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INTERVIEW/002: Schachdorf Ströbeck - Als Schach noch Thema war..., Herr Cacek im Gespräch (SB)


Schachdorf Ströbeck - Als Schach noch Thema war...



Interview mit Josef Cacek am 8. Juni 2013 in Ströbeck

Das Lebenswerk eines Menschen mißt sich nicht immer an seinen Erfolgen, ob er Kathedralen erbaut, Königreiche gegründet oder im Sturm und Drang der Schaffenskräfte Texte von unvergänglichem Inhalt verfaßt hat. Vieles ist ohnehin nur der Gunst und den Glücksfällen der Zeit geschuldet, die mehr als der handelnde Mensch seinen Namen in ewigen Lettern schrieben. Man erinnert sich ihrer in Geschichtsbüchern und auf öffentlichen Plätzen durch imposante Standbilder. Ihr Verdienst sei, in den Zeitenlauf eingegriffen zu haben. Um wieviel mehr erwirbt sich jedoch jemand Anerkennung, dessen Engagement für eine Idee insofern selbstlos war, als sie seinen Mitmenschen mehr nützte als ihm selbst.

Josef Cacek wurde 1932 im Sudetenland geboren und ist nach der Umsiedlung in Boßdorf unweit von Wittenberg aufgewachsen. 1952 kam er zu einem Lehrerpraktikum nach Ströbeck. Eigentlich sollte es nur ein vorübergehender Aufenthalt, lediglich eine Station in einem Lebenslauf sein, der anderen Zielen verpflichtet war. Doch es wurde etwas ganz anderes daraus. Josef Cacek blieb in Ströbeck und widmete sich fortan der Aufgabe, der Schachtradition jenes Fleckens etwas von bleibendem Wert zu geben. Für seine Verdienste als Schachlehrer an der Dr. Emanuel Lasker-Schule, Begründer und Leiter des Schachmuseums und kreativer Kopf des Lebendschachensembles verlieh ihm Ströbeck 1995 die Ehrenbürgerschaft. Im Vorwege zu den Feierlichkeiten zum 30jährigen Bestehen des Ensembles war Herr Cacek so freundlich, dem Schattenblick einen Vormittag lang Fragen zur Ströbecker Schachgeschichte zu beantworten.

Ideenaustausch am Stubentisch - Foto: © 2013 by Schattenblick

Josef Cacek im Gespräch mit SB-Redakteur
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick: Herr Cacek, für Ströbeck waren Sie ein echter Glücksfall. Auf Ihre Initiative gehen viele Projekte zurück, die dem Bild von Ströbeck als Schachdorf ein neuzeitliches Profil gegeben haben. Sie sind 1952 aus dem Sudetenland in die DDR gekommen. Was hat Sie ausgerechnet nach Ströbeck verschlagen?

Josef Cacek: Wir sind damals nach dem Rausschmiß oder der Umsiedlung, wie es offiziell hieß, in der Nähe der Lutherstadt Wittenberg angesiedelt worden. Meine Eltern kamen mit ihren neun Kindern in dem kleinen Dorf Boßdorf unter. Dort besuchte ich auch die Volksschule. Schließlich habe ich Dekorationsmaler gelernt, und als ich den Abschluß in Wittenberg machte, wurde mir vom Berufsschullehrer geraten, zur Malerfachschule nach Weimar zu gehen. Ich war wohl ein bißchen talentiert. Als ich jedoch die Volkshochschule absolvierte, um ein wenig Reife zu bekommen, hieß es plötzlich, gehen Sie nach Halle und werden erst einmal Grundschullehrer; Berufsschullehrer können Sie immer noch werden. So ging das damals in der DDR. Ich begann also mit der Ausbildung und wurde hierher nach Ströbeck zu einem Praktikum geschickt. Nach einem Jahr sollte ich das Direktstudium fortsetzen, aber damals verschwanden immer wieder Lehrer in den Westen. Daher hieß es, wer sich einigermaßen bei einer Stelle eingearbeitet hat, bleibt dabei. Sie haben mir einen Hunderter mehr geboten, und ich habe angenommen. Ich habe das ewig bereut, denn mir fehlte einfach zuviel Allgemeinwissen. Bei dem Direktstudium hätte ich mich weiter qualifizieren können. So mußte ich mich nachher von 1960 bis 1965 durchs Fernstudium quälen. Ich habe zunächst die Prüfung für die Unterstufe, also die Klassen eins bis vier, gemacht, aber dann brauchten wir hier in Ströbeck noch einen Lehrer für die oberen Klassen. Mathematik war immer mein Lieblingsfach gewesen, aber dafür hatten wir bereits einen Lehrer. Und so mußte ich Deutsch unterrichten und nebenbei in den Ferien das Fernstudium zu Ende bringen, was nicht unproblematisch war, denn ich war damals schon verheiratet.

SB: Das Schachdorf Ströbeck ist im Westen kaum bekannt. Wie muß man sich Ströbeck zu der Zeit, als Sie hier ankamen, vorstellen?

JC: Ströbeck bestand überwiegend aus Bauern, die in einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) zusammengeschlossen waren. Es gab LPGs für Tier- und solche für Pflanzenzucht. Der Ströbecker Boden ist schon immer ertragreich gewesen, und so wurde hier bereits früh in den fünfziger Jahren eine LPG gegründet. Damals wurde auch beraten, wie man sie nennt. Aufgrund unserer Tradition bot sich natürlich LPG Schachspiel an.

