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INTERNATIONAL/414: Bolivien - Nach dem Massaker in Senkata (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Bolivien

Nach dem Massaker in Senkata


Foto: Privat

In der Kirche des Heiligen Franz von Assisi, in Senkata liegen Leichen auf den Bänken, mit Zetteln mit den Namen und den Geburtsdaten der Toten.
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(La Paz, 8. Dezember 2019, npl) - In der Kirche des Heiligen Franz von Assisi im Stadtteil Senkata der bolivianischen Großstadt El Alto sind auf den Bänken mehrere Leichen zu sehen, eingewickelt in Decken. Darauf liegen Zettel mit den Namen und den Geburtsdaten der Toten. Dazwischen sitzen Angehörige, manche mit einem stieren Blick, andere weinen leise. In einer Ecke neben dem einfachen Altar der Kirche ist eine Pritsche aufgestellt, darauf ein Leichnam mit zwei Einschüssen, einer in der oberen linken Brust und einer im Gesichtsbereich. Vier Forensiker untersuchen die Leiche. Es ist Mittwoch der 20. November, ein Tag nach dem Massaker im Stadtteil Senkata von El Alto. "Nicht alle haben ihre Toten in die Kirche gebracht", meint Carlos, dessen Bruder am Vortag erschossen wurde, "sie trauen den Forensikern nicht. Wir haben beschlossen, uns nicht zu verstecken."


De-facto-Präsidentin: "Operation friedlich verlaufen!"

Die De-facto-Regierung hat in kürzester Zeit ein Klima der Angst geschaffen, das dazu geführt hat, dass viele Menschen eingeschüchtert sind. In der öffentlichen Debatte, die auch die meisten großen Medien in Bolivien mittragen, wurden die Bewohner*innen El Altos pauschal als "MAS-Horden" und "Terroristen" abgestempelt. Kaum ein*e Journalist*in aus La Paz hat sich die Mühe gemacht, vor Ort zu recherchieren und zu berichten. Einfacher war es, die Verlautbarungen der De-facto-Regierung zu übernehmen. Der Verteidigungsminister behauptete noch am selben Tag, die Operation sei friedlich verlaufen, es sei kein einziger Schuss abgefeuert worden. Das wiederholte auch De-facto-Präsidentin Jeanine Añez in der ersten Dezemberwoche in einem Interview: "Soweit ich weiß, ist alles friedlich verlaufen!". Dabei verdichten sich die Hinweise, dass die Militärs geschossen haben, wie Nachbar*innen es von Anfang an ausgesagt haben. Laut dem Sicherheitsexperten Samuel Montaño "hat das Militär geschossen", er hat Fotos von den Tatorten in Sacaba/Cochabamba und Senkata/El Alto ausgewertet. Es gebe mindestens zwei Fälle, so der Experte, bei dem Soldaten geschossen hätten. David Inca, Repräsentant der permanenten Menschenrechtsversammlung Boliviens, weist darauf hin, dass "Familienangehörige Patronenhülsen des Kalibers 7,62, sowie andere Hülsen kleineren Kalibers gezeigt haben".


"Das Militär hat geschossen"

Die daraufhin gestellte Anfrage der Tageszeitung La Razón, einer der wenigen Medien, die in Bolivien noch kritisch berichten, beantwortete das Verteidigungsministerium mit dem Hinweis auf die Pressekonferenz vom 19. November: "Es ist alles friedlich verlaufen, kein einziger Schuss ist vom Militär abgefeuert worden." Gleichzeitig wird von der Regierung in den Raum gestellt, es wäre darum gegangen, einen terroristischen Anschlag zu verhindern. In der regierungsnahen Tageszeitung Página Siete wird behauptet, "Anhänger von Evo Morales wollten das Treibstofflager in Brand setzen", Dynamit sei dabei im Spiel gewesen, heißt es aus anderen Quellen. Bisher wird diese Behauptung jedoch nicht mit stichhaltigen Beweisen untermauert. Augenzeugen*innen vor Ort berichten, dass niemand mit Dynamit hantiert hat, "nicht einmal Knallfrösche hatten wir, als Polizei und Militär auf uns schoss", meint eine Nachbarin.


