staatenlose Palästinenser betroffen, die in dem nordafrikanischen Land lediglich einen Gästestatus haben.

"Im vergangenen August gab es viel Gewalt und keine Regierung. Mein Mann hatte einen Herzinfarkt, und wir hatten große Angst", schildert Huda das Leid, das ihre Familie seit dem Verlust der Wohnung erlitten hat. "Wir baten um Aufschub. Doch dann kamen die Kinder des Eigentümers und beschimpften uns. Wir wurden gewaltsam mit unseren Möbeln auf die Straße gesetzt."

Das Eigentum des ursprünglichen Besitzers war 1978 im Rahmen eines Gesetzes konfisziert worden, das jeder Familie höchstens ein Haus zubilligt. Als im letzten Jahr die Revolution ausbrach, forderte der Eigentümer seine Immobilie zurück, wie Huda berichtet. Zunächst habe es geheißen, die Familie könne dort wohnen bleiben. Dies habe sich dann aber als Trugschluss erwiesen.

Ihre Eltern, die aus der palästinensischen Stadt Akka stammen, waren 1948 vor der Gewalt in den Südlibanon geflohen. Drei Jahrzehnte später entkamen Huda und ihre Familie einem anderen brutalen Krieg. Nachdem sie mit libanesischen Reisedokumenten in Libyen angekommen waren, bauten sie sich dort eine Existenz auf.

Viele Jahre lang zahlte die Familie die von der libyschen Regierung festgelegte Miete, bevor der Eigentümer auf einmal das Fünffache verlangte. Nach seinem Tod im vergangenen Jahr kamen seine Kinder, um ihr Erbe einzufordern.


Eigentumsstreitigkeiten gefährden nationale Sicherheit

Seit der libyschen Revolution haben sich Eigentumsstreitigkeiten zu einer der größten Bedrohungen der nationalen Sicherheit entwickelt. Obwohl in erster Linie Libyer betroffen sind, gehören auch palästinensische Flüchtlinge zu den Leidtragenden.

Schätzungsweise 45.000 bis 70.000 Palästinenser halten sich derzeit in Libyen auf. Insbesondere seit dem Konflikt im vergangenen Jahr sind diese Zahlen nur schwer zu überprüfen. Viele Palästinenser sind in andere Staaten geflohen oder innerhalb des Landes vertrieben worden. Andere kommen in Scharen aus dem umkämpften Syrien.

Libyen, das 1965 das Protokoll von Casablanca zum Schutz der Rechte von Palästinensern in arabischen Staaten unterschrieben hatte, hat Flüchtlingen aus dem Gaza-Streifen, dem Libanon und aus anderen Teilen der Region immer gern aufgenommen. Viele Palästinenser fanden als Fachkräfte in der Erdöl- und Gasindustrie einen Job, erhielten staatlich bezuschusste Wohnungen sowie eine freie Bildung und Gesundheitsversorgung.

Obgleich sich Gaddafi für die Rechte der Palästinenser einsetzte und immer andere palästinensische Gruppen begünstigte, indem er beispielsweise ein Palästinenserheer für seinen Krieg gegen den Tschad aufstellte, kam es auch zu seiner Zeit zu Massenausweisungen. Nach den Osloer Abkommen wurden Mitte der neunziger Jahre Tausende Palästinenser abgeschoben. Zahlreiche weitere campierten in Zelten an der Grenze zu Ägypten.

"Da die palästinensischen Führer nun erklären, dass sie ein eigenes Land und einen Pass haben, sollen die 30.000 Palästinenser aus Libyen in ihre Heimat zurückkehren. Man muss sehen, ob die Israelis sie zurückkehren lassen", sagte Gaddafi damals. "Nur so wird die Welt erkennen, dass der Frieden, für den sie sich eingesetzt hat, nichts weiter ist als Lug und Trug."

Viele Palästinenser, denen die Rückkehr nach Libyen gelang, mussten schnell feststellen, dass es weder subventionierte Wohnungen noch Jobs gab. Laut Elena Fiddian-Qasmiyeh vom 'Refugee Studies Centre' an der Universität Oxford war der Ausbruch der Revolution 2011 für die Palästinenser, die den Aufstand aus einer Zuschauerposition heraus erlebten, der blanke Horror.

"Mehrere Menschen, mit denen ich sprach, wurden von regimetreuen Kräften angegriffen, weil sie sich nicht an den Kämpfen beteiligten. Von den Aufständischen wurden sie attackiert, weil sie verdächtigt wurden, auf Seiten Gaddafis zu stehen", sagt sie. Nach den traumatischen Vertreibungen in den 1990er Jahren hätten sich die Palästinenser nichts sehnlicher gewünscht, als in Libyen bleiben und ihre Wohnungen behalten zu dürfen. Sie hätten gehofft, dass sich ihre wirtschaftliche Lage nach einer Beruhigung der Situation wieder verbessern würde.


Viele Pässe abgelaufen

Der neue palästinensische Botschafter in Libyen, Al Mutawakel Taha, sieht das größte Problem derzeit darin, dass mehr als die Hälfte aller Palästinenser abgelaufene Pässe hat, weil sie sich nicht trauen, die Behörden zu kontaktieren. "Die libysche Regierung wird von den Palästinensern bald Aufenthaltsgenehmigungen verlangen", sagt er. "Mit den neuen Gesetzen werden sich die Dinge ändern - in sozialer, wirtschaftlicher und rechtlicher Hinsicht."

Taha rechnet damit, dass die von der Regierung vorangetriebene Marktöffnung den Alltag der Palästinenser erheblich verteuern wird, da Subventionen auf Lebensmittel wegfallen und für Bildung und Gesundheitsversorgung Kosten anfallen werden.

Über die Neuordnung des Wohnungsrechts ist noch nicht entschieden. Ein neuer Vorschlag des Parlaments muss von der neuen Regierung abgesegnet werden. "Wahrscheinlich waren alle diese Hausräumungen illegal", meint der Menschenrechtsanwalt Salah Marghani. "Das Gerichtssystem ist aber in den vergangenen Monaten zusammengebrochen. Wenn jemand mit Gewalt aus der Wohnung vertrieben wird und vor Gericht zieht, wird er kaum einen Richter finden, der ihm wieder Zugang zu seiner Bleibe verschafft." (Ende/IPS/ck/2012)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. August 2012