SB: Waren Sie schon Schachspieler, als Sie nach Ströbeck kamen?

JC: Eher ein Figurenschieber, würde ich sagen. Von Kombinationen verstand ich nicht viel. Beim Institutsturnier in Halle traute ich mich nicht mitzumachen, weil ich von den strategischen Grundsätzen im Schach keine Ahnung hatte. Eigentlich habe ich das Schachspiel erst hier in Ströbeck von einigen Bauern gelernt, die mich abends zum Schachspiel in die Gaststätte einluden. 1953, als ich gerade ein Jahr hier in Ströbeck war, hieß es, daß jemand Schach in der Schule unterrichten müsse. Die lange Tradition mit dem Schulschach sollte aufrechterhalten werden. Weil aber kein Lehrer verfügbar war, der das hätte machen können, haben sie mich dazu überredet. Plötzlich sollte ich Schach lehren. Ich habe mir alles, was nötig war, als Autodidakt aus Büchern erarbeitet und dann den Schülern möglichst viel beigebracht.

Altes Foto von Kindern mit Schachbrettern auf dem Weg zur Schule - Foto: 2013 by Schattenblick

Früher Schachalltag in Ströbeck
Foto: 2013 by Schattenblick

SB: Wie hat man es in Ströbeck nach den Kriegswirren und den damit verbundenen Katastrophen geschafft, zur Schachtradition zurückzukehren?

JC: Ja, die Situation war schwierig, aber der Ströbecker Schachverein von 1883 hat bereits wenige Jahre nach Ende des Krieges wieder Dorfmeisterschaften, wie sie hier genannt wurden, organisiert. Das wurde auch später so beibehalten und der Dorfmeister mit einem Ehrenpreis oder einem Wanderpokal verewigt.

SB: Die DDR als sozialistisches Staatsmodell hat sich in jenen Jahren vielen Herausforderungen ökonomischer und sozialpolitischer Art stellen müssen. War unter diesen Bedingungen überhaupt eine nahtlose Fortsetzung der Ströbecker Schachtradition möglich?

JC: Eigentlich war der Übergang fließend. Natürlich gab es in der ersten Zeit einen gewissen Stillstand in den Schachaktivitäten. Die Menschen mußten zunächst an das Notdürftigste denken, aber sie kehrten bald schon zu ihren Traditionen zurück, wenngleich mit gewissen Hindernissen. Es soll nämlich so gewesen sein, daß die Amerikaner, als sie hier ankamen, sich die Kostüme des Lebendschachs übergezogen haben und auf ihren Panzerwagen durchs Dorf gefahren sind. Als sie weg waren, hatte man keine Kostüme mehr. In der ersten Zeit war dieses Gebiet von Engländern und Amerikanern besetzt. Erst als die Russen kamen, mußte es geräumt werden. Deshalb hat ein Schneidermeister schwarz-weiße Kostüme genäht, damit das Lebendschach weitergeführt werden konnte.

SB: Ist die Geschichte mit dem Kostümklau der Amerikaner verbürgt?

JC: Nein, man erzählt es sich halt so.

SB: Wenn man von der Schulbank an im Schach unterrichtet wird, müßten die Ströbecker eigentlich wahre Meister der Schachkunst sein, zumindest jedoch in den höchsten Wettkampfklassen mitspielen?

JC: Nein, so ist es nicht. Die Ströbecker spielten nicht in der höchsten Klasse, aber immerhin traf man zu der Zeit, als ich nach Ströbeck kam, die kluge Entscheidung, regelmäßig Freundschaftsspiele gegen Osterwieck und Halberstadt auszutragen. Dazu wurden schnell acht Mann zusammengesucht, die dann an den Brettern saßen. Nun wußte ich jedoch, daß in den höheren Klassen wirklich gut Schach gespielt wurde. Als ich dann zum Schachlehrer avancierte, habe ich gesagt, wir müssen die Schüler frühzeitig in die Wettkämpfe schicken, damit sie Erfahrungen sammeln. Deswegen haben wir die Jugend zu den Wettkämpfen angemeldet. Sie nahmen dann an den Spartakiaden teil, die damals in der DDR im Aufkommen waren, wie die Kreis- und Bezirksspartakiaden usw. Die erste Mannschaft von Ströbeck spielt heute viel stärker als ich.

Josef Cacek im Porträt - Foto: © 2013 by Schattenblick

Über 40 Jahre für das Schach gestritten
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: In den Städten fällt es den Schachvereinen nicht schwer, starke Mannschaften aufzustellen, da es immer einen gewissen Fundus an Jugendlichen und erfahrenen Spielern gibt. Wie wird das Vereinsschach in Ströbeck organisiert?

JC: Leider ist es auf dem Dorf so, daß wir oft die besten Spieler verlieren, wenn sie zum Studium gehen. Sie kommen in der Regel nicht wieder zurück und sind dann für uns nicht mehr verfügbar. Aber wir begnügen uns mit dem, was wir halten können. Ich schäme mich immer ein bißchen, weil wir so tief in der Leistungsstärke sind. Aber immerhin konnten wir in diesem Jahr drei Mannschaften ins Rennen schicken. Sie spielen im Bezirk; in höhere Ligen steigen wir nicht auf.

SB: Man könnte vermuten, daß die Ströbecker eigentlich stärker spielen.

