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INTERNATIONAL/192: Irak - Türkische Luftangriffe auf Bergdörfer, Kurden haben Angst vor neuen Attacken (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 13. November 2015

Irak: Türkische Luftangriffe auf Bergdörfer - Kurden haben Angst vor neuen Attacken

von Karlos Zurutuza


Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Rinaz Rojelat ist der einzige Geschäftsinhaber, der im kurdischen Dorf Zergely geblieben ist, nachdem es von der türkischen Luftwaffe angegriffen worden war
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KANDIL-BERGE, Irak (IPS) - Süße, klebrige türkische Schokolade, Halva genannten weißen Nougat und leckere Orangenkekse verkauft Rinaz Rojelat in seinem Laden genauso wie Schaufeln gegen den baldigen Winterschnee und Armbanduhren mit dem Konterfei von Abdullah Öcalan, dem inhaftierten Führer der Kurdischen Arbeiterpartei PKK. Alles, was hier, in der rauen irakischen Berggegend unweit der türkischen Grenze, nicht wächst, können die Bewohner der umliegenden Dörfer in Rojelats kleinem Geschäft in Zergeley finden.

Die Zahl seiner Kunden ist in den vergangenen Monaten allerdings gesunken. Ein Banner vor seinem Laden erklärt den Grund: Acht seiner Nachbarn sind darauf abgebildet, die bei den Luftangriffen der türkischen Luftwaffe im August dieses Jahres getötet wurden. Ihre Häuser liegen in Trümmern unweit des kleinen Ladens von Rojelat. Auch sie sind stille Zeugen der jüngsten Spannungen zwischen der türkischen Regierung und Kurdenorganisationen.

"Die Explosion hat mich im Morgengrauen geweckt", erzählt Rojelat. "Bei der ersten Attacke wurde eine Frau getötet. Als viele von uns Nachbarn zu ihr geeilt waren, um zu sehen, ob sie noch zu retten ist, kam die zweite Attacke, bei der weitere sieben Menschen getötet wurden." Rojelat hat sich entschieden, bei seinem Geschäft in Zergeley zu bleiben. Aber viele der 200 Dorfbewohner gingen hinunter ins Tal, um dort Schutz zu finden. Andere haben sich für eine Zwischenlösung entschieden. Mohamed Sabah ist tagsüber in Zergeley, um seine Tiere zu füttern und sein Land zu bestellen. Nachts schläft er im Nachbarort Bagirke, wo er bei Verwandten untergekommen ist.


Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Schuttreste von Häusern, die bei türkischen Luftangriffen im Dorf Zergely zerstört wurden
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"Nach dem Luftangriff wollte ich eigentlich nur noch weg, vielleicht nach Erbil. Aber was hätte ich dort machen sollen? Ich bin ein Bauer, hier sind mein Land und meine Tiere." Erbil ist die Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan im Irak. Sie liegt 320 Kilometer nördlich von Bagdad.


Selbstmordattentat löste aktuelle Spannungen aus

Drei von Sabahs Verwandten wurden bei den Angriffen im August verletzt. Bei einem ähnlichen Angriff im Jahr 1997 verlor er einen Bruder. Immer wieder griff die Luftwaffe in den vergangenen zwanzig Jahren die kurdische Bergregion an. Doch seit Juli hat die Regierung in Ankara die Angriffe intensiviert. Bei einem Selbstmordattentat am 20. Juli in der türkischen Stadt Suruç nahe der syrischen Grenze waren 34 Menschen gestorben und über 75 verletzt worden. Laut türkischer Regierung wurde der Anschlag von Kämpfern des Islamischen Staat (IS) ausgeübt. Die kurdische Partei PKK warf der türkischen Regierung vor, den IS zu unterstützen und verübte ihrerseits mehrere Anschläge auf türkische Polizisten. Daraufhin griff die Türkei kurdische Stellungen im Nordirak an.

