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ES GESCHAH.../005: Der Anekdotenkammer fünfte Tür (SB)


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New York hatte der Welt im Jahre 1889 die Arme weit zum 6. Amerikanischen Schachkongreß geöffnet, und zwanzig Schachmeister aus vielen Ländern waren nur allzu gerne herbeigeeilt, um an diesem doppelrundig gespielten Turnier teilzunehmen. Michail Iwanowitsch Tschigorin und Max Weiss belegten mit je 29 Punkten den ersten und zweiten Platz und konnten die Siegesprämien mit nach Hause nehmen, während Isidor Gunsberg mit 28,5 Punkten als Dritter durchaus noch ein erkleckliches Sümmchen abbekam. Unter den enthusiastischen Jüngern Caissas befand sich auch der englische Meister James Henry Blackburne, der mit 27 Punkten den beachtlichen vierten Platz errang.

Blackburne war ein Musterbeispiel an feinen Manieren. Die Damenwelt liebte seine Gesellschaft, weil er galant Avancen zu machen verstand, ohne ins Frivole abzugleiten, während ihn die Herren wegen seines fairen Verhaltens im Turnier schätzten. Nun trug es sich zu, daß ihn Samuel Lipschütz in eine prekäre Situation hineinbugsierte.

Blackburne jedoch blieb Herr seiner Sinne und trieb seinem Kontrahenten durch eine kühle Entgegnung die Blässe ins Gesicht. Oh Verzeihung, ich sollte jene Anekdote, die hinter der fünften Kammertür wartet, vom ersten Buchstaben an erzählen, daß von ihrem Charme nicht das kleinste Korn verlorengehe. Also schnell zwei Schritte zurück an den Anfang.

Samuel Lipschütz war eine Gestalt in der Schachgeschichte, um die sich viele Gerüchte und Geschichten rankten. Sein Name wurde gerne genommen, wenn es galt, einen verschmitzten Spieler, der viel versprach und weniger hielt, in einer Humoreske zuguterletzt ins Bockshorn zu jagen. Lipschütz hatte trotz seines Rufes, der ihm nachfolgte wie ein schwarzer Schwarm Fliegen, nicht so schlecht gespielt, wie von ihm übelbeleumdet behauptet wurde. Nur, daß er eben in guten Stellungen oft Schiffbruch erlitt. Die folgende Anekdote ist nicht etwa fabuliert, sondern hat sich in der Tat so zugetragen, wie sie hier niedergeschrieben steht.

Blackburne saß tief nach vorn gebeugt über dem Schachbrett und grübelte sich die Stirn wund über einen Ausweg aus der Sackgasse, in die er sich und sein Spiel manövriert hatte. Die Partie gegen Lipschütz konnte über Haben oder Nichthaben eines der begehrten Preisgelder entscheiden. Er durfte nicht zaudern, mußte kühn und überlegt die versteckteste aller versteckten Möglichkeiten, die in jeder Stellung naturgemäß schlummert, entdecken und erwecken.

Lipschütz dagegen war ganz Siegeswolke, so leicht fühlte er sich in seinem Stolz, daß er den Himmel mit seinen Armen zu umfangen meinte. Man sah ihm an, daß er zufrieden mit sich in der freudigsten Gewißheit schwelgte. Mokant strich er sich über die Lippen, sein Auge ruhte fest auf dem Brett, da war kein Wanken in seinem Blick. Er konnte geduldig warten, seine Bauern auf dem Damenflügel würden auf jeden Fall das Rennen machen. Gemach! Gemach! Der Sieg will ausgekostet sein!

Blackburne war unterdessen so tief und abgründig in die Stellung versunken, daß er kein Auge für das belustigte Gebärdenspiel seines Kontrahenten hatte. Plötzlich schien es, als würde er aus einem jahrtausendealten Schlaf erwachen. In unendlicher Gelassenheit griff er also nach seinem Turm und stellte ihn sachte auf die siebente Reihe.

Ein Lächeln huschte über Lipschütz' Lippen. 'Das macht er aus Verzweiflung', freute er sich diebisch, 'nur rasch die Freibauern nach vorne treiben, der Sieg ist nah, wenn ich am Damenflügel stürme'. Blackburne am Zug rückte seinen g-Bauern schnell von der fünften auf die sechste Reihe. Etwas irrtiert zögerte Lipschütz einen Augenblick, doch dann war er wieder ein Faß voller Freude. 'Ach was, du falscher Zahn! schimpfte er seinen Kleinmut, 'der Himmel strahlt in hellstem Blau, ich sehe keine Wolke grau', und machte seinen nächsten Bauernzug.

Blackburne zog augenblicks und lehnte sich danach gemütlich in seinen Stuhl zurück. Wie versteinert starrte Lipschütz auf das Brett. Blackburnes Turm auf der siebenten Reihe hatte sich fulminant geopfert und in seinem Opfergang den schwarzen König nackt und der schützenden Burg beraubt ins prasselnde Feuer der weißen Figuren gestoßen. Es folgten drei Gewaltzüge, dann sah sich Lipschütz besiegt. Das Blatt war gewendet, und von Herzen froh erhob sich Blackburne, reichte Lipschütz noch die Hand und wollte sich gerade zum Gehen wenden, als er mitbekam, wie Lipschütz im besten Jiddisch zu einem Freund sagte: "Der alte Ganeff hat mir geschwindelt!"

Blackburne hielt im Schritt inne, und das Lächeln verblaßte auf seinem Gesicht. Jeder wußte, daß Blackburne im selben Maße höflich sein konnte wie fuchsteufelswild, wenn die Regeln des Anstandes verletzt wurden. Der Schiedsrichter, der die ganze Situation beobachtet hatte, befürchtete einen Eklat und eilte mit fast stolpernden Schritten hinzu. Doch Blackburne entpuppte sich einmal mehr als ein Mann von Welt und wandte sich laut fragend an den Schiedsrichter: "Sagt, mein Herr, ich weiß nicht, was ein Ganeff ist, aber kann man als Ganeff auch ein Gentleman sein?"

Der Schiedsrichter nickte eifrig. "Nun", fuhr Blackburne fort, "so will mir scheinen, da habe jemand unbeholfen versucht, ein Kompliment zu machen!" Blackburne nickte dem erbleichten Lipschütz zu und ging seines Weges.

Was aber hatte Lipschütz gemeint, als er sagte: "Der alte Ganeff hat mir geschwindelt!" Die Neugierde soll nicht unnötig auf die Folter gespannt werden, also freiheraus mit der Sprache: Ganeff ist ein Wort, das aus dem Rotwelsch stammt, jener Mundart, die bereits im 13. Jahrhundert unter Vagabunden, fahrenden Händlern und Hausierern gesprochen wurde. Das Rotwelsch erhielt einen starken Einschlag ins Jiddische, obgleich auch Einfärbungen aus der Sprache der Sinti und Roma vorhanden sind.

Nun, das Wort Ganeff bedeutet soviel wie "Ganove". Aber Lipschütz meinte es nicht abschätzig, das hatte der Menschenkenner Blackburne auch sofort erkannt, und darum entschärfte er die heikle Situation mit einem rhetorischen Konter. Lipschütz wollte mit der rotwelschen Zunge zu erkennen geben, daß er von einem äußerst trickreichen und verschlagenen Charakter übers Ohr gehauen und damit um den Sieg geprellt worden war.


Erstveröffentlichung am 24. April 1995

28. Februar 2007


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