JC: Dazu müßte das Schach viel mehr gefördert werden. Wenn in Rußland einzelne Schüler eine Förderung erhalten, dann sind die Großmeister mit daran beteiligt. Hier in Ströbeck war einmal ein russischer Großmeister. Ich habe zu ihm gesagt, daß es mich traurig macht, daß wir keine besseren Spieler für die höheren Klassen aufstellen können. Da sagte er zu mir, wissen Sie, einen Einzelspieler kann man leicht fördern und hochbringen, aber ein ganzes Dorf wie Ströbeck auf das Schach einzuschwören, ist viel wichtiger.

SB: Wie kommt es eigentlich, daß die Sparkasse als Sponsor für die Mai-Turniere in Ströbeck auftritt?

JC: Ein ehemaliger Schüler von mir ist Chef der Kreissparkasse. Er hat uns immer zu ein bißchen Geld verholfen. Auf sein Betreiben wird in Ströbeck alle zwei Jahre die Deutsche Sparkassen-Schachmeisterschaft ausgetragen. Er selbst spielt in der ersten Mannschaft bei uns. Wir freuen uns über den Jungen. Das erste Mai-Turnier hier in Ströbeck habe ich 1960 anläßlich der Schacholympiade in Leipzig selbst organisiert. Wir haben uns gesagt, jetzt machen wir eine kleine Schacholympiade. Daraus hat sich über die Jahre ein Schach- und Volksfest entwickelt. Heute können wir mit über 50 Mannschaften ein internationales Turnier bestreiten. Das Ganze ist auch zu einem Volksfest geworden, weil zu dieser Zeit im Mai alles auf dem Platz versammelt ist und auch Lebendschach dargeboten wird. Das Lebendschach ist sozusagen unsere Visitenkarte.

SB: Heißt das, daß in Ströbeck, bevor sie 1960 damit anfingen, keine Turniere stattfanden?

JC: Schachturniere gab es schon, aber eher spontan. Der Schachverband von Nordharz hielt in Ströbeck seit 1885 Kongresse ab. Beim vierten Kongreß im Jahre 1908 wurde auch ein Turnier ausgerichtet. Speziell zu diesem Anlaß wurde im Saal ein Parkettschachbrett eingelegt, auf dem lebende Figuren auftraten. Darüber gibt es sogar Zeitungsberichte. Die Kostüme dafür hatte das Theater in Halberstadt geschneidert und zur Verfügung gestellt.

Gruppenfoto vom Schachkongreß 1908 - Foto: 2013 by Schattenblick

Illustres Treffen damals
Foto: 2013 by Schattenblick

SB: Das Schach hat in der DDR eine gesellschaftstragende Rolle gespielt. Die DDR-Schachspieler durften zwar nicht ins westliche Ausland reisen, aber immerhin haben sie sich regelmäßig mit den Russen verglichen. Im Fernschach waren die DDR-Spieler sogar ziemlich erfolgreich. Wie war das Verhältnis zwischen der DDR-Kulturförderung und Ströbeck als einem Traditionsort, an dem das Schach sozusagen seit tausend Jahren zu Hause ist?

JC: Wir konnten uns nicht beklagen, alles, was möglich war, wurde auch umgesetzt. Im Dorf lief vieles über die innerbetrieblichen Einrichtungen, aber wenn wir mit dem Lebendschach woanders auftraten, wurde dies nach Kräften gefördert. Ich bin beispielsweise 1958 mit dem Lebendschachensemble zum Tag des Rundfunks und Fernsehens nach Magdeburg gefahren. Weil wir vergleichsweise einfache Kostüme besaßen, hat uns der Fernsehfunk mit schöneren Kostümen ausgestattet, wenn auch nur für diesen Tag. Unseren größten Auftritt hatten wir 1960 bei der Schacholympiade in Leipzig, zu der man uns eingeladen hatte. Wir sind dort zweimal mit dem Lebendschach aufgetreten. Speziell dazu wurden für uns neue Kostüme im Barockstil hergestellt. Die schmucken Kostüme für die Dame sind im Museum noch zu bestaunen. Mit jenen Kostümen haben wir die Bevölkerung bei verschiedenen Veranstaltungen zehn Jahre lang erfreut, bis dann wieder eine andere Einrichtung kam, wie zum Beispiel das Volkstheater Halberstadt, das für uns schwarz-weiße Kostüme angefertigt hat. Es war ein bewegender Moment, als das Ströbecker Lebendschach von der Vereinigung der Gegenseitigen Bauernhilfe (VDGB), also einer staatlichen Einrichtung, als Volkskunstensemble ausgezeichnet wurde. Wir hatten damals schon Tänze ins Programm aufgenommen, die sehr beliebt waren.

SB: Die Kostüme waren also von anderen Institutionen oder Kulturhäusern gestiftet worden und entstammten nicht einer wie auch immer gearteten Ströbecker Tradition?

JC: So ist es. Anfangs trugen wir von einem Schneider angefertigte Kostüme, aber diese waren, geradeheraus gesprochen, recht primitiv. Die vom Fernsehfunk waren schon deutlich exklusiver, aber nichts im Vergleich zu denen vom Volkstheater Halberstadt. So haben wir über die Jahre immer wieder neue Kostüme erhalten. Die neueste Kollektion ist eine Kostümansammlung von alten Bauerntrachten. Renate Krosch, die Frau vom Bürgermeister Rudi Krosch, der jetzt nicht mehr im Amt ist, hat sich sehr bemüht, die alten Bauerntrachten zu erforschen. Nach diesen Recherchen wurden dann die Kostüme angefertigt. So ist zum Beispiel der Läufer auf dem Brett eine Botenfrau, was nicht allen gefällt, denn diese Botenfrau kann man als Läufer im herkömmlichen Sinne nicht erkennen. Aber es gab hier tatsächlich Botenfrauen, die Fernschachzüge von Ströbeck nach Halberstadt transportiert haben.