Zeug*innen werden von der Polizei bedroht

Wie die Nachbarin wollen die meisten inzwischen anonym bleiben. Es wird von Polizeibesuchen berichtet, wo den Betroffenen nahegelegt wird, besser keine Aussagen zu machen, auch anonyme Drohanrufe gibt es. Das bestätigen auch Mitglieder der permanenten Menschenrechtsversammlung, "Es ist sehr schwer im Moment, als Menschenrechtsverteidiger zu arbeiten. Das Misstrauen der Leute ist sehr groß; außerdem erhalten wir Drohungen von der Regierung", erzählt ein Mitarbeiter.


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Soldaten auf den Straßen von El Alto.
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Daher bleibt bisher auch im Dunkeln, wie viele Menschen genau beim Massaker in Senkata umgekommen sind. Es wird berichtet, dass es neben den zehn offiziellen Toten sechs weitere gibt, deren Familien sich geweigert haben, die Todesfälle offiziell registrieren zu lassen. Zudem gibt es Berichte über mindestens zehn gewaltsam verschwundene Personen, von denen man nicht weiß, ob sie tot sind oder was mit ihnen passiert ist. Darunter soll nach Zeugenberichten auch ein zwölfjähriges Mädchen sein, das zwei Einschusslöcher aufwies und von Polizisten weggeschafft wurde.


Krankenhäuser behandeln Verletzte wie Terroristen

Für die bolivianische Öffentlichkeit spielen diese "Details" kaum eine Rolle. Die Version eines "terroristischen Anschlags" und eines "friedlichen Polizei- und Militäreinsatzes" stehen im Vordergrund. Das berichten auch Unterstützer*innen der Verletzten. 45 Verletzte wurden von Hilfsorganisationen in El Alto registriert, es wird jedoch von bis zu 100 Verletzten ausgegangen. "Von den Registrierten haben alle Schussverletzungen", meint Danuta Orea, die sich um die Verletzten kümmert, "In vielen Krankenhäusern der Stadt wurden die Verletzten wie Terroristen behandelt. In der Holländischen Klinik ist niemand in den normalen Krankenzimmern untergebracht worden, sondern alle wurden im Hof abgestellt".


De-facto-Regierung behindert Aufklärung

Die De-facto-Regierung setzt die Stimmen, die eine unabhängige Untersuchung fordern, unter Druck. Als der Interamerikanische Menschenrechtshof die Ereignisse untersuchen wollte, wurde von Anhänger*innen der Regierung der Eingang zum Tagungsort blockiert, Zeugen*innen sollten an der Aussage gehindert werden. Lokale Menschenrechtsorganisationen wie die Ombudsfrau für Menschenrechte Nadja Cruz oder die permanente Versammlung der Menschenrechte Boliviens erhalten ebenfalls Drohungen. Als eine Delegation aus Argentinien unter der Leitung von Juan Grabois Ende November das Land besuchte, warnte Ministerpräsident Arturo Murillo, man werde es nicht zulassen, dass "Ausländer aufrührerisch im Land tätig werden", und man werde die Delegation "sehr genau beobachten".


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Tage des Aufruhrs: El Alto Ende November.
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Dass die Regierung mehr Interesse an Verschleierung als an Aufklärung hat, zeigt auch das Angebot, das sie den Familien der Toten gemacht hat. Jede Familie soll rund 6.500 Euro Entschädigung erhalten, wenn sie darauf verzichtet, den Fall vor ein internationales Gericht zu bringen. Dies soll im Rahmen der "Befriedung des Landes" geschehen. In Rahmen der Befriedung wurde auch das Militär in die Kasernen zurückgeschickt und das Dekret, das für die Soldaten*innen Straffreiheit vorsah, wieder zurückgenommen. Eine Maßnahme, die auf internationalen Druck zustande kam und der Tatsache geschuldet ist, dass während der zehntägigen Blockade in El Alto der Regierungssitz bereits mit Engpässen bei Lebensmitteln und Benzin zu kämpfen hatte.