Der Friedensprozess zwischen der Türkei und den Kurden ist seitdem unterbrochen. Hunderte sollen in den Kämpfen seither umgekommen sein, viele von ihnen Zivilisten. Einen weiteren Höhepunkt bedeuteten zwei Selbstmordattentate auf einer Friedensdemonstration am 10. Oktober in der türkischen Hauptstadt Ankara. Mehr als 100 Menschen starben und rund 500 wurden verletzt. Seit den Parlamentswahlen am 1. November, aus denen die Partei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan als stärkste Kraft hervorging, haben sich die Luftangriffe noch einmal verschärft.

Hier in dieser Bergregion auf irakischem Territorium begann vor zwei Jahren der Wiederannäherungsprozess zwischen der türkischen Regierung und den Kurden. Während der Feierlichkeiten für Nouruz, der kurdischen Neujahrs- und Frühlingsfeier, wurde Abdullah Öcalans Brief verlesen, in dem er zu einem Waffenstillstand aufrief. Das ist nun vorbei.

Zehn Kilometer von Zergely entfernt liegt im Dorf Bokriskan das einzige Krankenhaus der Gegend. Es wurde von der PKK gebaut, nachdem das vorige Krankenhaus im Nachbardorf Leuzha von türkischen Truppen im Jahr 2008 zerbombt worden war. Geleitet wird es von Media, einer Krankenschwester aus Deutschland, die bereits seit 20 Jahren in der Gegend lebt.

Während viele Bewohner froh sind, eine medizinische Einrichtung in der Nähe zu wissen, haben sie gleichzeitig Angst: Krankenhäuser sind beliebte Angriffsziele für Luftschläge. Deshalb hat Maryam Hussein nach den Anschlägen von Zergely auch ihr Haus verlassen, das nur wenige Meter vom Krankenhaus in Bokriskan entfernt liegt. Ihr Mann fuhr in der Unglücksnacht nach Zergely und kam bei den Attacken um. Maryam Hussein ist nun bei ihren Eltern in Nawchelekan untergekommen. "Aber Angst habe ich trotzdem, die Angreifer können jederzeit zurückkommen, und dieses Mal könnten wir dran sein."


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Maryam and Dalyan Hussein sind die Witwe und der Schwager von einem Opfer der Luftanschläge auf das kurdische Dorf Zergely
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Ob das Schicksal der Dorfbewohner ein anderes wäre, wenn sich in der Gegend keine Kämpfer der PKK aufhalten würden? Die türkische Regierung rühmt sich damit, seit Juli 2.000 PKK-Kämpfer umgebracht zu haben. Die Zahlen, die die kurdische Arbeiterpartei selbst nennt, sind freilich ganz andere. Laut Sauas Amed, einem hohen PKK-Funktionär, seien lediglich 40 Untergrundkämpfer ums Leben gekommen. "Seit vielen Jahren werden wir immer wieder angegriffen. Wir wissen, wie wir uns davor zu schützen haben."

Die 40 Millionen Kurden sind die weltweit größte ethnische Gruppe ohne eigenen Staat und ohne Verfassungsrechte. Die heute verbotene Kurdische Arbeiterpartei (PKK) entstand in den 1970er Jahren, um in der Türkei mit Waffengewalt die Gründung eines kurdischen Staates durchzusetzen. Die Gefechte zwischen PKK-Kämpfern und Regierung kosteten bisher mehr als 40.000 Menschen das Leben. Derzeit werden etwa 20.000 PKK-Mitglieder in den Kandil-Bergen im Norden des Irans ausgebildet. Das Gebiet liegt 1.000 Kilometer von Diyarbakir, der wichtigsten kurdischen Stadt der Türkei, entfernt. Viele PKK-Anhänger kämpfen inzwischen gegen die islamistische Terrorgruppe 'Islamischer Staat' in Syrien und im Irak. (Ende/IPS/jk/13.11.2015)


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http://www.ipsnews.net/2015/11/kurdish-highlanders-fear-the-sky

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IPS-Tagesdienst vom 13. November 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. November 2015

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