SB: Wann war das?

JC: Ungefähr im 17. und 18. Jahrhundert.

SB: Diese Frauen gingen demnach nach Halberstadt, um Besorgungen zu machen, und nahmen dabei die Korrespondenzzüge mit?

JC: Nein, sie hatten ihren Korb und machten alle Botengänge, die zu erledigen waren, von der Gemeinde zum Kreis.

SB: Haben die anderen Figuren auch einen so extravaganten Hintergrund?

JC: Der Großbauer mit seinem Hut ist der König auf dem Brett und daneben steht die Großbäuerin als Dame; der Springer ist eine Art Reiter und der Turm ein robuster Schäfersmann. Aber wer nicht aufmerksam auf diese Sachen achtet, wird sie nicht so richtig unterscheiden können. Dennoch spiegeln die neuen Kostüme unsere Dorftradition wider.

Lebendschach in Aktion - Foto: © 2013 by Schattenblick

Ein Dorf spielt Schach
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Demnach hat die DDR das Lebendschach insbesondere deswegen gefördert, um es als sozialistisches Markenzeichen einsetzen zu können?

JC: Richtig, aber wir waren auch bei normalen Wettkämpfen dabei. Einmal haben wir sogar in der Landesklasse gespielt, als wir noch ein paar gute Spieler im Kader hatten.

SB: Aus Ströbecker Sicht ist Schach eine folkloristische Tradition, aber das hat nichts mit dem Leistungsschach in der modernen Wettkampfkultur zu tun. Hat es von DDR-Seite ganz konkrete Fördermaßnahmen gegeben, um diese jahrhundertealte Wohnstätte des Schachs für den Sozialismus zu erhalten?

JC: Wir haben zu DDR-Zeiten jede erdenkliche Unterstützung erfahren und durften sogar den Schachunterricht weiterführen. Es fehlte nur immer an geeigneten Personen. Lebendschach erfordert Leute, die das Ensemble zusammenhalten und auch bereit sind, wegzufahren, wenn sie eingeladen werden. Wir bekamen so viele Einladungen, daß wir sie gar nicht alle wahrnehmen konnten. Zweimal sind wir in Leipzig bei der Schacholympiade aufgetreten. Wir waren auch in Berlin und Chemnitz, das damals noch Karl-Marx-Stadt hieß, zum Pioniertreffen. Für die Kinder war es immer ein Erfolg. Ich erhielt einmal eine Einladung zum Rathausfest in Wernigerode. Dort habe ich zum ersten Mal die Schüler selbst sprechen lassen. Sie sind dann auf dem Brett ein paar Schritte gegangen und haben die Figur und ihre Gangart vorgestellt. Nach dem Auftritt in Wernigerode kam ein ungarischer Kollege zu mir und sagte, das haben Sie aber fein hingekriegt. In der DDR sind wir immer unterstützt worden, so gut es eben ging. Auch der Schachunterricht wurde genehmigt, aber nicht alle Stunden. Zunächst hatten wir vier Stunden Unterricht, aber aufgrund der Parallelklassen mußten wir von der 5. bis zur 8. Klasse alles doppelt machen. Das wurde auf insgesamt sechs Stunden reduziert. Wir haben nachmittags von 5 bis 7 Uhr unterrichtet, aber das war zu spät. Als ich gemerkt habe, daß die Schüler in den anderen Dörfern oder Städten im Lernpensum weiter waren als wir, habe ich den Schachunterricht heruntergesetzt, erst auf drei, dann auf zwei, und jetzt in der kleinen Schule für die Klassen 1 bis 4 fangen wir mit dem Schachunterricht erst in der zweiten Klasse mit jeweils einer Stunde die Woche an.

Gruppenaufnahme aus DDR-Zeiten - Foto: 2013 by Schattenblick

Schachensemble von 1985
Foto: 2013 by Schattenblick

SB: Hat es auch anderswo in der DDR Schachunterricht an den Schulen gegeben?

JC: Nein, woanders nicht. Das Schach ist in Ströbeck nachweislich seit 1823 Pflichtfach. Seit damals werden auch die Schachbretter und Schachfiguren als Preise an die Schüler vergeben. Das ist als Anreiz gedacht. In jedem Jahrgang wird um die Bretter und Figuren gespielt. Das haben wir auch immer so beibehalten. Die Bretter von 1823 sind zum Teil noch erhalten, und einige aus den Folgejahren sind sogar im Schachmuseum ausgestellt, samt einer Ehrenliste mit all den Gewinnern dieser Bretter. Die Schachtradition in Ströbeck ist dadurch immer wieder belebt worden, daß man Altes aufgefrischt hat. Man ist also durchaus mit der Zeit gegangen. Ich habe mich manchmal ein bißchen unbeliebt gemacht, weil ich mit meinen Ideen und Projekten zuviel aufgewirbelt habe, was manchen gar nicht so recht war, weil plötzlich Ausländer hierherkamen und dies und jenes wissen wollten. Aber wir sind dadurch zum Beispiel in diese Gruppe der Kulturdörfer gekommen. Die Holländer hatten das 1999 angeregt, und dann sind wir gleich dazugekommen.

SB: Was hat sich nach der Eingliederung der DDR in die BRD für den Schachunterricht einschneidend verändert?