Während die Regierung aufgrund des Drucks teilweise auf die Gegner*innen zugeht, versucht sie auf der anderen Seite, soweit es geht, Fakten zu schaffen und viele politische Gegner*innen verfolgen zu lassen. Neben mindestens 34 Toten und 700 Verletzten sind unzählige MAS-Mitglieder, Mitarbeiter*innen der Wahlbehörde und andere Funktionäre verhaftet worden. Auch in wirtschaftlichen Fragen werden Fakten geschaffen. So verabschiedete die Regionalregierung Ende November im Beni ein neues Agrargesetz, das in Zukunft fast die Hälfte der Fläche des Departements als Agrarfläche ausweist. Die indigene Bevölkerung wurde dazu nicht konsultiert.

Auch kritische Stimmen in der Presse werden massiv bedroht und angefeindet. Der bekannte Karikaturist Al-Azar hat aufgrund von massiven Drohungen gegen seine Familie aufgehört, in der Tageszeitung La Razón zu veröffentlichen. Hinter den Drohungen stecken immer häufiger paramilitärisch organisierte Gruppen, die den Comités Cívicos nahe stehen, wie die Resistencia Juvenil Cochala aus Cochabamba.


MAS-Wahlantritt soll verhindert werden

Teile der neuen Machthaber*innen und ihre Unterstützer*innen versuchen zu verhindern, dass die MAS bei Neuwahlen antritt. Sie müssen befürchten, dass die Partei Morales' bei einem erneuten Urnengang als Siegerin hervor geht. Der Politologe Fernando Mayorga sieht in der Bewegung zum Sozialismus, der MAS, die einzige Kraft, die im ganzen Land eine Basis hat, während die übrigen Akteure*innen, wie zum Beispiel Präsidentschaftskandidat Carlos Mesa, nur im Departement La Paz wirklich Rückhalt bekommt.

Die Stimmen, die sich für den Entzug der Zulassung der MAS als politische Partei aussprechen, sehen sich durch den Abschlussbericht der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) bestätigt und sprechen von einem "gigantischen Wahlbetrug". Von "Wahlbetrug" berichtet das Abschlussdokument zwar nicht, weist jedoch auf schwerwiegenden Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen im Oktober hin. So gab es eine nicht vorhergesehene Änderung bei der elektronischen Erfassung der Stimmen, bei dem ein Server zugeschaltet wurde, der vorher nicht im System vorgesehen war. Das wertet die OAS als "vorsätzliche Manipulation". Auch bei den Stichproben der Niederschriften der Wahlergebnisse in den einzelnen Wahllokalen gibt es bei etwa fünf Prozent der Niederschriften Unregelmäßigkeiten. Zudem stellt der Abschlussbericht fest, dass eine Überprüfung des Wahlergebnisses unmöglich ist, da ein Teil der Wahlunterlagen von Gegner*innen der MAS verbrannt wurden. Im Zuge der Unruhen nach den Wahlen gingen in den Departements Potosí und Chuquisaca 100 Prozent der Wahlunterlagen, in Santa Cruz immerhin 75 Prozent verloren. Am Montag nach der Wahl steckten Gegner*innen von Morales die lokalen Wahlbehörden in mehreren Departements in Brand.

Inzwischen nehmen die Spannungen unter den Bürgerkomitees zu. Luis Fernando Camacho, bisher Vorsitzender des Bürgerkomitees in Santa Cruz, hat sich im Alleingang zum Präsidentschaftskandidaten erklärt und damit Marco Pumari, den Vorsitzenden des Comité Cívico in Potosí, vor den Kopf gestoßen. Eigentlich wollten beide gemeinsam kandidieren. Neben Camacho haben auch Carlos Mesa und der evangelikale Prediger Chi Hyun Chung bereits ihren Hut in den Ring geworfen. Die Bewegung zum Sozialismus hält an diesem Wochenende eine Konferenz ab, um ebenfalls eine Kandidatin oder einen Kandidaten für die Wahlen im kommenden Jahr zu suchen, die voraussichtlich im März stattfinden sollen.


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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Dezember 2019

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