JC: Daß die Sekundarstufe 2004 wegfiel, war ein sehr trauriges Ereignis. Unsere Schüler müssen seitdem nach Halberstadt gehen, wo sie die 5. bis 10. Klasse absolvieren. Früher hatten wir die Schüler bis zur 10. Klasse hier, und aus den höheren Klassen nahmen wir die Offiziere für das Lebendschach. Die Bauern holen wir jetzt noch aus den Klassen 1 bis 4, aber die großen Schüler fehlen. 2004 drohte das Lebendschachensemble zusammenzubrechen. Daraufhin haben sich die Eltern zusammengefunden und gesagt, früher waren es Erwachsene, die in die Offizierskostüme sprangen, das machen wir wieder so. Da haben sich viele ältere Leute bereitgefunden, ein Kostüm als Schachoffizier zu tragen.

Schild der früheren Sekundarschule Dr. E. Lasker - Foto: © 2013 by Schattenblick

Jetzt nur noch ein Schild im Museum
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Werden beim Lebendschach lediglich berühmte Partien nachgespielt oder tragen Meister des Fachs eine freie Partie aus, die parallel dazu mit lebenden Figuren nachgestellt wird?

JC: Soweit ich mich erinnern kann, hat man in Ströbeck früher immer nur Partien nachgespielt, die berühmt waren. Wir waren einmal in Marostica in Norditalien, wo es eine junge Lebendschachtradition gibt. Dort wurde allerdings mit unheimlichem Pompöse eine Partie zwischen dem Amerikaner Paul Morphy, der im 19. Jahrhundert ein berühmter Meister gewesen ist, und zwei Grafen nachgespielt. Morphy gewann die Partie in nur 17 Zügen und spielte dabei ohne Ansicht des Brettes, nur aus dem Gedächtnis heraus. Ich habe die Morphy-Partie den Ensemblemitgliedern einmal im Saal gezeigt, und seitdem haben wir sie im Programm. Da wird nur nachgespielt. Die Züge werden zugerufen, wie das auch in Marostica geschieht, aber interessanter ist natürlich eine Partie, die frei gespielt wird. Bei jedem Schachturnier im Mai tritt der beste Spieler der Siegermannschaft - diesmal haben die Polen den Pokal mitgenommen - gegen einen Spieler aus den anderen Mannschaften beim Lebendschach an. Wer gerade dran ist, ruft seinen Zug aus, zum Beispiel e2-e4, und dann geht der weiße Königsbauer zwei Felder vor. Wenn der andere dann Sg8-f6 zieht, weiß der schwarze Königsspringer, daß er sich vom Feld g8 nach f6 begeben muß.

SB: Gibt es vielleicht eine kleine Anekdote zum Lebendschach, die Sie gern erzählen möchten?

JC: Ja. Es ist immer angeraten, die Züge schnell zu spielen, damit es zu einer Aktion kommt. Wir hatten einmal in Berlin eine Aufführung, wo einer der Spieler so ehrgeizig war, daß er überlegte, überlegte und nochmals überlegte, und uns fielen nacheinander die Figuren in der brütenden Sonne um. Aber ansonsten ist es eine schöne Sache. Ich habe immer wieder betont, daß in Ströbeck durch das Schachspiel eine Schachkultur entstanden ist. Es ist nicht bloß ein Spiel, sondern besitzt einen kulturellen Wert, der für die Ströbecker viel gebracht hat. Der Bürgermeister brauchte bloß Konzepte zu erarbeiten und Anträge zu stellen. So konnte er in seiner Amtszeit alle Straßen erneuern lassen. Das ist auch ein Ergebnis der Schachkultur.

Josef Cacek und SB-Redakteur im Gespräch - Foto: © 2013 by Schattenblick

Schwelgen in Erinnerungen
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Es hat offenbar schon zu DDR-Zeiten einen gewissen Tourismus in Ströbeck gegeben. Zumindest sind etliche russische Großmeister hierher gekommen.

JC: Ja, viele Großmeister aus Rußland waren hier und haben simultan gespielt. Die Ergebnisse sind im Museum zu begutachten. Sie arbeiteten für den Sportverlag der DDR, und da kriegten wir sie für eine geringe Summe. Mit 300 DDR-Mark waren sie schon glücklich. Heute bekommen wir keinen Großmeister unter tausend Euro hierher. Da muß man schon einen Sponsor haben.

SB: Als Sie hierherkamen, gab es eine Art Privatzimmer, in dem einige Schachexponate aus Ströbeck ausgestellt wurden. Das Häuschen neben dem Schachturm wurde erst sehr viel später hergerichtet.

JC: Mit dem Turm hat alles angefangen. 1011 soll ein Graf vom Halberstädter Bischof darin gefangengesetzt worden sein. Der Turm war eigentlich ein Gefängnis gewesen. Unten war kein Tor wie heute, sondern die Gefangenen wurden von oben in eine Art Verlies heruntergelassen. Der Adlige war des Schachs kundig und hat den Bauern, die ihn bewachen mußten, das Spiel beigebracht. Als er dann wieder frei kam, hat er den Ströbeckern gesagt, wenn ihr das Spiel pflegt, werden euch bestimmte Abgaben erlassen. Das haben die Ströbecker dann auch gerne gemacht, aber sie mußten immer wieder dafür sorgen, daß das Spiel von Generation zu Generation weitergegeben wurde.

SB: Steht diese Abgabenerleichterung, die das jeweilige Herrscherhaus dem Dorf zubilligte, möglicherweise im Zusammenhang mit der Sitte, jedem Regenten bei Regierungsantritt ein silbernes Schachspiel zu überreichen?

JC: Ja, die Ströbecker haben dem neuen Herrscher jedesmal ein Huldigungsgeschenk überreicht.

SB: Um gewisse Privilegien aufrechtzuerhalten?

JC: Gut, diese Privilegien waren ihnen zugesagt worden. Dadurch hatten sie mehr Einkommen als die anderen Dörfer der Region. Allerdings mußten sie zur Herstellung des Schachspiels Geld aufbringen. Im Dreikaiserjahr war das besonders schlimm, denn es kamen drei Kaiser in einem Jahr hintereinander auf den Thron. Das wurde natürlich teuer. Als der Kurfürst von Brandenburg mit seinem Gefolge in Halberstadt eingeritten kam, haben ihm die Ströbecker ebenfalls ein Spiel überreicht. Er hat sich darüber sehr gefreut und den Ströbeckern das berühmte Kurfürstenbrett zukommen lassen.

SB: Damit hat er eigentlich ein wertvolleres Geschenk zurückgeschickt.

JC: Er konnte es sich leisten.

SB: Die Legende vom Grafen im Wehrturm klingt ein wenig phantastisch. Jemand, der in einem dunklen Verlies zwischen Unrat und Ratten sitzt, sollte andere Sorgen haben, als sich die Zeit mit Schach zu vertreiben.

JC: Wir haben jetzt einen Tisch von einem Steinmetz in Halberstadt machen lassen und in den Turm gestellt, um zu zeigen, daß da so etwas Ähnliches gestanden hat. An dem Schachtisch haben die Bauern mit dem Grafen angeblich gespielt. Aber möglicherweise hat man ihn besser behandelt. Es gab nämlich zwei obere Etagen in dem Turm, und vielleicht hat man ihn seinem Adelsstand gemäß nicht unten im Verlies, sondern in den oberen Räumen untergebracht. Auf alle Fälle hat er wohl in seiner Gefangenschaft selbst die Figuren aus Holz geschnitzt; manche sprechen von Brot, das er zu Figuren geknetet hat. Wie dem auch sei, die Ströbecker Bauern haben so das Schachspiel erlernt und pflegen es bis heute.

Russische Babuschka-Puppen als Schachfiguren - Foto: © 2013 by Schattenblick

Alles Gute kommt von Osten - Russischer Figurensatz aus dem Museum
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Früher war Ströbeck in schachinteressierten Adelskreisen ein Begriff. Es heißt auch, daß Aristokraten hierhergekommen sind, um sich einen Eindruck vom spielerischen Können der Ströbecker zu machen. Auch der alte Brauch, einem Gast eine Partie Schach mit dem Dorfschulzen anzubieten, hat ja durchaus etwas Privilegiertes, denn andere Dörfer hätten ihre Gäste schon aus Unkenntnis des Spiels gar nicht auf diese Weise willkommen heißen können.

JC: Richtig, hier sollen verschiedene Fürsten durchgeritten oder -gefahren sein. Der alte Fritz hat ebenfalls in Ströbeck Halt gemacht und den Dorfschulzen herausgefordert. Der Dorfschulze war immer der Bürgermeister. Jedenfalls ist der Schulze nach ein paar Zügen Matt. In der zweiten Partie ergeht es ihm nicht anders. Darüber hat sich der Preußenkönig ziemlich aufgeregt. Ich denke, er kann spielen, aber er ist nur ein Dummkopf. Darauf hat der Schulze, natürlich auf Platt, erwidert: Nein, mein Herr, das muß so sein. Die erste Partie habe ich verloren, weil Sie mein Gast sind; die zweite Partie habe ich verloren, weil Sie mein Landesherr sind; aber nun können wir richtig spielen. Die dritte Partie hat der alte Fritz dann ziemlich schnell verloren und ist danach wutschnaubend nach Goslar weitergeritten.

SB: Die Preußenkönige haben sich Ströbeck gegenüber sehr erkenntlich gezeigt. Wilhelm I., der spätere Kaiser von Deutschland, soll einen Dankesbrief an die Ströbecker verfaßt haben, in dem er sich für das Huldigungsgeschenk anläßlich seiner Krönungsfeierlichkeiten 1861 bedankte.

JC: Ja, das Dankesschreiben wurde den Ströbeckern in Berlin ausgehändigt. Der Brief mit Wappen und Unterschrift kann im Museum eingesehen werden. Ich wußte lange nicht, warum man sagt, setze deinen Wilhelm drunter. Das kommt von diesem Preußenkönig.

SB: In der Zeit, als das Museum hier aufgebaut wurde, haben Schachfreunde aus Deutschland und dem Ausland ihren Teil dazu beigetragen und Exponate nach Ströbeck geschickt. Könnten Sie uns etwas dazu erzählen?

JC: Ja, ein Freund aus der Schweiz hat dabei besonders mitgewirkt. Er ist inzwischen leider verstorben. Er hat eine Menge über Ströbeck gesammelt und uns zukommen lassen. Das waren meistens Schriftstücke und Bildmaterial. Aber ich habe auch im Dorf dazu aufgerufen, wer etwas auf dem Boden findet, möchte es uns doch bringen. Einige Leute haben mich angesprochen und gefragt: Was willst du denn alles ins Museum stellen? Nachher wurde das Häuschen am Turm zu klein, soviel Material hat sich über die Jahre angesammelt.

SB: Der Turm selbst diente nicht als Museum?

JC: Nein, das wäre nicht möglich gewesen. Wir hatten drinnen früher eine Leiter stehen, die zu den beiden Etagen führte. Lange Zeit diente er auch als Trocknungsturm für die Schläuche der Feuerwehr. Einmal war eine Reporterin aus Berlin hier, die da unbedingt hochsteigen wollte. Als sie auf diese Leiter stieg, habe ich mehr gezittert als sie.

SB: Wie ist man überhaupt auf die Idee gekommen, ein Schachmuseum herzurichten?

JC: Die Ströbecker hatten bereits 1924 den Wunsch, ein Schachmuseum aufzubauen, aber daraus wurde nichts. Ich selbst habe mehrere Ausstellungen organisiert, aber danach mußte alles wieder weggeräumt werden. Das machte auf die Dauer keinen Spaß. Wir hatten hier zudem oft Schachveranstaltungen. Dreiviertel-Finale nannte es sich; da kamen die Schachspieler aus der ganzen DDR und ermittelten die Teilnehmer fürs Finale. Als Austragungsort für das Finale fehlten in Ströbeck die Räumlichkeiten. Im Dreiviertel-Finale kamen aus jeder Gruppe die drei Besten in die Endrunde. Durch diese Veranstaltungen haben wir Ansehen erworben. Ströbeck wurde bekannt und bekannter, und dann kamen auch aus dem Ausland immer mehr Leute. Aus Holland waren schon zu DDR- Zeiten Besucher hier. Da bot sich ein Museum zur Präsentation unserer Schachtradition natürlich an.

SB: Der Wunsch, ein Schachmuseum aufzubauen, ist zwar älter, wurde aber in den 80er Jahren erst in die Tat umgesetzt. An den Privatinitiativen hier aus dem Dorf waren Sie offenbar maßgeblich beteiligt.

JC: Ich hatte vom Bürgermeister den Auftrag bekommen, mich um die Errichtung eines Museums zu kümmern, weil ich von den früheren Ausstellungen her genügend Material hatte. Damals hatten wir aber schon mit Schachfreunden das alte Häuschen neben dem Turm weggerissen, weil es völlig baufällig war. Fast ausschließlich in freiwilliger Arbeit haben wir an die Stelle ein kleines Fachwerkhaus gesetzt und uns dabei nicht von den Schwierigkeiten entmutigen lassen, weil Zement und Kalk und alles, was man dazu braucht, zu DDR-Zeiten schwer zu beschaffen war. Sechs Jahre haben wir an dem Häuschen gebaut, und gerade als die Wende kam, war es fertig. Weil ich 1991 mit der Schule aufgehört habe, wurde ich vom Bürgermeister zum Museumsdirektor bestellt. Ich habe mich mit einigen Schachfreunden ernstlich bemüht, erst einmal alles so gut wie möglich hinzukriegen, aber es war kaum Geld für eine Vitrine vorhanden. Aus Kaufläden habe ich mir kleine Vitrinen geholt und darin einiges von dem gesammelten Material untergebracht.

Straßenbild mit Fachwerkhaus und altem Turm - Foto: © 2013 by Schattenblick

Das Haus am Turm - das alte Schachmuseum
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Und wann war der Umzug in das neue Museum?

JC: Das war 2006, weil Ströbeck in jenem Jahr als Gastgeber für die elf Europadörfer auftrat. Da sollte auch das neue Museum zu besichtigen sein. Vieles von dem, was im alten Museum stand, konnten wir natürlich nicht mitnehmen. Nur die schönsten Stücke wurden ausgewählt, aber es kam ja noch so vieles hinzu.

SB: Nach der Wende ist hier wohl vieles wirtschaftlich zusammengebrochen. Die Landwirtschaft hat sich verändert. Das beackerbare Land ist in Privatbesitz übergegangen.

JC: Ja, es gibt nur noch drei Großbauern im Dorf, die das Ackerland von den anderen ehemaligen Bauern aufgekauft oder auf Pacht bewirtschaftet haben. Schlimmer war jedoch der Wegfall der Industriebetriebe in den Nachbarorten. In Halberstadt brach vieles ein. Nach Ilsenburg und Wernigerode fuhren die Leute jeden Tag zur Arbeit hin. All das fiel weg. Viele wurden plötzlich arbeitslos. Das hat schon wehgetan.

SB: Wie hat sich denn die Schachtradition in dieser Zeit über Wasser halten können?

JC: Das Schach hat nicht so sehr darunter gelitten.

SB: Der Westen hat sich, als die Grenzen offen waren, sicherlich auch für das Schachdorf Ströbeck interessiert. Gab es einen starken Zustrom von Besuchern?

JC: Nach der Fertigstellung des Museums 1991 kamen natürlich viele aus Wolfenbüttel, Braunschweig und Goslar mit Bussen an, um es sich anzuschauen. Ich habe meinen Vortrag gehalten und auch die alten Filme aus den 40er Jahren gezeigt. Von der ersten Wochenschau in Farbe haben wir einen Ausschnitt, der Ströbeck behandelt. Da haben die Leute zu mir gesagt, wissen Sie, wir haben gar nicht gewußt, daß es so etwas hier gibt. Kurz hinter der Grenze, und man wußte nichts davon. Wir bekamen sogar Kontakt zur Wichern-Schule in Hamburg und bestritten mit denen auch Wettkämpfe.

SB: Kann man sagen, daß das Schach durch den Tourismus mittlerweile zum finanziellen Träger des Dorfes geworden ist?

JC: Na ja, wir mit unserem kleinen Schach können da nicht groß etwas aufbringen. Durch das Schach ist zwar etwas Geld hereingeflossen, aber damit bewegt man noch nichts. Jetzt stellt Ströbeck einen Antrag auf Mitgliedschaft im Weltkulturerbe der UNESCO. Wenn das gelingen würde, hätten wir natürlich weitere Möglichkeiten. Sie werden es nicht glauben, aber Ströbeck hat nicht unwesentlich von Lotto-Einnahmen profitiert. Die Lotto-Firmen haben nämlich öfter Zuschüsse gesponsert.

SB: Zu DDR-Zeiten?

JC: Ja, und jetzt machen sie es auch. Man muß sich eben bemühen. Durch das Kulturdorfprojekt kamen Gelder direkt aus Brüssel. Man muß Anträge stellen und Veranstaltungen machen. Das fördert den internationalen Verkehr, und Freundschaften mit anderen Ländern werden geschlossen.

Josef Cacek in der Nahaufnahme - Foto: © 2013 by Schattenblick

Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Die Initiative zum Kulturdorfprojekt ging von Wijk aan Zee in den Niederlanden aus. Es ist selbst ein Schachdorf und hat eine jahrzehntelange Tradition der Hochofenturniere. Haben die anderen Kulturdörfer auch etwas mit Schach zu tun?

JC: Wijk aan Zee sollte ja plattgemacht werden, weil es irgendwelchen großen Projekten im Wege stand. Aber der dortige Schachverein, der auch mit der Organisation des internationalen Turniers betraut ist, hat sich geweigert, klein beizugeben. Daraufhin haben auch die Einwohner von Wijk aan Zee die Trommel gerührt und alle Künstler, die sie erreichen konnten, aufgefordert, um den Erhalt ihres Dorfes zu kämpfen. Außerdem haben sie versucht, mit Hilfe anderer Kulturdörfer die regionale Identität der Dörfer politisch hervorzuheben. Und tatsächlich hat es geklappt. Bis auf Wijk aan Zee und Ströbeck haben die Kulturdörfer mit Schach nichts zu tun. Sie verweisen, jedes für sich, auf die eigene kulturelle Besonderheit.

SB: Sie leben seit mehreren Jahrzehnten hier in Ströbeck. Hat sich in Ihrer Rückerinnerung nach der Wendezeit etwas in der Schach- und Traditionspflege im Vergleich zur DDR-Zeit, ob nun zum Guten oder Schlechten, verändert?

JC: Es ist früher auch gut gewesen. Ich kann nichts anderes sagen. Auch nach der Wende hatten wir keinen Abbruch. Ich würde nicht sagen, daß es nun bedeutend besser ist, aber tatsächlich ist eine kontinuierliche Linie in dieser Traditionspflege immer erhalten geblieben.

SB: Für Ihre hohen Verdienste um das Ströbecker Schach hat man sie 1995 zum Ehrenbürger ernannt.

JC: Na ja, ich habe mitgeholfen.

SB: Fördert eine folkloristische Kultur wie das Lebendschach eine bestimmte Art des Umgangs oder auch des Zusammenhalts im Dorfleben?

JC: In dem Musical Ströpker Zeitsprünge, das hier anläßlich der Kulturdorffeierlichkeiten einstudiert und gespielt wurde, versuchen Hexen, das Schachspiel auszurotten. Die Hexen klauen dazu alle Schachfiguren. Und warum tun sie das? Weil der Teufel festgestellt hat, daß aus diesem Dorf schon ewig keine Sünder bekanntgeworden sind. Wer sich mit dem Schachspiel beschäftigt, hat keine Zeit für andere Sachen und kommt nicht auf dumme Gedanken.

SB: Allgemein wird behauptet, Schach fördere die Konzentration und Denkfähigkeit. Können Sie das vor dem Hintergrund Ihrer jahrzehntelangen Arbeit als Schachlehrer bestätigen?

JC: Man kann schlecht nachweisen, ob das Schach wirklich einen solchen Einfluß auf den Menschen hat. Ich habe 40 Jahre lang Schach unterrichtet, und möglicherweise hatte ich hier damit weniger Schwierigkeiten, als ich es anderswo gehabt hätte, weil die Menschen hier mit dem Schachspiel groß werden. Ein ehemaliger Schüler von mir, der in Halberstadt auf die höhere Schule gegangen ist, sagte mir einmal, Herr Cacek, Sie könnten in Halberstadt nicht unterrichten, weil die Schüler dort dem Schach gegenüber verschlossen sind. Ob das Schach Mathematik oder andere Denkfächer fördert, kann ich nicht sagen, aber ich hatte einmal einen Schüler, der war ein richtiger Flegel und zu nichts zu gebrauchen, weil er alles nicht so genaunahm. In der 10. Klasse hat er sich jedoch in Mathematik von 4 auf 1 verbessert. Mag sein, daß allein das Denken und Besinnen, das Vorsichtigsein mit allen Sachen, dazu führt, daß man nicht überstürzt an die Dinge herangeht. In diesem Sinne ist das Schachspiel vielleicht eine Erziehung zum Nachdenken.

SB: Herr Cacek, vielen Dank für das Gespräch.

Bild der Ehrenurkunde aus dem Schachmuseum - Foto: © 2013 by Schattenblick

Ehrenbezeigung Ströbecks an Herr Cacek
Foto: © 2013 by Schattenblick

25. Juli 2013